Von den beiden Kulturwissenschaftern Nina Wiedemeyer und Felix Sattler auf das Thema aufmerksam gemacht, begeisterte sich Stiftungsratspräsidentin Monica Vögele für das kreative Potenzial im Begriffspaar Verzicht und Verschwendung. Für die Ausstellung im Vögele-Kulturzentrum in Pfäffikon (SZ) sollte indes nicht das Moralische im Vordergrund stehen, sondern das Positive. Betrachtungen über die Wegwerfgesellschaft, über die gedankenlose Verschwendung von Ressourcen der modernen Spassgesellschaft schwingen dabei im Hintergrund vielfach mit.
Dass die Lust am Verzichten und die Sehnsucht nach der Einfachheit bereits die Romantiker des 19. Jahrhunderts umtrieb, wird mit einer Installation der Ausstellungsmacher zu einem Text des Amerikaners Henry David Thoreau illustriert, den dieser 1854 verfasst hatte. Thoreau hatte sich in die nordamerikanischen Wälder zurückgezogen und propagierte eine Art ekstatische Erfüllung im Erlebnis der Natur. In einem in der Ausstellung aufgebauten Zeltlager werden auf den ersten Blick einfache, aber höchsten technologischen Ansprüchen genügende Gegenstände für das Leben im Wald präsentiert. Da gibt es neben dem ultraleichten Bergsteigerzelt einen Kocher, der gleichzeitig mit einem Konverter zur Stromerzeugung – etwa zur Versorgung des Smartphones – ausgerüstet ist. Auch in der Wildnis will der Mensch vernetzt bleiben.
Wegweisende und skurrile Ideen, das Verhältnis des Menschen zur Natur und zur Gesellschaft sowie individuelle Lebensentwürfe sind Themen der Ausstellung. Die von Jean-Lucien Gay vom Zürcher Designstudio Nau entworfene Ausstellungsarchitektur setzt auf starke Farben und rahmende Bauten. Ein aus gebrauchten Messeteppichen über den ganzen Hallenboden ausgelegter Teppichmix in Rot-, Blau- und Violett-Akkorden wirkt fast zu dominant und hemmt die Entfaltung einiger Installationen. Durch die Farbverläufe werden zwar die teilweise sehr unterschiedlichen Ausstellungsobjekte zusammengefasst; vom beabsichtigten Eindruck der Ekstase bleibt indes mit diesem Konzept doch einiges auf der Strecke.
Manches wird in einer Art Laborsituation präsentiert; das Überbordende, Ausufernde ist nur ansatzweise zu spüren, etwa im Videoloop mit der wilden Gestik Diego Maradonas während eines Fussballspiels oder im Auftritt einer Punkband der «Strange Edge»-Bewegung, einer Exzesskultur aus den achtziger Jahren.
In einer wandfüllenden Installation breitet die 1969 geborene Thurgauer Künstlerin Yvonne Scarabello in unzähligen, kleinformatigen Fotografien ihr Hab und Gut als eine Art Warenkatalog aus. Dieses Inventar, eine Bestandesaufnahme des eigenen Lebens, umfasst inzwischen mehr als zweitausend Artikel und illustriert den Trend zur permanenten Selbstüberwachung. In einem über die Wand verlaufenden Muster hat die Künstlerin Gegenstände, von denen sie sich trennte, mit Transparentpapier abgedeckt. So gelangt sie zu einer den Alltag erleichternden Reduktion, einem Verzicht auf Überfluss und hin zu mehr Bescheidenheit.
Marion Pfaus und Felicia Zeller zeigen in einem Videoloop auf ironisch spielerische Art, wie wenig und gleichzeitig viel hundert Dinge aus einem gewöhnlichen Haushalt sind. Sie hängen und stülpen sich Küchenutensilien, Kleider, Schuhe und vieles mehr buchstäblich an und über den Körper und illustrieren so, wie schnell scheinbar unentbehrliche Gegenstände zur Last werden können.
In seiner Fotoarbeit «Lycopersicum III» thematisiert der 1980 geborene Berliner Künstler Uli Westphal unser gestörtes Verhältnis zur reichen Fülle der Natur, welche die Nahrungsmittelindustrie auf wenige genormte Sorten von Tomaten, Gurken, Bohnen und vielem mehr reduzierte. In seinem Versuchsgarten experimentiert er mit alten Gemüsesorten, Pilzen sowie Obstbäumen und hält deren Früchte danach fotografisch fest. Seine Fotocollagen illustrieren in malerischer Art das riesige Spektrum an Tomaten- und Gurkenformen sowie an Saatgut von Bohnen.
