Verdis "La Traviata" (die vom rechten Weg Abgekommene) ist ein Pflichtstück im Repertoire eines Theaters mit der Leistungskraft, wie das Theater Regensburg sie in den vergangenen Jahren zeigte... Für Regie und Ausstattung hatte man zwei prominente Gäste gewinnen können: die von Gret Paluccas Ausdruckstanz kommende Arila Siegert als Regisseurin und ihre europaweit gefragte Ausstatterin Marie-Luise Strandt. Beide hoben nun das Werk aus der Sicht einer Frau auf die Bühne, und es entwickelte sich im Verlauf des Abends, an dem alle zunehmend sicherer wurden, ein spannendes Drama um das Liebespaar Violetta Valéry und Alfredo Germont - sie eine in Paris auf höchster gesellschaftlicher Ebene agierende junge Kurtisane, er ein schwärmerischer, sein Idol bislang aus der Ferne verehrender junger Dichter, Sohn des ebenso wohlhabenden wie bigotten Giorgio Germont...
Den Sängern des Abends gebührt - neben dem fabelhaft aufgelegten Philharmonischen Orchester unter dem umsichtig-souverän leitenden Philip van Buren und dem exzellent singenden Chor das erste Lob. Chor und der Extrachor setzten darüber hinaus souverän eine Choreographie um, die das stereotype Verhalten der Männergesellschaft verdeutlicht. Die sängerische Spitzenleistung des Abends lieferte Theodora Varga in der Titelpartie...
Den finalen Jubel löste insbesondere die geschlossene Gesamtleistung aus, in die sich die singenden Darsteller kleinerer Partien einfügten: Misaki Ono (Flora), Ruth Müller (Annina), Cameron Becker (Gaston), Matthias Degen (Douphol), Ruben Gerson (`d'Obigny), Sung-Heon Ha (Doktor Grenvil) sowie Christian Schossig, Tobias Hänschke und Sang-Sun Lee als Diener bzw. als Bote. Gewinnerin war am Ende aber Theodora Varga als junge Frau, die nicht vom Weg abkommt, sondern ihn durch die Wirrnisse einer verzweifelnden Liebe mühsam findet, und sich, als sie ihn endlich im Tod gefunden hat, nicht mehr von ihm abbringen lässt. Noch ein ganz großer Abend in dieser Spielzeit!
La Traviata, die große Oper von Guiseppe Verdi, stellt die Doppelzüngigkeit der männlich dominierten Gesellschaft im 19. Jahrhundert aus. „Die vom Wege Abgekommene“ ist nämlich eigentlich keine: Mätresse ist damals in der Tat eine der wenigen – wenn auch nur halbwegs geduldeten – Möglichkeiten für Frauen, dem Fluch einer reichen Heirat oder der sonst zwingend folgenden Armut zu entkommen. Wenn schon ökonomische Abhängigkeiten, so die Logik von La Traviata, dann doch bitte mild gedämpft durch rauschende Partys der Pariser Elite und ordentlich viel zu trinken. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, ist selbstverständlich alles andere als gering: Gefühle haben in dem Leben einer käuflichen Dame nichts zu suchen...
Die Bühne, entworfen von Marie-Luise Strandt, kann getrost als in Beton gegossene Verbildlichung der allgemeinen grauen Wirklichkeit gelesen werden, gegen die die Partygänger vergeblich versuchen, Stimmung zu machen. Vergeblich raschelt auch Violettas Kleid gegen die unnachgiebigen Stufen und Kanten an, dessen blutroter Stoff sie in der farblosen Masse von Anzugträgern und vor der Mauer wie ein Makel herausstechen lässt. Die Frau ist hier das Andere, untergeordnet der von Männern gemachten und dominierten Gesellschaft, der sie sich bitteschön zu unterwerfen hat – aber mit Stil. Die ungleichmäßige Verteilung von Geld und Macht und die damit verbundenen Freiheiten und Abhängigkeiten sind dann auch zentrale bildliche Motive der von Arila Siegert inszenierten Oper...
...Das variable graue Rund der Bühnenbildnerin Marie-Luise Strandt wurde durch Martin Stevens' Lichteinfälle und die einfallsreiche Regie von Arila Siegert zu einer zwar stimmungsvollen, manchmal vor Erregung berstenden, aber kaum kitschigen Kulisse für das Schicksal der Violetta Valery: ein kahler Ballsaal, durch den die Großstadtgesellschaft tobt, ein kühler Loft mit Sonnenschirm hoch über den Dächern, ein düsteres Sterbezimmer der Kurtisane.
