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Stimme mit Figur

Die Choreografin Arila Siegert feiert in Aachen ein Comeback
Jochen Schmidt in FAZ, 28.Februar 2001 (Aschermittwoch)

In seiner ersten Spielzeit als Generalintendant des Aachener Theaters thematisiert Paul Esterhazy eine fürs Theater ungewöhnliche Problematik: Blindheit. Aachens Theater spielt Eugen d'Alberts Die toten Augen, thematisch passende Einakter von Jacques Offenbach und Etienne Nicolas Méhul und Beat Furrers Musiktheater Die Blinden; ein Café Finsternis ermöglichte es auch Sehenden, in abgedunkelten Räumen Erfahrungen als "Kurzzeit-Blinde" zu machen.

Auch Arila Siegerts Inszenierung von Francis Poulencs Kammeroper Die menschliche Stimme auf einen Text von Jean Cocteau, ursprünglich für die Kammeroper Schloss Rheinsberg in Brandenburg produziert und jetzt aus deinem gotischen Kirchenraum mit Marie-Luise Strandts Bühnenbild ins Große Haus in Aachen übertragen, hat mit Blindheit zu tun. Denn die Sopranistin Gerlinde Sämann, die in Aachen wie in Rheinsberg höchst anrührend die einzige Partie singt, die Poulencs Oper originaliter zu vergeben hat, ist blind und wird von der Regie nicht nur durch Ariadnefäden unterstützt, die sich kreuz und quer über die Bühne ziehen. Siegert hat Sämann auch zwei Tänzer, Iris Sputh und Dieter Hülse, an die Seite gestellt, die sich als die Gedanken der mit ihrem untreuen Geliebten telefonierenden Frau interpretieren lassen und das künstlerische Personal glatt verdoppeln; außer den drei Darstellern auf der Bühne ist an der Aufführung nur noch der Pianist Hans Sotin, der die Klavierfassung der Musik zum Klingen bringt, sichtbar beteiligt. Da Poulencs Oper gerade vierzig Minuten dauert, hat die Choreografin Arila Siegert den Abend für Aachen mit einem Werk ihres eigenen Metiers - unter der Dachzeile gesichte.ac - sinnvoll komplettiert. Der Reprise der Oper Die menschliche Stimme geht im Aachener Stadttheater die Uraufführung des gut halbstündigen Tanzstücks Die menschliche Figur voran: keine Verlegenheitslösung, sondern eine thematische Ergänzung von allerhöchster Qualität.

Auf der Vorbühne ein Tisch und ein Stuhl; dahinter, den Bühnenraum ausfüllend, eine helle Projektionsfläche. Im Dunkeln ahnt man eine Figur hinter dem Tisch. Ein schmaler Lichtstreifen, von oben nach unten verlaufend und sich allmählich verbreiternd, hebt eine einzelne Frau aus dem Dunkel: ein strenges schmales Gesicht; das Haar im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengefasst. Die Tänzerin Arila Siegert rührt sich zunächst kaum vom Fleck. Vom Tonband tropfen, nur selten von höherer Erregung beschleunigt, die isolierten Töne von Helmut Lachenmanns Allegro Sostenuto. Trio für Klarinette, Violoncello und Klavier. Die Choreografie versucht, es der Musik an Gelassenheit und Ruhe gleichzutun. Die Tänzerin beugt den Kopf auf die Tischplatt, bewegt Finger, Hände, Arme, tut zaghaft, immer noch in Berührung mit dem Tisch, ein paar Trippelschritte zur Seite.

In dieser frühen Phase von Die menschliche Figur ist auf der Projektionsfläche hinter der Tänzerin beinahe mehr los als bei der Tänzerin selbst. Denn auf dieser Fläche und auch über den Körper der Tänzerin, den ein ärmelloses graues Kleid von plumpem Zuschnitt eher verbirgt als enthüllt, projiziert der Maler Helge Leiberg seine auf durchsichtige Folien aufgetragenen, live entstehenden Bilder. Eine Tuschfeder krakelt gebrochene Linien, aus denen schließlich Gesichter und menschliche oder tierische Figuren werden, auch Pflanzen, Sträucher, Bäume. Aus scheinbar willkürlichen Kritzeleien werden Augen und Ohren, eine Nase, ein Mund. Ein offenbar feuchter Pinsel trägt Farbe auf: anfangs vor allem Gelb und Ocker, später auch Rot und Blau. Und mittendrin, beinahe ein Teil der Malerei, die Tänzerin, die sich zunehmend stärker und kräftgier bewegt.

