Bewege, ruft die innere Stimme der Choreografin, wenn sie ein Werk auf die Bühne zu werfen hat. Das ist gut. Allzu oft nämlich wird dort oben zu wenig bewegt. Allzu oft herrscht das starre Stehen Stimmkräftiger. Hier jedoch, in diesem Heidelberger „Idomeneo”, gibt es dieses Problem nicht. Im Gegenteil: Ruhig, möchte die innere Stimme des Zusehenden bisweilen rufen, ruhig und immer schön gelassen bleiben. Denn aus der Bewegung heraus konzipiert, kommt dieser Abend eben auch kaum aus derselben heraus. So manches Stühle-Schaukeln (Elektra) oder In-den-Seilen-Hängen (alle) wirkt dann doch etwas übertrieben, wenn nicht gar unspontan und artifiziell.
Aber ist das sehr schlimm? Nein! Eine Choreografin, die gewohnt ist, Tänzerkörper zu bewegen, denkt eben in allerlei Bewegung. Das ist schon okay. Und in Heidelberg gelingt Arila Siegert, die vom Tanz kommt, doch das Wichtigste: Sie bewegt Sänger, Objekte - und das Gemüt. Mit einem ästhetisch stark reduzierten Streifzug. Zeitlich zu verorten wäre der am ehesten im Heute, doch optische Reminiszenzen an Antike und Rokoko werden wie Blitzlichter eingestreut (Bühne Hans Dieter Schaal, Kostüme: Marie-Luise Strandt). Das ist ganz gewieft. Siegerts Absicht, das Drama aus der Musik zu entwickeln und deswegen auch den Orchestergraben mit einzubeziehen, ist interessant. Fragen darf man trotzdem, ob die Tatsache, dass sich dort Ilia mit einer Querflöte und Idamante mit einem Geigenbogen verlustiert, zweckdienlich ist oder wegführt vom Eigentlichen: dem Ernst der Lage.
Und der sieht so aus: Idomeneo, der, um sich selbst das Leben zu retten, Neptun das Versprechen gibt, den ersten Menschen an Land zu opfern, ist ein Feigling. Er setzt sich, aus Angst, die Ehre zu verlieren, nicht über das schwachsinnige Gelübde hinweg, obwohl dieser zu opfernde Mensch später sein Sohn Idamante ist. So grausam. So Mozart. Allein Ilia rettet die Sache. Ihre nicht zu bändigende Liebe zu Idamante lässt Neptun einsehen: Das Ganze ist doch ziemlich idiotisch. So kommt diese erste von Mozarts Meisteropern, übrigens im Auftrag von Carl Theodor für München komponiert, zu ihrem Opera-seria-Happy-End.
Für ein Happy End des Klangs sorgen in Heidelberg hingegen die Angestellten des Hauses. Mehr als durch Cornelius Meister an diesem Abend, ist aus dem Heidelberger Chor und Orchester kaum herauszuholen. So dezent, so zielgerichtet und sensibel würde man sich manches Mozartdirigat wünschen, und Meister beweist: Der Musizierstil ist nur das Schiff, mit dem man schippert. Entscheidend indes ist der Hafen, in den man will.
Gesungen wird ebenfalls hervorragend, wobei man bei Winfrid Mikus' Idomeneo doch geneigt ist, lediglich die darstellerischen Fähigkeiten zu loben. Bei Silke Schwarz ist das anders. Dort ist nur Positives zu hören und sehen. Mit einem dunkelrubinroten Timbre und sehr kultivierter Phrasierung begeistert, nein, betört sie das Ohr gleich zu Beginn mit ihrem "Padre! Germani!". Patriotisch. Bewegt. Erotisch. Jana Kurucová steigert ihren Idamante im Lauf des Abends zu einer männlichen Figur, der man alle innere Zerrissenheit zwischen Folgsamkeit und Liebespassion abnimmt. Ihr Ton wird fein artikuliert und gewinnt trotzdem maskulinen Charakter. Auch Maraile Lichdi hat einen großen Abend. Ihre Elektra ist so fordernd und leidend wie zerbrochen. Dass sie am Ende nicht abgeht - eine Änderung der Regie -, ist da nur logisch. Da sie liebend fühlt, hat sie auch Einsehen und schmückt die Braut. Der junge Ensembleneuling Emilio Pons (Arbace) ist eine tenorstrahlende Entdeckung und rundet den gefeierten, bewegenden Abend ab.