Einen Blick in die Zukunft wagt die 1979 geborene Künstlerin Pinar Yoldas, die sich in einer Installation mit Videowand, Reagenzgläsern und phantastischen Organismen mit den in den Ozeanen treibenden Plasticstrudeln befasst. Yoldas erfindet eine Art neues Ökosystem, das diese Abfallinseln nutzbar machen könnte. Ihre in blubbernden Glasröhrchen präsentierten, fröhlich farbigen Organismen sollen aus dem Plasticabfall neues Leben schaffen, das auf einer Art künstlicher Korallenriffe, sogenannter Polymer-Gärten, gedeihen würde. Aus dem in den Meeren treibenden Abfall könnte eine Spezies des Überflusses wachsen – eine witzige Lösung eines immer akuter werdenden Problems der Meeresverschmutzung. Die an Muscheln, Insekten und Krustentiere erinnernden, von der Künstlerin sorgfältig gestalteten Organismen werden als eine Art meeresbiologisches Labor inszeniert.
Am Tage, als ich die Ausstellung besuchte, packte meine Tochter den Rucksack mit dem Allernotwendigsten und zog los, um in zwei Monaten die Südküste Englands zu erwandern. Eine Auszeit aus der Gewohnheit, ein Versuch, sich von Dingen zu trennen, die den Alltag bestimmen. Askese oder Ekstase? Die beiden Begriffe sind eng miteinander verknüpft.
Die Ausstellung will das Freudvolle, das Kostbare aus Ekstase und Askese herausschälen. Sie verzichtet auf starre Zuweisungen von Gut und Böse. Sowohl in der Askese als auch in der Ekstase liege eine grosse kreative Kraft, betont Monica Vögele, Präsidentin des Stiftungsrates und Leiterin des Kulturzentrums. Zu einfach wäre es, mit der Askese oder dem Verzicht nur die sozialkritische Richtung zu beleuchten, die Wegwerfgesellschaft, das Verschwenden der Ressourcen, den unkontrollierten Spass zu beklagen. Verzichten kann nur, wer im Überfluss lebt. Ekstase erlebt auch der Asket, der sich mit dem Verzicht tief befriedigt, wenn er sich mitten im Überfluss auf das Reduzierte beschränkt.
Von Reduzieren und sich Bescheiden reden wir seit Jahren, erinnern die beiden Kuratoren Dr. Nina Wiedemeyer und Felix Sattler. Die Natur aber gebärdet sich verschwenderisch. Sie verausgabt sich in unendlicher Arten-, Formen- und Farbenvielfalt und in den Naturgewalten. Solche verschwenderischen Momente brauche auch die Kultur, nicht nur in Form von Luxus oder von monetärem Reichtum: Zu einem guten Leben gehören das Üppige, das nicht von vornherein Zweckorientierte, die kulturellen Freiräume, das selbstlose Handeln oder all die Dinge, die einfach brachliegen. Verzicht und Verschwendung müssen in der Gesellschaft so vereinbart werden, dass mit endlichen Gütern sorgsam gehaushaltet und zugleich verschwenderisch umgegangen wird mit Gedanken, Kräften und Gefühlen.
Auftakt zur Ausstellung bildet eine Wand mit 2000 Bildern von Gegenständen aus dem Haushalt von Yvonne Scarabello. Die Künstlerin stellt die Frage, wie sich ihr Dasein verändern würde, wenn sie den Haushalt auf die wichtigsten Gegenstände reduzierte.
Ausgelotet wird das MEHR VON WENIGER über einen bunten Teppich aus recyceltem Material, der den Besucher zwischen zwei Farbpolen über die drei Ebenen Natürlich und Überfluss, Enthaltsamkeit und Begehren und Verausgaben und Zurückhalten führt. Im letzten Bereich erzählen dreizehn Menschen von ihrem persönlichen Verzicht oder über ihr Verschwenden. Die Ausstellung wirkt nüchtern und zurückhaltend. Sie lebt durch die unterhaltsamen Geschichten, die in Kästen und auf Tischen, in Karbäuschen und Videofilmen erzählt werden, für die man sich Zeit nehmen sollte.
Auf den ersten Blick überwiegt die Askese, die als Lust an der Einfachheit in die Ekstase übergreift. Die Ekstase liegt mehr im schöpferischen und gestalterischen Bereich, im verschwenderischen Handeln, Fühlen und Denken, und weniger im Ausleben der Sinne (das Woodstock der 70er Jahre hatten wir in der Ausstellung „Der helle Wahnsinn“ erinnert Monica Vögele).