Nach einer Weile stellt Siegert den Tisch auf eine Kante. Dann kippt sie in völlig um und legt ihn mit der Platte nach unten auf die Bühne. An den Tischbeinen lehnt sie und stützt sich ab. Auf zwei Armen und einem Bein, das andere Bein hoch in die Luft gestreckt, riskiert die Tänzerin einen Kopfstand, kauert auf dem Boden vor der Projektionsfläche, die langsam in die Höhe fährt und eine Schräge freigibt, hinter der wiederum eine Projektionsfläche wartet. Geduldig erobert Siegert - eine wuchtige, den großen Ausdruckstänzerinnen der Zwanziger Jahre vergleichbare Frau auch in der Art, wie sie ihren Platz auf der Bühne behauptet, vielleicht die letzte Ausdruckstänzerin überhaupt - die Schräge. Sie kauert sich auf der Höhe zusammen, kehrt dann aus der Tiefe des Raumes zurück auf die Vorbühne. Hinter ihr schließt sich wieder der ursprüngliche Hintergrundprospekt, auf dem nun ein großes, buntes Gesicht zu sehen ist, wie von Picasso gemalt.

Natürlich erzählt Arila Siegert keine Geschichte. Aber abstraktes Tanzwerk, reine Bewegung oder choreografierte Architektur ist Die menschliche Figur auch nicht. Sparsamer Tanz und dominante Malerei produzieren einen gesellschaftlichen Subtext. Ein Mensch, die Tänzerin Arila Siegert (die damit durchaus etwas von ihrer eigenen Geschichte auf die Bühne bringt), behauptet sich als Individuum gegenüber einer feindlichen Umwelt. Wir sehen einen unpathetischen Überlebenskampf, weder gegen andere Menschen noch gegen eine unwirtliche Natur, sondern gegen die Linien und Farben einer unerbittlichen Malerei, denen sie immer mehr Möglichkeiten und Freiräume abtrotzt, auch wenn sie am Ende in ihre Ausgangsposition am Tisch zurückkehrt.

Aus dem, was als Ergänzung zu Poulencs Oper gedacht war, wird ein gleichwertiger Partner, beinahe so anrührend wie das letzte Telefonat der verlassenen Frau mit ihrem untreuen Liebsten - doch ästhetisch innovativer. Arila Siegert, in den Achtziger Jahren die große Hoffnung des zeitgenössischen Tanzes in der DDR, wurde durch die Wende aus der Bahn geworfen. Mit diesem starken Stück kehrt sie in die erste Reihe der Tanztheater-Choreografen zurück.


Blicke in Frauenseelen

gesichte.ac bringt Tanz und Oper zusammen

Pedro Obiera in Aachener Nachrichten, 19.Febr.2001
[auch Neue Rhein Zeitung, 22.Febr.2001]

Zwei ungewöhnliche Produktionen machen einen aufsehenerregenden Theaterabend: Solistinnen in Tanz und Gesang öffnen Wege und geben Einblick in die Frauenseele. Eine Oper und ein Tanzstück - gesichte.ac erhielt am Samstagabend reichen Beifall. Ein Dauermonolog von 45 Minuten Länge. Eigentlich ein Dialog. Doch der Partner bleibt unhörbar. Eine Frau telefoniert. An sich kein spektakulärer Opernstoff. Doch was Jean Cocteau und später der französische Komponist Francis Poulenc in dem Monodram Die menschliche Stimme aus einer Alltagssituation gemacht haben, gehört zum Packendsten, was das Musiktheater der Nachkriegsjahre zu bieten hat.

Somit reiht sich diese kleine Produktion würdig in die intensiven Bemühungen um das moderne Musiktheater ein, mit denen das Aachener Theater in der jungen Amtszeit von Paul Esterhazy nach langer Zeit wieder einmal überregionales Interesse auf sich ziehen konnte. Auch wenn es sich nicht um eine Uraufführung handelt, bleibt die Modernität des 1959 uraufgeführten Werks ungebrochen. Wenn Psychologie in der Musik noch etwas zu sagen hat, dann in diesem herausragenden Monodram. Natürlich geht es um keinen ganz gewöhnlichen Plausch. Eine Beziehung steht vor dem Ende und wirft die Frau in eine existenzielle Krise. Man erfährt, dass sie eine Überdosis Schlaftabletten eingenommen hat. Telefonschnüre durchziehen den Bühnenraum, formen sich zur würgenden Schlinge und zur unentrinnbaren Fessel (Ausstattung: Marie-Luise Strandt). Die Schlussworte lassen das Schlimmste befürchten, auch wenn nichts ausgesprochen wird.