Die Neuinszenierung von Mozarts „Idomeneo” am Heidelberger Theater beginnt wie eine konzertant-halbszenische Opernaufführung: Auf der Bühne ist fast nichts zu erkennen und eine Sängerin enthüllt ihr Abendkleid - im hochgefahrenen Orchestergraben. Die Trojanerin Ilia, griechische Gefangene und Liebende im Widerstreit ihrer Gefühle, wandert zwischen den Instrumentalisten umher, lehnt ihren Kopf an die Schulter des Dirigenten, will ihrem Leben ein Ende setzen - und greift zum Geigenbogen des Konzertmeisters! Ihr Angebeteter, der Grieche Idamante, kommt, singt ebenfalls eine Arie - und greift dabei zur Flöte, um sich zum Beweis seiner Liebe die Brust zu öffnen. Noch bevor der Vorhang richtig geöffnet ist, weiß man: Diese Oper spielt eigentlich im Orchester, und das Singen geschieht auf einem Körperinstrument, das gespielt wird auf der Tastatur der Gefühle.
Das ist bei „Idomeneo” einleuchtend. Denn eigentlich handelt es sich bei diesem Werk ja, genau betrachtet, um eine „Mannheimer" Oper, auch wenn sie hier nicht uraufgeführt worden ist. Der lange gehegte Wunsch Mozarts, für die hiesige „Capelle" eine Oper zu schreiben, erfüllte sich bekanntermaßen erst einige Jahre nach seinem Mannheimer Aufenthalt von 1777/78 - in München, wohin der kurpfälzische Kurfürst hatte übersiedeln müssen. Und mit ihm war das ganze Theater nach Bayern gewechselt, inklusive der Musiker und Sänger. Der "Mannheimer Stil" ist also prägend für diese Oper des 25-Jährigen, und der neue Geschmack war vor allem ein revolutionärer Orchesterstil. Hier wurden Verzweiflung und Trauer eben nicht allein mit der menschlichen Stimme, sondern auch mit Geigenbogen und Flöte ausgedrückt.
Da setzt die Choreografin und Regisseurin Arila Siegert ihre Inszenierung an und öffnet sie erst allmählich in den Raum. Dabei spielen Körperlichkeit (Solisten) und Bewegung (Chor) eine entscheidende Rolle. Die weitgehend offene Bühne von Hans Dieter Schaal - er schuf u. a. das Bühnenbild zum letzten Mannheimer „Ring" - gibt dieser Konzeption nicht nur ein passendes Ambiente (im Lichtdesign von Andreas Rinkes). Mit einfachen Mitteln führt er die Bewegungen bildkräftig weiter, etwa mit dem an Seilen befestigten, hin und her schaukelnden Kahn, der Idamante zu Beginn des dritten Akts zur Flucht verhelfen soll. Ein Meeresungeheuer vereitelt diesen Plan - der klanglich wie darstellerisch souverän geführte Chor (Einstudierung Jan Schweiger) übernimmt auch hier die szenische Umsetzung.
Die Inszenierung ist sehenswert, denn sie zeigt in immer wieder berückenden Bildern ein Stück, das bis heute leider nicht zu den Publikumslieblingen zählt, obwohl es wie kein anderes aus Mozarts Feder das Seelenleben des Komponisten selbst offenbart. Kein anderes ist so sehr autobiographisch motiviert: Das Gefühl der Selbstverantwortung für den Tod der Mutter im fernen Paris und die dadurch sich noch verschärfende, lebenslange Auseinandersetzung mit dem Vater haben sich deutlich in die Partitur hineingeschrieben. Da das Stück selbst als Folge seiner Entstehung und vielfacher Umarbeitungen eher disparate Züge trägt, erstellte der Opernleiter des Heidelberger Theaters, Bernd Feuchtner, eigens eine leicht gekürzte, dramaturgisch stringente Fassung. Sie nimmt dem Werk kaum etwas, verschärft aber die in ihm thematisierten Seelenkonflikte.
