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Arila Siegert wurde von Achim Freyer eingeladen, als künstlerische Beraterin mit Schwerpunkt Choreographie an seinem Projekt "Abschlussball - ein Lamento in Bildern" mitzuarbeiten.
Damit wurde die Abschluss-Spielzeit von Intendant Claus Peymann am Berliner Ensemble eingeläutet. Premiere war am 15.Sept 2016. Für Arila war es auch eine Möglichkeit, Freyers Arbeitsweise aus der Nähe zu studieren. Von der Presse und teilweise auch vom Publikum wurde die Produktion eher kontrovers aufgenommen.
Möglicherweise planten Freyer und Peymann einen neuen Versuch mit einer Art Bildertheater heute, wie es der Maler, Bühnenbildner und Regisseur Freyer unter dem Titel "Metamorphosen" ähnlich vor drei Jahrzehnten in Wien wärend der Intendanz Peymanns am Burgtheater zu einem Riesenerfolg geführt hatte.
War die damalige Produktion in ihren Abläufen streng strukturiert (auch durch die Musik von Dieter Schnebel), so wollte Freyer nun etwas improvisatorisch Nicht-Festgelegtes, nie von ihm zuvor Gewagtes ausprobieren. Einer Grundstruktur von vier Zyklen zu je 12 Szenen folgend, sollte den Darstellern möglichste Freiheit zur Improvisation gelassen werden.
gfk

 

Aufforderung zum Totentanz

Achim Freyer inszeniert „Abschlussball. Ein Lamento“ am Berliner Ensemble

Irene Bazinger, in: Frankrfurter Allgemeine Zeitung 17.09.2016

Bis tief in den Saal reichen die Installationen im Berliner Ensemble, die sich Achim Freyer als Regisseur und Bühnenbildner für die Uraufführung „Abschlussball“ ausgedacht hat, um das Publikum dorthin mitzunehmen, auch oder gerade weil er diesen Abend als „Ein Lamento in Bildern“ bezeichnet: Rund und bunt umhüllte Deckenleuchten, kleine, farbige Stehlämpchen auf der Balustrade zum ersten Rang, ein großes LED-Display über den Köpfen der Zuschauer im Parkett. Der riesige, schräg über der Bühne hängende Spiegel erlaubt es, das Ornament der Masse, zu dem sich die Darsteller dank der Choreographin Arila Siegert immer wieder neu formieren, von vorne wie von oben zu sehen, solcherart die kunstvolle Struktur der oft liegenden, zusammengefallenen Gruppe zu bewundern.

Am Anfang ist von fern leise, trubelige Zirkusmusik zu hören, ein Clown in einer Loge hantiert mit Ziffern und Objekten, die er auf einer Magnettafel verteilt. Bald wechselt die Musik von Lucia Ronchetti, wird lauter, tangoartig, zwischendurch jazzbluesig und klassisch, „Salome“ von Richard Strauss klingt an. Das sechzehnköpfige Ensemble um Ursula Höpfner-Tabori, Anke Engelsmann, Boris Jacoby, Norbert Stöß und Jörg Thieme ergeht sich in vielerlei beredten Posen und Gesten, wirkt mal losgelöst von der Schwerkraft wie im Traum, mal unsicher auf den Beinen wie im Rausch. Man zitiert Texte, Lieder, Bewegungen, Atmosphären, Heiner Müller, Georg Büchner, aus der Offenbarung des Johannes und die Aufstellung des 1. FC Nürnberg am 27. Januar 1968.

Eindringlich denken die Figuren an Medea und ihre Kinder, an Penthesilea und Achill, an Judith und Holofernes. Doch was sie auch tun und treiben, tanzen und sprechen, gestalten und ausprobieren, alles bleibt Fragment. Eine kontinuierliche Erzählung scheint Achim Freyer nicht mehr möglich, als sei jedweder Sinnzusammenhang schon lange illusorisch, Linearität lächerlich und Psychologie gescheitert. Selbst die Requisiten, die sich die Darsteller in diese um sich und in sich kreisende Welt voller verrückter Farben und sich auflösender Formen mitgebracht haben, muten zufällig und absurd an – ein mit Folie überzogener Regenschirm, einfache Holzstühle, Puppen, Gesichtsmasken. Wie Strandgut der Geschichte treiben sie durch diese surrealen Erinnerungen an vergangene Zeiten, als Buchstaben noch etwas bedeuteten konnten, Bilder noch etwas mitteilten, Begriffe noch Bestand hatten.

Über das LED-Display flimmern Worte wie „Heimat“, „Fremde“, „Tränen“, „Reichtum“, „Tod“. Alles ist hier aus den Fugen, sieht dabei freilich auf trügerische Weise meist zirzensisch hübsch und artistisch geglückt aus. Es ist hochkomplexer, raffiniert komponierter Theatertand, den Achim Freyer zu einer abstrakten, abgründig schillernden Collage verdichtet hat, die sich auf keinerlei Gewissheiten verlassen will und nur aus Assoziationen und Ahnungen gewoben ist. Nach den mythologischen Anspielungen und den frei flottierenden Bildern rücken Bezüge zur Gegenwart in den Vordergrund. Einheitlich schwarz gekleidete Personen rennen mit überdimensionalen, stark leuchtenden Kästchen herum, wischen darüber, brüllen hinein, einer doziert über Geld und hält den Kapitalismus mit einem bösen kurzen Prosatext von Gertrude Stein für ein Naturphänomen: „Menschen können zählen, und das tun sie auch, und darum haben sie Geld.“

Die Inszenierung überschlägt sich bewusst vor Impulsen und Materialien, ist chaotisch in Bewegung und gezielt überladen. „Das Spiel beginnt!“, frohlocken immer wieder zwei kleine Mädchen, aber es folgen keine Anfänge, sondern die vier „Akte“ münden in schwermütige, herzzerreißende Finali, in denen die Kraft, die stets aufs Neue aufgebaut wurde, traurig ins Leere läuft. Achim Freyer ist 82 Jahre alt, hat viel erlebt und will in seiner Kunst niemandem etwas vormachen. Bei „Abschlussball“ zeigt er mit altmeisterlicher Grandezza, dass er die Theatermittel wie ein bildender Künstler zu nutzen versteht, dem die Bühne zur semantischen Spielwiese wird. So ist der Schluss ein einziger allegorischer Zerfall, folgt einer mit Feuerprojektionen und schrillen, misstönenden Begleitgeräuschen ausbrechenden Apokalypse, deren Windböen bis in den Saal hinein fauchen. Alle Farben und fast alle Helligkeit sind danach verschwunden, die Figuren kauern erstarrt und still auf der leeren Brache.

Und dann kommen sie in Zeitlupe nach vorne wie ausgebrannte Hohlkörper, strecken dem Publikum verzweifelt grinsend die Hände entgegen – als verstörend zarte Aufforderung zum Totentanz. Die Einlasser reißen die Türen auf, Licht dringt herein, es klingelt wie zum Ende der Pause. Das ist nicht bloß der Schluss einer Aufführung, das ist der Ausdruck für den Absturz einer Zivilisation direkt in die selbst geschaffene, wohl auch selbst gewollte Agonie.