Die Kunst der Andeutung kultiviert Cocteau mit Einfühlungsvermögen. Zugleich eine Beziehung spiegelnd, die auf Schein, Illusion und Wunschdenken gegründet war. Um so tiefer der Sturz nach der ernüchternden Erkenntnis. Kongenial, wie facettenreich Poulenc das Spiel zwischen unrealistischer Hoffnung und erdrückender Wahrheit auch in der dünn instrumentierten Klavierfassung (vorzüglich: Hans Sotin am Flügel) auslotet. Beeindruckend auch, wie subtil, intensiv und uneitel und zerbrechlich Gerlinde Sämann die Lebenstragödie in ihrem kräftezehrenden Marathon-Auftritt bewältigt. Eine bis in die kleinste Facette glaubwürdige, auch stimmlich superb ausgefeilte Darstellung ohne jede theatralische Aufdringlichkeit. Gerlinde Sämann ist blind. Wer es nicht weiß, dürfte es kaum gemerkt haben. Wenn sie sich auf der Sofalehne vortastet oder dem Orchestergraben nähert, unterstreichen Andeutungen von Unsicherheit nur die Zerbrechlichkeit einer Frau am Rande des psychischen Abgrunds. Die Solistin in der detailliert ausgearbeiteten Inszenierung von Arila Siegert wirkt so überzeugend, dass die getanzten Kommentare von Iris Sputh und Dieter Hülse dramaturgisch entbehrlich wären.

Allerdings stellt Arila Siegert die Oper in Kontext zu einem Tanzstück der besonderen Art. Im Rahmen einer kapitalen Uraufführung präsentiert sich die Choreografin zugleich als Solistin in einer großen, 30-minütigen Solo-Szene, die unter dem Titel Die menschliche Figur eine optisch-körperhafte Ergänzung zu Poulencs Psychodrama bildet. Auch hier werden uns Einblicke in die Seele einer einsamen Frau gewährt, ausgedrückt durch die Kraft einer innovativen Körpersprache und Live gemalter Impressionen des Malers Helge Leiberg. Raffiniert, wie der am Overhead-Projektor wirkende Künstler die Performance durch Schattenrisse erweitert oder durch farbliche Kontraste Stimmungswechsel provoziert. Und dazu erklingen Helmut Lachenmanns konzentrierte Klänge aus Allegro sostenuto. Musik für Klarinette, Violoncello und Klavier, leider nur vom Band eingespielt. Eine Musik, in der die Bildung des Einzeltons in den Vordergrund steht und die damit jedem szenischen Versuch der Tänzerin oder des Malers entgegensteuert, irgendeine verbindende Entwicklung herzustellen. Ein spannendes Stück, ein spannender, mit großem Beifall belohnter Abend.


Nahtlos

Doppelabend über Stadien menschlicher Entwicklung

Christina Maria Purkert in DLF-"Kultur Heute", 18.Febr.2001

Ein Tisch, ein Stuhl, eine leere Bühne. Arila Siegert setzt sich im Dunkeln. Ein Streifen weißen Lichts spaltet das Dunkel, beleuchtet ihren Kopf. Sie nutzt diesen kleinen Spielraum, zeigt Profil oder kippt ins gesichtslose Dunkel. So wie sie langsam ihren Aktionsradius auf andere Körperteile ausdehnt, so weitet sich der Lichtspalt. Von der angekündigten Live-Malerei und dem dazugehörigen Maler ist keine Spur zu sehen. Doch plötzlich fährt eine Tuschefeder über die Projektionsfläche, kitzelt die Tänzerin am Schopf und fährt mit wilden schwarzen Strichen über sie hin. Binnen kürzester Zeit lebt sie in einem Knäuel von Wellenlinien, aus dem sie nur noch wie eine Schwimmerin beim Einatmen gelegentlich auftauchen kann. Der Maler Helge Leiberg und die Choreografin haben die Erwartungshaltungen überlistet. Kein action painting, keine performance mit Farbbad für die Tänzerin findet statt. Der Maler sitzt still im Hintergrund an zwei Overhead-Projektoren und kann nicht nur so spontan zeichnen wie er will, er kann sich ein- und aus- oder überblenden wie er will.

