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Den Stoff für seine Opern hat Richard Wagner immer wieder aus mythischen Erzählungen gewonnen. Das verleiht ihnen dauerhaft Allgemeingültigkeit, erhält ihre Aktualität und reizt Regisseure zu immer wieder neuen Deutungen. Arila Siegert hat für die Oper „Der fliegende Holländer“ am Landestheater Neustrelitz eine neue Inszenierung erarbeitet. Am Samstagabend war Premiere im Großen Haus, die das Publikum mit einhelligem Jubel feierte.
Kein Wunder, denn Siegerts Ansatz zum Verständnis, der in jedem von uns etwas von dem rastlosen Holländer ohne Heimat entdeckt, war fesselnd in seiner Schlüssigkeit. Und die Bilder, die sie daraus gewann, waren faszinierend in ihrer Klarheit, spannend in ihrer Abfolge und mitreißend voller Energie. Dalands Schiff, vom Sturm in eine Bucht verschlagen, wirkt im Bühnenbild von Hans Dieter Schaal Bucht verschlagen, wirkt im Bühnenbild von Hans Dieter Schaal, ausgeschnitten aus einer schwarzen Wand, wie eine Nussschale gegen das Geisterschiff des Holländers, das daneben ankert und die Bühne aufreißt bis zur rückwärtigen Brandmauer.
Symbole für die kleinkrämerische Welt des alten Seefahrers und die Allgegenwart des Fluchs, der auf dem Holländer lastet. Den stattet Kostümbildnerin Marie-Luise Strandt aus mit Seesack und Wettermantel, immer unterwegs, auf der Suche, während Kapitän Daland in Tuchuniform feste Zugehörigkeit zeigt zu Land und Beruf. Sie werden handelseinig über Senta, Dalands Tochter, wechseln die Seiten: Daland gewinnt den Reichtum des Geisterschiffes, der Holländer Dalands bürgerliche Herkunft, Sentas Treue vorausgesetzt. Beide aber, Senta und Holländer, können sich nicht aufrecht begegnen, ihr Menschsein ist versehrt, gespeist aus Traum und Trotz, Fluch und Flucht. Stürzend fast kommen sie zueinander.
Und doch wird Senta ihm Treue halten, nicht durch den Tod im Meer, sondern durch gemeinsamen Weg, und sei er auch nur Fluchtweg. Damit gibt die Regisseurin dem Stück in aller Tragik hoffnungsvollen Ausgang, der – wie alle anderen Bilder auch – überzeugte. Dahinter blieb die musikalische Gestaltung kaum zurück. Nur in der Ouvertüre klang die Neubrandenburger Philharmonie unter Leitung von Chefdirigent Stefan Malzew noch etwas trocken. Doch mit Beginn des dramatischen Geschehens erfasste auch sie der Sturm der musikalischen Anforderungen, unter dem sich ihre klanglichen Segel mächtig entfalteten.
Michael Junge als Holländer war tief beeindruckend, jede Geste, jeder Blick von Bedeutung. Wo seine Stimme die Tiefe nicht mehr klanglich auszufüllen vermochte, ergänzte er mit deklamatorischer Spannung. Doch je höher er sie führte, desto mehr ging sie auf in heldisch-tenoralem Timbre. Auch Larysa Molnárová gelang eine ergreifende Darstellung der Senta, die aus einer zarten Traumwelt hineinwächst in ihre Lebensbestimmung. Sie konnte die mittleren Bereiche der Partie mit ihrer Mezzo-Stimme wunderbar in Klang fassen, doch um die Gipfel der Sopranpartie zu erreichen, musste sie viel Kraft investieren.
Der Daland von Peter Reich war ganz Krämer, eifrig bedacht auf seinen Vorteil. Auch als Sänger eifrig jeden Einsatz erhaschend, klang sein Bass in allen Registern mit ausgeglichenem Wohllaut. Paul McNamara sang den Erik, dessen Werben Senta ausschlägt, mit unglaublich kraftvollem Tenor, der sicher alle Klippen umschiffte, auch wenn er im Duett mit Senta immer eine Spur stärker war als sie. Vital, ja herrisch gab Gabriele Spiegl Sentas Amme. Alexander Schulz war hinreißend als Steuermann, mit seinem Lied wie mit seinem Spiel zu Beginn des 3. Aktes. Frappierend auch die dramatische Aktionsfähigkeit des Opernchores. Und das bei fabelhaft sicherer sängerischer Gestaltung in der Einstudierung von Gotthard Franke. Bravos für eine Inszenierung, die keinen fernen Mythos bescherte, sondern mitten in unsere Zeit griff.