Dort nimmt die packende Inszenierung der routinierten Regisseurin, die eigentlich vom Tanztheater her kommt, auch ihren Ausgang: Schon währen der Ouvertüre sitzt Violetta in ihrem Ballkleid auf dem Fußboden, tödlich erkrankt. Das war eine klare Absage Siegerts an plüschige Atmosphäre – kein Wunder bei einer früheren Ruth-Berghaus-Mitarbeiterin. Sie machte die Regensburger Bühne am Bismarckplatz durchaus zu einer Art Arena für die Treibjagd der lüsternen Männergesellschaft auf das erotische Angebot.
Auf Kommando fahren die Zylinderköpfe der gierigen Herren über die Betonumrandung nach oben, die gierigen Hände, die Geld und Juwelen in die Dekolletés stopfen, dazu Schampus in Strömen: In diesem „Traviata“-Penthouse (gefühlt mehr über den Dächern von Berlusconis Rom als über denen von Verdis Paris) geht's hoch her: Die wenigen Farben haben Signalcharakter – ein bisschen wie in der letzten Salzburger „Traviata“ von Willi Decker. Austauschbar sind die Kavaliere, schwarzer Frack, weißer Schal...
Opernregie ist eigentlich ganz einfach: Man muss Sängern nur plausible, Text und Musik gleichermaßen berücksichtigende Dinge zu tun geben. Mit darstellerischer Präzision und gesanglicher Intensität umgesetzt, ergibt das veritables Musiktheater.
Auf diese naive Idee kann man kommen, wenn man das bewundert, was Regisseurin Arila Siegert vor allem im zweiten Akt der Regensburger "Traviata"-Produktion gelungen ist: eine genaue, sinnlich stets erfahrbare Umsetzung jeder Nuance des gesungenen Wortes. Vielleicht muss man vom Tanz herkommen, um Sängern ein solches Gefühl für ihre Position im Raum und zueinander zu geben, um mit ihnen eine Begegnung wie die von Violetta und Vater Germont mit solch klarer und glaubwürdiger Ausdruckskraft zu gestalten...
In dieser Produktion trifft sich ein Team von hochkarätigen Künstlern, das dem Regensburger Theaterpublikum eine Produktion bescherte, die Weltniveau hat. An Perfektion nicht zu übertreffen ist die fantasievolle Inszenierung von Arila Siegert. Dass sie vom Ausdruckstanz kommt und mit Ruth Berghaus zusammen gearbeitet hat, spürt man wohltuend an der Regiearbeit...
...Musikalisch bleibt die Erkenntnis, dass auch ein relativ kleines, aber feines Orchester (der Orchestergraben in Regensburg ist relativ klein) den breiten Klangteppich einer Verdi-Oper nicht nur ausbreiten, sondern auch zum Schweben bringen kann. Philip van Buren ist der Mann der Stunde für die vielen filigranen Verästelungen des italienischen Klanges, für die La Traviata so geschätzt wird...
Im Prinzip ist diese Inszenierung ein weiterer Beleg dafür, dass das Tanztheater mehr Impulse der Oper zur Weiterentwicklung geben kann als Regietheatereinfälle des Schauspiels. Arila Siegert kommt vom Tanztheater, sie choreographiert die Beziehungen zwischen den einzelnen Personen durch ihre Haltung zueinander – mit den Mitteln des klassischen Ausdruckstanzes. Da diese Oper kaum äußere Handlung hat, sondern von den inneren Spannungen der Personen untereinander lebt, ist dies ein richtiger Ansatz...
Lang anhaltender und lauthals geäußerter Jubel für alle Akteure ist der Dank des Publikums.
REGENSBURG. Sie kommt vom Tanz, aus der Schule von Gret Palucca, um genau zu sein, und kann beispielsweise auf die Zusammenarbeit mit Ruth Berghaus zurückblicken. In den letzten Jahren freilich hat Arila Siegert vor allem als Opernregisseurin für Aufsehen gesorgt. Ihr „Freischütz“ in Chemnitz etwa wurde nachgerade hymnisch gefeiert. Und für die Inszenierung von Wagners „Der fliegende Holländer“ in Neustrelitz bekam sie eine Nominierung als „Opernregisseurin des Jahres“ durch die „Opernwelt“. Zu überaus starken Bildern sei sie fähig, heißt es allenthalben, aber eben auch zu stimmigen, subtilen Gesten...