Besonders die Titelrolle scheint dadurch zu gewinnen: Winfrid Mikus gestaltet den Kriegsheimkehrer Idomeneo sängerisch mit Würde und in der Darstellung packend. Mozart schrieb die Rolle für den berühmten, damals bereits 67-jährigen Anton Raaff und mutete ihm allerhand Verzierungen zu. Eine gewisse Brüchigkeit der Stimme dürfte durchaus gewollt sein: Mikus münzt die Schwierigkeiten der Rolle in emotionale Momente um und kreiert so ein beachtenswertes Rollenporträt. Jana Kurucová (Idamante) und Silke Schwarz (Ilia) sind ein fantastisches Paar, das für seine Liebe gemeinsam durch dick und dünn geht. Koloraturensicher und stimmlich von edler Klarheit so wie mit reicher Farbpalette singt die Kuruková, mit lyrischem Schmelz und etwas weniger Schattierungen Silke Schwarz: ein Dreamteam des Gesangs. Maraile Lichdis Elektra ist lupenrein mit auftrumpfender dramatischer Spitze. Zu Beginn mit wenig Kern, im dritten Akt überzeugender stellt sich der Neuzugang im Heidelberger Ensemble, der mexikanische Tenor Emilio Pons, in der Rolle des Arbace vor.
Die musikalische Leitung lag in Händen von GMD Cornelius Meister, der das Orchester so reduzierte, dass es auf die Hebebühne des Orchestergrabens passt. Der Klang gewann dadurch vor allem in der oberen Position an Transparenz, schien aber im Bassfundament erheblich zu verlieren. Vielleicht war dies die Ursache mancher Missverständnisse unter den Streichern, die bei der Premiere schon in der Ouvertüre zu Konfusionen führten. Meister dirigierte insgesamt einen temporeichen, impulsiven und vielfarbigen Mozart. Die Aufstellung des Rezitativ-Cembalos am linken Bühnenrand birgt allerdings viel Risiko, da die Cembalistin Annemarie Herfurth mit dem Rücken zur Bühne kaum Sichtkontakt mit den Sängern hat. Auch die Koordination mit dem Continuo-Cello hält so einige Tücken bereit. Dennoch: ein lohnender Abend.
Ballettchoreografen werden für Operninszenierungen gerne verpflichtet. Um einer großen Opera seria wie Mozarts „Idomeneo“ aus szenischer Steifheit zu verhelfen, war es denn auch gut, dass man für die Inszenierung am Stadttheater Heidelberg die Choreografin Arila Siegert beauftragt hat. Getanzt wird zwar nicht, aber es kommt viel Bewegung in die Aufführung. Von starken inneren Gefühlen, aber auch von Göttern und Furien getrieben werden die Protagonisten, und solch Getriebenwerden ist hier sehr bewegt dargestellt. Starke Gefühle hat die gefangene Prinzessin Ilia zum feindlichen Herrschersohn Idamante von Anfang an – und weil diese Gefühle so schön musikalisiert sind, darf Ilia zu ihrer Auftrittsarie durch den hochgefahrenen Orchestergraben wandern und sich in der Verzweiflung einen Violinbogen an die Kehle setzen.
Eine Art Schiffsdeck hat Bühnenbildner Hans Dieter Schaal als Einheitsbühne eingerichtet, mit etlichen nach oben gespannten Seilen. Auf einer schwingenden Schiffschaukel geht es gleichfalls durchs Meer, wozu der Chor mit bewegtem Armeschwingen das Toben der stürmenden See imaginiert. Zu seiner mörderischen Koloraturarie „Fuor del mar“ wird Idomeneo von Visionen heimgesucht. Winfrid Mikus verleiht den rollenden Koloraturen der der Titelfigur eine fast parodistische Lässigkeit. Und weil Idomeneo mehr mit seinem widerstreitenden Zwist zwischen Staatsraison und Vaterliebe ist, übernimmt der smarte Arbace (Emilio Pons) in seiner Arie die Amtsgeschäfte, unterschreibt Anträge aktentaschentragender Bittsteller.
Marie-Luise Strandt hat die Bühnenfiguren in die Kleider der Gegenwart gesteckt, und weil die antiken Problemstellungen heute genauso aktuell sind wie zur Mozartzeit, legt sich das junge Liebespaar zu seinem Duett im dritten Akt Mozartperücken und Frack an. Mit solch ironischen Aperçus weiß die Regisseurin geschmackvoll umzugehen. Sehr viel Drive und Dynamik bringt Generalmusikdirektor Cornelius Meister mit den Heidelberger Philharmonikern in die Aufführung. Sängerisch herausragend ist die Ilia der mit schmiegsam leuchtender Farbe singenden Silke Schwarz sowie die mit virtuoser Bravour gestaltende Mezzosopranistin Jana Kurucová als Idamante.