Neustrelitz
SHIRLEY APTHORP, in: Opera, Nov. 2007
The south wind gets mixed up with a blow job in the sleepy Steuermann's mind. Did Wagner really know what he was writing? In any case, it's obvious why he later changed his first draft of the Steuermann's post-nap lines, which had read, 'My dear girl, blow harder! Oh south wind ...' In Neustrelitz, a return to the original drew only a few sniggers from the opening-night audience. A more significant difference in Wagner's original Hollander is the lack of explicit redemption in its closing scene. In Neustrelitz, the producer Arila Siegert took the chance to hint at something more optimistic than Senta's usual self-sacrifice. This Dutchman takes his Senta by the hand, and the two head off into the distance together. It's a redemption of a different kind.
Neustrelitz, a two-hour drive north of Berlin, boasts a sweet little 1920s opera house and an orchestra bolstered by its merger with its Neubrandenburg counterpart. This is yet another exemplary provincial German company, battling never-ending cuts with a solid ensemble and a host of smart ideas. And it was well worth the pilgrimage for this unpretentious Holländer (opened May 19). Siegert, a choreographer by training, had come up with a spare and fluid view of Wagner's salty saga. Hans Dieter Schaal's abstract sets suggested darkness, claustrophobia and displacement. Siegert concentrated on her characters' emotions and relationships, showing us real people with vivid imaginary lives. Her Dutchman was a hollow-eyed refugee, her Daland a world-weary battler whose greed was driven by desperation, her Erik a man of passion genuinely baffled by the dreamy Senta's rejection.
Unlikely visitors from the wrong Wagner opera, three Norns wove their threads between these unhappy protagonists. Destiny played a role in everything. Siegert moved all her figures with grace and good taste, lending a dream-like flow to the action. Stefan Malzew conducted with a keen sense of colour and drama, keeping his forces well together. Michael Junge was compelling in the title role, with a sonorous middle register and the wisdom to manage his vocal resources well. Larysa Molnárová fared less well as Senta, forcing in the higher passages to piercingly shrill effect. Gabriele Spiegl's Mary was agreeably firm, to the obvious pleasure of Peter Reich's desiccated Daland: But it was Paul McNamara's Erik who stole the show, storming on stage to blast the house with an intensity so vivid that the air seemed to crackle. This was a take-no-prisoners approach to a dangerous role, an astonishing airing of a Wagnerian voice that has youth and strength, its own distinctive timbre, and a formidable expressive range.
It is this kind of discovery that makes a trip to a small house especially rewarding, and it's a testimony to Neustrelitz's foresight that its cast can overshadow that of many major houses, at least in one role.
Nornen bestimmen den Ablauf der sogartigen Beziehung von Holländer und Senta. Arila Siegert inszeniert die schicksalbestimmte Entwicklung als Weg aus einer materiell beherrschten Realität in eine andere Welt.
Hans Dieter Schaals assoziationsreich-abstrakte Bühne verzichtet auf jedes überflüssige Detail, vermittelt Räume elementarer Empfindungen, lässt den Weg in die „Neue Welt“ am Schluss eindringlich deutlich werden: Senta führt den Holländer – so wie Eurydike den Orpheus hätte führen sollen!
Die Neubrandenburger Philharmonie interpretiert diese differenzierte Konzeption adäquat. Stefan Malzew dirigiert umsichtig mit viel Verständnis für die dramatischen Zwischentöne, lässt Raum für das Zusammenspiel der Instrumente und wahrt sensibel die Balance zur Bühne.
Michael Junge ist ein drängender Holländer mit eindrucksvoller Kraft und variablem Ausdruck. Peter Reich ist ein Kaufmann-Daland mit zurückhaltender Intonation. Larysa Molnárová gibt der Senta emotionale power, forciert allerdings in den erregten Höhen. Alexander Schulz überrascht als Steuermann mit sehr eigenem Timbre. Den verstörten Erik singt Paul McNamara mit kraftvoll-flexiblem (Helden-)Tenor, und Saskia Klumpp verleiht der Mary eindringliche Töne mit einem hörenswert ausdrucksstarken Mezzo! Herren- und Damenchor – verstärkt durch Extrachor und Coruso (Erster Freier Deutscher Opernchor) – agieren engagiert und singen mit beeindruckendem kollektiven Zusammenklang.