Und so haben die ersten Interaktionen zwischen Tanz und Malerei spielerischen, heiteren Charakter. Ein nasser Pinsel befreit die im Linienwirrwarr gefangene Tänzerin mit ein paar Strichen. Tabula rasa für den nächsten Streich und der kommt sogleich als Farbklecks. Strichmännchen, Tiere und Gesichter in halb kindlicher Manier kommen und gehen so. Manchmal fahren sie der Tänzerin über den Leib, manchmal schmiegt sie sich an die Linien. Oft genug überlagern sich Bild und Bewegung einfach und führen eine Weile ein Eigenleben, beschäftigen sich je für sich mehr mit den Stimmungen und der Dynamik, die Helmut Lachenmanns Allegro sostenuto schafft. Unberechenbare Wechselwirkungen zwischen dem auf lang ausgekostete Gesten und Haltungen konzentrierten Tanz, der Malerei und der Musik ergeben sich so.

Ganz offensichtlich haben sich Arila Siegert und Helge Leiberg zwischen Fixpunkten improvisatorische Freiräume bewahrt, sodass Bilder und Choreografie im Detail von Abend zu Abend verschieden sein dürften. Die menschliche Figur, die dem Stück den Titel gibt wird nicht anatomisch untersucht, nicht auf Erscheinungsformen abgeklopft. Arila Siegert gib ihr, was ihr dank ihrer Herkunft aus dem Ausdruckstanz der Palucca-Tradition am besten kann: expressive Gesten, Haltungen, die Stadien menschlicher Entwicklung andeuten. Doch wie die Malerei bleibt auch der Tanz bei aller Gegenständlichkeit abstrakt genug, um viele Assoziationsräume offen zu lassen.

In diesem Sinn fügt sich das uraufgeführte Werk Die menschliche Figur nahtlos zu einem Abend mit [Cocteau-Poulencs] Die menschliche Stimme ... Hier gehört alle Kraft und Emotion der Stimme: Die Stimme der Frau am Telefon, deren Illusion zerbricht über sich selbst, ihr Leben und die Liebe, von der sie abhängt - diese Stimme gehört auf der Bühne der blinden Sängerin Gerlinde Sämann. Arila Siegert hat ihr eine Tänzerin und einen Tänzer zur Seite gestellt. Die beiden illustrieren sparsam an einigen Stellen die Bilder, die die Frau im Kopf haben muss: Erinnerung an einen Lieblingshut, Eifersucht auf andere Paare beim Tanz, ein verliebter Walzer, eine zärtliche Berührung. Die Stimmungen in dem schlichten weißen Raum setzt das Licht. Und ein einfaches Requisit, ein starker Faden, den der Tänzer im Raum verspannt, schafft ein einleuchtendes Bild für die Verstrickung in der Verzweiflung ebenso wie für den letzten Draht zur Außenwelt, das Telefon.

Der bildarme der Stimme gewidmete Teil und der bilderreiche der Figur gewidmete ergänzen sich zu einem Abend, der auf zwei Wegen menschliche Ausdrucksmöglichkeiten erkundet. Das Theater in Aachen, das derzeit ohne Tanzsparte arbeitet, hat mit diesem Auftrag für Arila Siegert eine glückliche Hand bewiesen. Vorläufig heißt es allerdings aus dem Haus, das gern wieder eine(n) ChoreografIn an sich binden möchte, dass diese Zusammenarbeit einmalig sei. Trotzdem. Mehr Einmaliges dieser Art ist jedem Stadttheater nur zu wünschen.


Klang und Körper im Wechsel der Gefühle

Sabine Rother in Aachener Zeitung, 19.Febr.2001

Musik, Tanz, Malerei und Gesang - die Koordinaten eines Doppelabends im Großen Hauses des Aachener Theaters unter dem Motto gesichte.ac, den die Choreographin und Tänzerin Arila Siegert prägte. Stand sie zunächst als Solistin in der Uraufführung Die menschliche Figur zu Musik von Helmut Lachenmann und Live-Malerei von Helge Leiberg im Vordergrund, so stellte sie im zweiten Teil ihre 1999 für Rheinsberg erarbeitete Version der Oper Die menschliche Stimme von Francis Poulenc vor. Ein experimenteller Abend vor einer deprimierend kleinen Zuschauerschar.