…Der Stil der italienischen Opera seria war gewünscht. Dieser Umstand machte ihr das weitere Bühnenleben schwer. Denn tatsächlich zählt sie zum Besten, was Wolfgang Amadeus Mozart geschrieben hat. Lässt sie doch das Kommende ahnen und zeigt bereits die Möglichkeiten auf, die dem 25-Jährigen zu Gebote standen, die eignen zeitgenössischen Kompositionsregeln zu sprengen und dennoch deren Boden nie zu verlassen. Mozart gab seinen Protagonisten auch ein musikalisches Eigenleben.
Regisseurin Arila Siegert hat diese Musik zum Ausgang ihrer Regie gemacht. Also sind die Charaktere zur Einsicht fähig, denken über ihr Handeln nach und vermeiden so die archaisch-biblische Katastrophe des Sohnesmordes. Wenn im Libretto die Problemlösung von außen durch einen Deus ex machina kommt, lässt die Regisseurin Idomeneo die Übergabe der Königswürde an den Sohn Idamantes und damit das Ende des Zorns der Götter selbst ankündigen. Diese Szene gehört zu den vielen starken Eindrücken, die Winfrid Mikus in dieser Rolle hinterlässt, dem ansonsten die „geschnittenen Nudeln“, wie Mozart Koloraturen im Übermaß nannte, nicht besonders lagen.
Hans Dieter Schaal hat die Szenerie dem kleinen Bühnenraum exakt eingepasst. Die Seiten markieren starke Taue, die nackten Bühnenwände sind meist zu sehen. Mal hebt sich eine Bodenplatte, mal schwebt ein Schiff. Darauf bewegt sich auch Arbace, den Emilio Pons als Manager der Königsmacht mit tenoralem Schmelz bedient. Und darauf bewegt sich ein grandioser Chor und Extrachor (Jan Schweiger), dem Sturmszenen genauso liegen wie das Lyrische…
Um einer großen Opera seria wie Mozarts „Idomeneo“ aus szenischer Steifheit zu verhelfen, war es gut, dass man für deren Neuinszenierung am Theater der Stadt Heidelberg die Choreographin Arila Siegert beauftragt hat. Getanzt wird zwar nicht, aber es kam viel Bewegung in die Aufführung. Von starken inneren Gefühlen, aber auch von Göttern und Furien getrieben werden die Protagonisten, und solch Getriebenwerden ist hier sehr bewegt dargestellt. Starke Gefühle hat die gefangene Prinzessin Ilia zum feindlichen Herrschersohn Idamante von Anfang an – und weil diese Gefühle so schön musikalisiert sind, darf Ilia zu ihrer Auftrittsarie durch den hochgefahrenen Orchestergraben wandern und sich in der Verzweiflung einen Violinbogen an die Kehle setzen.
Eine Art Schiffsdeck hat Bühnenbildner Hans Dieter Schaal als Einheitsbühne eingerichtet, mit etlichen nach oben gespannten Seilen. Auf einer schwingenden Schiffsschaukel geht es gleichfalls durchs Meer, wozu der Chor mit bewegtem Armeschwingen das Toben der stürmenden See imaginiert. Zu seiner mörderischen Koloraturarie „Fuor del mar“ wird Idomeneo von Visionen heimgesucht, wozu der Bewegungschor geisterhaft die Admiralsuniform des Herrschers aufmarschieren lässt. Marie-Luise Strandt hat die Bühnenfiguren in die Kleider von heute gesteckt. Und weil die antiken Problemstellungen heute genauso aktuell sind wie zur Mozart-Zeit, legt sich das junge Paar zu seinem Liebesduett im dritten Akt Mozart-Perücken und Frack an. Mit ironischen Aperçus weiß die Regisseurin geschmackvoll umzugehen. Am Ende gab es begeisterten Beifall für alle Beteiligten.
Mozarts „Idomeneo" hat Konjunktur: Innerhalb von noch nicht einmal einer Woche zeigten die Theater in Heidelberg und Stuttgart neue Deutungen der Oper. Trotz ganz unterschiedlicher Voraussetzungen - hier das kleine Stadttheater, dort die große Staatsoper - kommen beide Produktionen zu ähnlichen szenischen Ergebnissen und bewegen sich auf einem vergleichbaren musikalischen wie stimmlichen Niveau.