Dem Publikum ist die Freude über die bemerkenswerte Präsentation ihres Hauses anzumerken, die Atmosphäre ist entsprechend positiv geladen – wären da nur nicht die unkontrollierten Huster. Lebhafte Begeisterung nach dem letzten Vorhang! (frs)
... eine Inszenierung, die eine Fülle grandioser
Eindrücke bot, etwa ein kluges Bühnenbild, das mit Hilfe einer
ausgefeilten Lichttechnik Schiffe, Haus und Strand andeutete. Die
Hauptrollen waren glänzend besetzt, unter ihnen ragten Michael Junge als
Holländer und Larysa Molnárová heraus.
Ein Genuss: die musikalisch ungeheuer dynamischen Chorszenen waren
choreographisch geschickt integriert. Stefan Malzew vermied in seinem
Dirigat die Betonung des Monströsen und Furiosen.
Diese in ihren Ideen opulente, im Äußerlichen aber karge und düstere
Inszenierung bleibt nicht nur wegen der Ovationen des Publikums in
Erinnerung, sondern auch wegen der Tiefe der Konzeption, die den
Holländer als Prototypen des modernen Menschen versteht, der irrend und
ruhelos nach tieferem Verständnis sucht, letztlich aber scheitert.
Die Berliner Tänzerin Arila Siegert hat mit der Oper „Der fliegende Holländer“ am Samstagabend in Neustrelitz eine viel umjubelte Premiere gefeiert. Es war ihre erste Oper von Richard Wagner (1813 – 1883), die die 53-Jährige zusammen mit dem Bühnenbildner Hans Dieter Schaal und Kostümbildnerin Marie-Luise Strandt auf die Bühne brachte. Viel Beifall gab es außerdem für Michael Junge, der den Holländer sang, und den Iren Paul McNamara, der den Jäger Erik spielte – den Gegenspieler des „Holländers“ im Ringen um die Gunst einer Frau. Die Oper wurde 1843 in Dresden uraufgeführt und gilt als Durchbruch für den Komponisten Wagner.
Senta und der Holländer begeben sich Hand in Hand auf Wanderschaft - finden sie einen Platz in der Welt für ein gemeinsames Leben, oder werden sie miteinander untergehen? Diese Frage bleibt offen in der von Arila Siegert dramatisch und realistisch inszenierten Wagner-Oper „Der fliegende Holländer" am Neustrelitzer Landestheater. Das begeisterte Publikum spendet minutenlang Beifall und Bravorufe, und Neustrelitz ist wieder um ein attraktives Musiktheaterangebot reicher.
Vordergründig geht es der Regisseurin nicht um Erlösung und Seelenheil, nicht um rückwärts gewandte Romantik, sondern um ganz heutige Befindlichkeiten: Heimatlosigkeit, Vertreibung, Flüchtlingsdasein, die Hoffnung auf Besserung durch Miteinander und das trotzige Aufbegehren, es wenigstens versucht zu haben. Eine Szenerie, die den gesamten Bühnenraum beansprucht (Bühnenbild: Hans Dieter Schaal), suggeriert mit sparsamen Mitteln ein versteinertes Meer. Querlaufende Holzplanken stehen für das ewige Auf und Ab der Wellen, für Gefühlsbewegungen und unsicheren Untergrund und sorgen für beklemmende Stimmung.
Höhepunkte der spannenden Inszenierung sind die bewegenden Chorszenen, die die Mitglieder des Opernchores des Landestheaters, des Ersten Freien Deutschen Opernchores „Coruso" und des Extrachores hervorragend gestalten (Einstudierung: Gotthard Franke). Unter der Leitung von Stefan Malzew lotet die Neubrandenburger Philharmonie die musikalischen Stürme der Wagner-Musik aus, ohne die Singstimmen zu erschlagen. So erschließt sich dem Zuschauer auch die Ambivalenz der einzelnen Figuren, deren Darsteller überzeugende künstlerische Leistungen bieten, allen voran der Bariton Michael Junge als ruhelos umgetriebener Holländer.