Der Lichtspalt öffnet sich. Zunächst ein wenig geblendet, beunruhigt, aber doch neugierig schaut die Frau im grauen, streng geschnittenen ärmellosen Kleid ins Helle, der Spalt wird größer, öffnet eine Welt, mit der sie den wechselhaften Körperdialog beginnt. Aktion und Reaktion, Licht und Schatten begleiten den Entwicklungsprozess in Arila Siegerts Tanzstück Die menschliche Figur, wobei Helge Leiberg am Overhead-Projektor Feder und Pinsel ansetzt und auf diese Weise für ein beständig unbeständiges, fließendes "Bühnenbild" sorgt. Der erfahrene "Aktionsmaler", der schon häufig musikalisch-experimentelle Projekte begleitet hat, beweist eine lockere Hand, wo die Musik von Helmut Lachenmann schnelle Wendungen, Brüche und Leuchtpunkte erzeugt. Der 1935 geborene Komponist, ein Schüler unter anderem von Luigi Nono, hat mit seiner Erforschung der Energetik von Klangprozessen Aufsehen erregt. In diesem Allegro Sostenuto für Klarinette, Violoncello und Klavier (eingespielte Aufnahme mit Alain Damiens, Pierre Strauch und Pierre-Laurent Aimard), seziert er wiederum Reiz- und Klangsysteme und geht dabei bis an schmerzliche Grenzen.

Arila Siegert setzt ihre Frauengestalt, die sich in einer Mischung aus Ängstlichkeit und Aggressivität die Welt jenseits von Tisch und Stuhl erobert und eigene Körperlichkeit entdeckt, in Beziehung zu Klang- und Bildprovokationen. Sie verharrt wie gelähmt unter der "Last" einer Linie, flieht, kämpft, spreizt sich wie ein Opfer, um dann wieder neue Kraft zu schöpfen. Doch bei allem Respekt vor künstlerischer Dynamik und choreographischem Können weckt diese Uraufführung längst durchlebte Bilder der 70er Jahre, wirkt rückwärts gewandt und einer Zeit verbunden, die bereits Tanzgeschichte ist. Einzig der Moment der Bläue, der die Bühne weit werden lässt und die Tänzerin umhüllt, weckt für ein paar Atemzüge magischen Zauber, das Gefühl, etwas Neues zu erfahren. Doch das verlöscht rasch, vom Pinsel getilgt.

Mit tänzerischem Einfühlungsvermögen widmet sich Arila Siegert ... anschließend der einaktigen Oper Die menschliche Stimme die Francis Poulenc 1959 nach einem Text von Jean Cocteau komponierte. Die blinde Sopranistin Gerlinde Sämann ist in diesem Stück jene filigrane "Frau am Telefon", die erfolglos versucht, ihren Geliebten und damit den Mittelpunkt ihres Daseins festzuhalten. Gerlinde Sämann gibt ihr mit schöner, durchscheinender Stimme rührende Zerbrechlichkeit und Verzweiflung. Sicher und klar geleitet Hans Sotin als musikalischer Leiter am Klavier die Akteure durch das bewegende Seelendrama. Im kühlen Bühnenraum mit seinen weißen Wänden und dem Sofa (Bühne und Kostüme Marie-Luise Strandt) wird diese junge Frau im wahrsten Sinne des Wortes "eingesponnen" vom Kummer, vom Verlust des eigenen Ichs, das in der Hingabe an den anderen vergeht. Tänzerisch setzten Iris Sputh und Dieter Hülse die Gefühle von Mann und Frau in präzise und ausdrucksstarke Bewegung um, meiden dabei wie gleitende Schatten sensibel die Ausgestaltung einer individuellen "Person", um ganz "Gedankenwesen" und damit Teile der leidenden Psyche zu bleiben.

Es gelingt Arila Siegert eine faszinierende Bildsprache, die Gesang, Tanz und Wort als Facetten zu einer gemeinsamen Aussage bringt. Wie ein Spinnennetz zieht der Mann dünne, stabile Fäden durch das Zimmer. Für die Telefonierende werden die zunächst Orientierung bietenden Leitfäden zum Labyrinth und schließlich zur erwürgenden Fesselung - ein Bild für das Verhängnis einer sich vollkommen aufopfernden Liebe. Nur schade, dass gegen Ende die Fäden abgebaut werden und die Fesselung der Sängerin nach Indianer-Manier an einem der Pfeiler erfolgt, statt sie im konkreten "Netz" der Gefühle zu fangen. Zudem braucht dieses Stück Intimität und Nähe, die es im Großen Haus nicht geben kann. Begeisterter Applaus belohnte eine respektable Leistung aller Akteure.