An das Happyend, jenes „lieto fine", glaubt doch kein Mensch mehr. Nach all dem, was die Figuren dieses Stückes vorher durchmachen mussten, nach diesen emotionalen Stahlbädern, die sie durchlaufen haben. Vielleicht liegt es ja daran, dass in Heidelberg wie Stuttgart Frauen inszenieren - hier Arila Siegert, dort Waltraud Lehner. Der weibliche Blick auf Männer, die sich sinnlosem Kriegsgemetzel hingeben, war schon immer ein besonders erhellender und entlarvender. Den Titelhelden zeigen beide Produktionen als herunter gekommenen, fast schon abgewrackten Kriegsveteranen, der sein ganz persönliches Vietnam-Trauma in der Schlacht um Troja mitbekommen hat. In die Gesellschaft integrierbar ist dieser Idomeneo, der sich in Heidelberg, auf dem Tisch stehend, mit Whisky übergießt und in Stuttgart wie ein krankes Tier auf dem Boden kauert und ständig neue Tabletten nachwerfen muss, um sich ruhigzustellen, nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Er wird zur tickenden Zeitbombe.
Dies vor allem in Stuttgart. Idomeneo - von Matthias Klink mit strahlend höhensicherer, vor Brillanz schimmernder Stimme gesungen und eindrucksvoll gespielt - entgleitet das Geschehen immer mehr. Er, der mit seinem unseligen Versprechen, den ersten Menschen, dem er nach seiner Errettung begegnet, zu opfern, das ganze Geschehen in Gang gesetzt hat, verstrickt sich immer mehr in seiner Schuld. Einen Ausweg kann er auch dann nicht mehr erkennen, als die göttliche Stimme ihm einen solchen aufzeigt. Er kollabiert unter dem Druck - und wird zum Amokläufer. Bis auf Elekra tötet er alle Protagonisten der Oper.
So weit geht Arila Siegerts Deutung in Heidelberg nicht. Sie zeigt uns eher einen musikdramatischen Entwicklungsroman, an dessen Ende ein geläuterter, gereinigter Idomeneo steht: Idomeneo (in seiner Darstellung des gebrochenen Helden überzeugend, aber stimmlich überfordert: Winfried Mikus) selbst singt den Part der göttlichen Stimme. Und tritt ab - das Alter weicht für die Jugend, und entsprechend unbeschwert geht es denn auch im Finale zu.
Die Gründe für diese „Idomeneo"-Renaissance in dieser Spielzeit - auch der Uraufführungsort München zeigt noch einen - sind in der Partitur zu suchen. Selten hat Mozart eine packendere, farbenreichere, stürmischere Musik geschrieben. Kein Wunder, dass in Stuttgart wie Heidelberg die Chefs persönlich am Pult standen. Der Stuttgarter Generalmusikdirektor Manfred Honeck wählt dabei eine zupackende, forsche Gangart und segelt mit seinem Orchester durch einen wahren Ozean der menschlichen Leidenschaften. Nie aber sind dies die stereotypen Affekte der Barockoper, vielmehr herrschen hier echte Gefühle: Liebe, Hass, Verzweiflung - wie dann später auch in den reifen Da-Ponte-Opern Mozarts. Historisch informiert agieren beide Orchester, auch Cornelius Meister weiß in Heidelberg, was er Mozart in Sachen Phrasierung und Akzentuierung schuldig ist. Allerdings setzt er mehr als sein Stuttgarter Kollege auf die Lyrismen der Partitur, hält seine Musiker selbst bei den Elektra-Auftritten mehr zurück.
In Heidelberg unterstreicht schon der Beginn der Inszenierung, wo die Präferenzen der Produktion liegen: mehr bei der musikalischen und stimmlichen als bei der szenischen Umsetzung. Silke Schwarz als Ilia singt ihren ersten Auftritt mit sinnlicher, warmer Stimme im Graben, den Dirigenten und mit ihm das ganze Publikum umgarnend. Auch die beiden anderen Frauenstimmen singen in Heidelberg auf einem beachtlichen Niveau: Jana Kurocová als Idamante und Maraile Lichdi als Elektra. Die wird in Stuttgart von Simone Schneider mit impulsiver Energie gestaltet, während Tajana Raj und Sunhae Im in den Rollen des Idamante und der Ilia überzeugen. Gerade der Vergleich mit dem viel größeren Haus in Stuttgart jedoch macht deutlich, auf welch hohem Niveau sich der Mozartzyklus von Cornelius Meister bewegt.