Eine Senta, deren dörfliches Leben unerfüllt ist und die in der Erlösung des „bleichen Mannes" ihre Bestimmung erkennt, gestaltet die Sopranistin Larysa Molnárová. Wie Daland einerseits aus Geldgier, andererseits um Senta gut zu versorgen, seine Tochter einem Fremden zur Frau gibt, macht Bassist Peter Reich deutlich. Paul McNamara brilliert mit seinem Prachttenor als biederer Jägerbursche Erik, Gabriele Spiegl singt mit schönem Mezzosopran die nörgelige Amme Mary, und Erwähnung finden muss unbedingt Alexander Schulz, der als Steuermann zu gefallen weiß. Drei (von Arila Siegert erfundene) Nomen spinnen die Fäden des Schicksals, dem alle Figuren von Anfang an ausgeliefert sind.
NEUSTRELITZ
Wagner: Der fliegende Holländer
Man sieht es und staunt. Urd, Verdandi und Skuld, beharrlich und schweigsam am Seil der Welt webend. Nanu, denkt man, gehören nicht die drei Damen in ein anderes Stück des Mythen-Meisters?
So ist es, doch Arila Siegert, die beim «Fliegenden Holländer» am Landestheater Neustrelitz Regie führte (im dunklen, behutsam symbolhaften Bühnenbild von Hans Dieter Schaal), sieht in den Nornen eine wesentliche Metapher für die frühe Oper. Das Schicksalhafte der auftretenden Personen, nicht nur der Titelfigur, möchte sie damit zum Ausdruck bringen. Eine plausible Idee. Denn in der Tat sind, ausgenommen den kühl-berechnenden Geschäftsmann Daland (ein solider Bass: Peter Reich), sämtlich die Protagonisten mit dem seltsamen Lauf des (determinierten) Lebens verstrickt. Und so geschieht es auch in dieser handwerklich gekonnten Inszenierung: Das Ausweglose steht allen ins Gesicht geschrieben... Stefan Malzew dirigiert die Neubrandenburger Philharmonie und den eindrucksvoll agierenden Opernchor des Landestheaters mit Bravour und Stilsicherheit.
Eine ungewohnte, neue Sicht auf Richard Wagners populäre Oper bietet die Choreographin Arila Siegert in einer begeistert gefeierten Neuinszenierung in Neustrelitz. Aus der romantischen Ballade Wagners filtert sie ein abstraktes, bildmächtiges Drama - die Geschichte eines Ausgestoßenen, eine Flüchtlings, die auch heute noch aktuell erscheint.
Seile und Balken beherrschen die bis auf die Brandmauer aufgerissene Bühne. Im magischen Blau des Raumes leuchten goldgelb die Fenster eines winzigen Häuschens. Drei Nornen spinnen den Mythos fort: wie eine - durch ihre kleinbürgerliche Umgebung frustrierte - junge Frau im fremden Holländer die Möglichkeit erblickt, auszubrechen, und wie sie am Schluss nicht im Selbstmord endet, sondern mit ihm in eine ungewisse Zukunft fortzieht.
Dieses in sich stimmige Konzept vermittelt die Regisseurin in halb expressionistischen, halb symbolgeladenen Bildern und Bewegungs-Arrangements (Bühne: Hans Dieter Schaal). Am eindrucksvollsten in den Chorszenen: Die Spinnerinen hangeln sich an einem dicken Seil entlang, fesseln oder werden gefesselt, die Matrosen tanzen oder klettern in roten Nebelschwaden - wild bis zum Exzess.
Die Führung der Solisten ist klar und schnörkellos, verdeutlicht ganz direkt die jeweiligen Charaktere und ihre Beziehungen zueinander. Die musikalische Leitung (Stefan Malzew) und das gut disponierte Orchester unterstützen die Regie vorzüglich. Die Sänger überzeugen vorwiegend als Darsteller, Michael Junge als glatzköpfig-rauher Holländer, Larysa Molnarova als sanfte, aber willensstarke Senta - stimmlich haben sie jedoch mit einigen Problemen zu kämpfen.
Insgesamt eine effektvolle und kluge - ins Heute zielende - Deutung von Wagner hochromatischer Oper.