Vom einfachen Waldleben hat H. D. Thoreau schon 1854 geträumt, in den Wäldern von Concord (Massachusetts) am See Walden in einer Blockhütte gehaust und das Buch „Walden“ geschrieben. An den „Mann im Wald“ erinnert in der Ausstellung ein einfacher Zeltplatz, rund um einen Holzstoss, mit Zelt und Zubehör, allerdings superleicht und hightech, nach dem für die Raumfahrt entwickelten technischen Standard. Auch Thoreau hat das einfache Leben der Überlieferung nach nicht vollumfänglich durchgezogen: Die Wäsche besorgte ihm die in der Nähe wohnende Schwester. Sein Buch „Walden“ ist heute noch erhältlich und hängt als Ausstellungsobjekt in der Ausstellung zusammen mit unzähligen weiteren Ratgebern für ein einfacheres Leben.
Uli Westphal setzt mit Fotocollagen die Vielfalt von Bohnen, Gurken und Tomaten den rigiden Verordnungen der EU entgegen, die 1988 Krümmung und Länge der Gemüse festlegte. Uli nennt sich Noah und baut auf seiner Arche, einer Dachplantage, die ausgefallensten Früchte und Gemüse an, um die Sortenvielfalt zu erhalten.
Der Stomaximus ist ein Verdauungsorgan der Plastikvoren. Er ist aus den Plastikabfallinseln der Ozeane gewachsen, gehört zu einem nach-menschlichen Ökosystem und wird nach An Ecosystem of Excess in den Polymer-Gärten die Korallenriffe ersetzen.
Im Bereich Technik und Handwerk stilisiert sich die Fülle der Möglichkeiten zum Perpetuum mobile. Die Idee einer Maschine, die Vergnügen bereiten soll, wird aufgenommen von einer Berufsschulklasse aus Rapperswil. Angehende Konstrukteure und Polymechaniker haben sechs faszinierende Nonsens-Maschinen gebaut, eine davon aus Jasskarten.
Gleich neben dem Perpetuum mobile zeigt Vladimir Arkhipov zwölf einfache, handgemachte, nützliche Dinge aus Russland, wie einen Badewannenstöpsel, einen Skistock, einen Löffel mit Loch zur Herstellung von Seifenblasen.
Auch Van Bo Le-Mentzel erkennt den Spass und die Befriedigung, den ein selbstgemachtes Objekt schafft. Seinen vielseitig verwendbaren Berliner Hocker vermarktet er als Hartz-IV-Möbel mit Anleitung zum Selbermachen.
Thomas Thwaites wollte sich fernab der Zivilisation niederlassen, ohne auf seinen morgendlichen Toast zu verzichten. Er baute sich aus fünf elementarsten Bestandteilen einen Toaster, "ein Elektrogerät, das die ihm zugrunde liegende Infrastruktur leugnet, ein Gebrauchsgegestand, der die Annehmlichkeiten der Konsumgesellschaft verweigert" (Bild Lead).
Wer sich in Askese üben will, findet viele Beispiele wie fasten, sexuelle Enthaltsamkeit, vorehelich oder lebenslänglich im Kloster, und er kann in einer "Kapelle" schreiben, worauf er persönlich verzichten will.
Abwechslungsreich und humorvoll gestaltet, fordert die Ausstellung auf, ihren Bildern persönliche Erfahrungen entgegenzusetzen und die eigene Philosophie zu überdenken. Die Gefahr, persönlich betroffen zu werden, die ist gross. Zu einer neuen Sicht zu Askese und Ekstase verhilft auch das VögeleKulturBulletin 98/2015 „Alles ausser gewöhnlich“.
PFÄFFIKON
Wie viele Dinge habe ich – wie viele Dinge brauche ich? Yvonne Scarabellos Installation «Hab + Gut» im Eingangsbereich des Vögele Kultur Zentrums zieht die Besucherin und den Besucher gleich mitten ins Thema – weniger zu Ekstase oder Askese, sondern eher zu mehr von weniger. Mehr als 2000 Artikel ihres Besitzes hat die Künstlerin aus Frauenfeld fotografiert und inventarisiert. «Eine fotografische Bestandesaufnahme», sagt Felix Sattler, einer der beiden Kuratoren der Ausstellung.Da stelle sich natürlich die Frage,ob man dieses noch braucht und sich von jenem trennen könne. Mit immer weniger Dingen auszukommen, sei durchaus im Trend. Aber: «Durch Zählen erhalten Dinge Bedeutung», sagt Sattler. Das eine – weniger – steckt im andern – mehr.