Ein paar schöne Aktualisierungsvorlagen für eine zeitgemäße Regie gibt es in Mozarts „Idomeneo“ ja doch. Und dass sie einem in den Sinn kommen, zeigt zumindest, dass die Inszenierung der Choreografin Arila Siegert die Einbildungskraft beflügelt, anstatt sie mit einer eins-zu-eins-Transposition einzuengen. Zum Beispiel Idomeneos Umgang mit seinem Versprechen bzw. Ehrenwort, Neptun zum Dank für seine Rettung den ersten Menschen zu opfern, der ihm begegnet. Der ist bekanntlich sein Sohn Idamante, und in der Heidelberger Fassung singt Idomeneo selbst die Worte des begnadigenden Deus ex machina und setzt sich an die Stelle der Gottheit bzw. des Rechts. Und wir denken an Helmut Kohl, Uwe Barschel oder Andrea Ypsilanti, denn schließlich ist Idomeneo König, also Politiker... Im Orchestergraben haben Cornelius Meister und die Philharmoniker ihren Mozart noch verfeinert - auch wenn es bei der Premiere Unebenheiten im Zusammenspiel durchaus gab. Schlank ist er, nah bei der Szene und sängerfreundlich.
...Vor allem: Heidelberg hat mit Cornelius Meister einen GMD, der selber erst 28 Jahre alt ist, aber längst schon auf dem Weg zu einer ganz großen Karriere. Die Heidelberger wissen: es ist ein Glücksfall, dass Meister bei ihnen einen Fünfjahres-Vertrag unterschrieben hat. Natürlich hat das Heidelberger Orchester technische Grenzen, aber Cornelius Meisters emotionsgesättigter Zugriff auf die „Idomeneo“-Ouvertüre kann sich nun wirklich hören lassen. Dieser „Idomeneo“ ist Teil eines Mozart-Zyklus, der in Heidelberg gerade erarbeitet wird. Und diesmal war für die Inszenierung eine Choreografin verpflichtet worden, Arila Siegert, der man ihre Herkunft aus der Sparte Ballett durchaus anmerkte, vor allem an der Art und Weise, wie sie den viel beschäftigten Chor führte.
Da gab es zum Beispiel eine Szene, in der die Choristen Matrosen-Uniformen vor sich her trugen und mit diesen leeren Uniformen ein ausgesprochen hübsches Ballett aufführten. Im Übrigen legte es Arila Siegert zu Recht darauf an, der Musik möglichst große Freiräume zu verschaffen. Die erste Szene zeigt eine leere Bühne. Die Bühnenbilder von Hans Dieter Schaal waren den ganzen Abend über äußerst zurückhaltend. Einziges Möbel war das Continuo-Cembalo, das normalerweise ja im Orchestergraben postiert ist nebst der dazu gehörigen Spielerin. Aus dem Orchestergraben statt von der Bühne beklagt dafür Ilia ihr schlimmes Los als Sklavin. Eine charmante Umkehrung der üblichen Verhältnisse und zudem eine optische Verdeutlichung der Vorrangstellung der Musik...
Geld, um sich Sänger zu kaufen, gibt es in Heidelberg zwar nicht, aber dafür gibt es im Ensemble eine ganze Reihe von bemerkenswerten Stimmen. Maraile Lichdi war eine Elektra mit äußerst präzis geführtem Sopran und darstellerisch mit beträchtlichem Furien-Potenzial. Jana Kuruzová sang einen makellosen Idamante. Die wohl schönste Stimme dieses Premierenabends aber gehörte Silke Schwarz als Ilia. Da war das Zuhören ein ganz ungetrübtes Vergnügen, sicher auch, weil Frau Schwarz vom Orchester mit so viel Delikatesse und Klanggespür begleitet wurde...
...Am Theater Heidelberg lässt die Regisseurin Arila Siegert den von widersprüchlichen Emotionen zerrissenen Heimkehrer während seiner großen Arie zur Schnapsflasche greifen, um sich Mut anzutrinken... Dass Siegert mit dem Stück nichts anzufangen weiß, demonstriert nicht zuletzt die absurde Schlussvolte, das Opferritual, in dem die aufklärerisch-dialektischen Energien des Werks kulminieren, bis zur Unkenntlichkeit zusammenzustreichen. In gut protestantischer Weise [?] wird der Orakelspruch zur inneren Stimme verharmlost. Dass das Drama trotzdem stattfand, dafür sorgte der Generalmusikdirektor Cornelius Meister, der sein Orchester zu Höchstleistungen anspornte. Das allein ist die Reise nach Heidelberg wert.... So erstand Mozarts experimentellste Opernpartitur in all ihren Facetten vor dem Ohr der Zuhörer - die machtvolle Feierlichkeit der Ouvertüre, die fast schon impressionistisch getönte Empfindsamkeit Ilias etwa in ihrer Zephyretten-Arie oder die expressive Wucht der großen Chorszenen...
...Was auf der von Hans Dieter Schaal gestalteten Bühne und im hochgefahrenen Orchestergraben geschieht, ist ebenso eindringlich wie vom Konzept her ungewöhnlich und bedarf für Opernbesucher, die mit tänzerischem Vokabular und Bewegungschor nicht viel anzufangen wissen, durchaus gewisser Gewöhnung: Die Protagonisten lassen in der von Bernd Feuchtner gestrafften und auf den Kern zielenden Fassung auf Schritt und Tritt, in Köperhaltung und Gestik die eigenwillige Handschrift der vom Ausdruckstanz herkommenden Regisseurin erkennen. Sie arbeitet mit diesen Elementen heraus, was die Menschen antreibt und bewegt. Der egoistisch handelnde Kreterkönig wird am Ende bitter bereuen, durch Selbstüberwindung auf den Thron verzichten und Idamante, seinen Sohn (und Nebenbuhler um die Gunst Ilias), zum neuen Herrscher über Kreta einsetzen. Das alles ist schlüssig und konsequent durchgeführt...
Ich würde sagen, er ist bewegt. Spezifische Kunstbewegungen wird es aber nicht geben.
Nein, aber die Arbeit am Körper ist ein wesentliches Element. Gerade im „Idomeneo”, bei dem Mozart ein immenses Spektrum an seelischen Zuständen komponiert hat. Das muss von den Sängern körperlich ausgedrückt werden.
Die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist ein zentraler Aspekt der Oper. Wir haben den sehr eigenwillig umgesetzt. Idomeneo selbst wird das "La voce" singen, also die Stimme Neptuns, die ihm befiehlt, seinen Sohn nicht zu opfern und als Herrscher abzutreten. Wir behaupten, dass die Möglichkeit zur Veränderung im Menschen selbst liegt.
Das ist sie ganz und gar. Idomeneo macht eine Entwicklung durch. Die Liebe der Ilia, die sich selbst anstelle des Königssohnes zum Opfer bietet, bewirkt eine Veränderung in ihm und verhindert, dass er seinen Sohn tötet.
Im Chor wird der gesellschaftliche Bezug der Oper deutlich. Uns interessiert, wie die Menschen reagieren, wenn Machthaber wie Idomeneo Fehler machen.
Nein, der Fehler liegt in dem Umgang mit dem Versprechen: Idomeneo glaubt, um sein Gesicht als Herrscher zu wahren, dürfe er nicht mehr abweichen von dem, was er Neptun versprochen hat. Er geht aus Angst vor Ehrverlust über sein eigenes Vatergefühl hinweg. Das ist aktuell.
Die Ilia ist als Gegenstück zu Idomeneo angelegt. Sie ist eine Figur der Gewaltlosigkeit, die keine Macht am Kretischen Hof hat. Doch am Ende ermöglicht ihr selbstloses Verhalten den befreienden Wortbruch. Insofern ist der Gedanke der Gewaltlosigkeit als größte Kraft, der gerade bei den Tibetern wieder eine so große Rolle spielt, unglaublich heutig.
Es wird keine platte Aktualisierung geben. Es geht um das Drama, entwickelt aus der Musik. Die Erzählweise ist dabei sehr reduziert.
Nein, das ist in diesem kleinen Theater nicht möglich. Hans Dieter Schaal hat einen Raum geschaffen, der quasi in der Luft hängt. Eine Art Schiff, das den schwankenden Grund darstellt, auf dem wir uns bewegen und der sich ständig verändert. In der szenischen Entwicklung werden sich die Antike, wie auch die Mozart-Zeit und das Heute widerspiegeln und verdeutlichen, dass in jedem Jahrhundert die Menschen mit den gleichen Fragen konfrontiert waren, nur eben in anderem Gewand.