«Verschwenden – Verzichten» sollte die Ausstellung heissen, als vor rund zwei Jahren die beiden Kuratoren Nina Wiedemeyer und Felix Sattler an Monica Vögele herangetreten waren. «Verschwenden, verzichten, das tönt moralisierend », sagt die Stiftungsratspräsidentin und Leiterin des Vögele Kultur Zentrums. Ihr war es ein Anliegen,die Wechselwirkung aufzuzeigen: Ohne Verzicht weiss man nicht,was verschwenderisch ist, und ohne Verschwendung weiss man nicht, was verzichten heisst. Letztlich habe man sich auf den Titel «Askese – Ekstase» geeinigt. Wobei das «Ekstatische » und «Asketische» in der Ausstellung nicht gleich ins Auge fällt.
Einfachheit und Luxus
Umso mehr setzen sich die Ausstellungsmacher und das Publikum mit Überfluss oder Einschränkung, mit Einfachheit oder Luxus auseinander. Eindrücklich Uli Westphals «Lycopericum III», eine Fotocollage, die das riesige Spektrum an Formen und Farben von Tomaten zeigt. «Die Gemüseabteilung im Supermarkt suggeriert Überfluss », sagt Sattler, «bietet aber nur zwei, drei verschiedene Sorten an.» Westphal überlässt die Sortenvielfalt nicht alleine den Saatgutbanken, sondern kultiviert die ausgefallensten Gemüse selbst. Daraus ist eine fotografische Sammlung von nicht standardisierter Pflanzennahrung entstanden. Drei seiner Fotocollagen sind an der Ausstellung zu sehen.
Zurück zur Natur
Einfachheit, zurück zur Natur: Mitten im grossen Saal lädt vor einer Tafel mit einem Leitsatz des amerikanischen Schriftstellers und Philosophen Henry David Thoreau ein Zelt und eine Feuerstelle zum Verweilen. «Wer zurück zur Natur geht, sucht nicht die mönchische Askese, er sucht einen Mehrwert », sagt Sattler. Auf die heutige Zeit übertragen kann dies durchaus groteske Formen annehmen. «Ein Zeltlager suggeriert Einfachheit», sagt der Kurator und weist auf das aus leichtesten Materialien hergestellte Zelt und den Schlafsack hin. Paradox: Der Wunsch nach Einfachheit wird mit Hightech-Material erfüllt.
Paradoxes
Dieses Paradox gibt es auch beim Design zu beobachten. Davon zeugen der Elektron-Stuhl aus dem Jahr 1927 von Max Ernst Haefeli oder eine Kreation der Möbelfabrik Horgenglarus: Schlicht in der Erscheinung, aufwendig in der Herstellung.«Weniger ist Mehr» ist zum Slogan einer Überflussgesellschaft geworden. Dies soll den Architekten Hans Poelzig zum minimalistischen Gebäude der Neuen Nationalgalerie in Berlin zum Ausspruch veranlasst haben: «Wir bauen einfach, koste es, was es wolle.»
Den Objekten Luft lassen
Wie Ekstase und Askese durchaus ineinandergreifen, zeigt ein Video der Hardrock-Gruppe Straight Edge von 1983. Die Band, die gegen Alkohol, Drogen und vorehelichen Sex kämpft, flippt auf der Bühne ekstatisch aus. «Da ist Verzichts- und Exzesskultur vereint», bringt es Sattler auf den Punkt. Gegenüber zeigt der schwedische Fotograf David Magnusson in seiner Reihe «Purity» Vater-Tochter-Paare, die eher an Hochzeitpaare erinnern.
Gelungene Umsetzung
Szenograf Jean-Lucien Gay hat eine optisch ruhige Ausstellung gestaltet, kein ekstatisches Chaos. Er setzt auf Farbgestaltung – erdige Rot- und kräftige Blautöne. Aber dem Thema entsprechend reduziert. «Wir haben gebrauchte Messeteppiche zugeschnitten und wieder zusammengesetzt», sagt Gay. «Ein Upcycling», wie er es nennt. Gay lässt aber auch viel Raum offen: «Wir lassen den Objekten Luft.» Abschluss der Ausstellung bildet die futuristische Installation «An Ecosystem of Excess» der türkischen Künstlerin Pina Yoldas. In Anlehnung an Plastikmüllstrudel, die in den Meeren treiben und von Mikroorganismen besiedelt sind, lässt sie «Organe gedeihen, die Plastik verstoffwechseln», wie Sattler sagt.
Fragen
«Kann eine Gesellschaft Verzicht und Verschwendung so miteinander vereinbaren, dass mit endlichen Gütern sorgsam gehaushaltet und zugleich verschwenderisch mit Gedanken, Kräften und Gefühlen umgegangen wird?», fragen die beiden Kuratoren im Ausstellungskatalog. Die Ausstellung bietet auf jeden Fall Gelegenheit, unsere Kultur und seine eigene Haltung zu hinterfragen.