Reinhold Lindner in
Freie Presse, Chemnitz, 11.03.2013
MDR: „Eugen Onegin“, Tschaikowskys Oper nach Puschkins Romangedicht… – ein schöner Opernstoff, den Tschaikowsky in wunderbare Musik gesetzt hat. In Freiberg wurde das Ganze nun auf die Bühne gebracht von Arila Siegert. Und für uns dabei war Boris Michael Gruhl, den ich jetzt begrüße. Herr Gruhl, Arila Siegert war früher mal Tänzerin, bevor sie ins Regiefach wechselte. Ist das nun eine besonders körperbetonte Inszenierung geworden?
GRUHL: Ja, das muss man sagen. Dass Arila Siegert choreografisches Können und dazu einen sehr individuellen Blick auf das Werk zusammenbringt, das bekommt dieser Inszenierung in Freiberg ausgesprochen gut. Und ich finde mehr noch, denn sie hat die Ironie des Vers-Romans von Puschkin im Blick und die autobiografischen Assoziationen der Lyrischen Szenen von Tschaikowsky, wie die Oper ja im Untertitel heißt. Und ich meine, ihre Aussage lässt sich so deuten, dass das Leben eben keine Abfolge lyrischer Szenen ist.
MDR: Freiberg ist ja nun eine entzückende kleine Bühne, so eine Art Semperoper im Kleinen wird sie gerne genannt. Aber im Vergleich zu anderen ist sie dann doch Minitaturformat. Wie war da die optische Wirkung mit der Ausstattung von Moritz Nitsche?
GRUHL: Mit der ersten Szene wird gleich der Grundton der Inszenierung angeschlagen. Das heißt: weniger ist mehr, klare Bilder, manchmal Symbolik, aber ein immer nachvollziehbarer Ablauf des Geschehens. Da sehen wir durch einen Vorhang die Mutter, die Kinderfrau, die Töchter. Der Raum ist sehr eng. Man hat sich eingerichtet. Die Abläufe wiederholen sich. Die Jungen übernehmen, was die Alten machen. Das ist eindrücklich. Alle spüren die Enge. Alle wollen da raus. Aber wie? Und Moritz Nitsche hat die kleine Bühne eigentlich nochmal verkleinert. Er hat da einen weißen Kasten reingebaut. Das ist wie ein Überlebenskasten. Der fährt auch mal in die Höhe. Aber dann bleibt er beängstigend sichtbar, selbst wenn auf der Seite, auf der Nebenbühne ein Fest stattfindet. Und manchmal wird er sogar zum Tunnel. Aber es weiß kein Mensch, ob da am Ende wirklich das berühmte Licht scheint. Und wenn dann diese weißen Wände einmal ganz verschwinden, ich glaube dann ist es noch schlimmer. Dann ist die Bühne ein großes schwarzes Loch. Und da inszeniert Arila Siegert mit großer Genauigkeit diesen Abschied des Dichters Lenski vor diesem dummen Duell mit Onegin. Und diese Einsamkeit, die da von der Bühne kommt, tut richtig weh.
MDR: Und für Tatjana und Onegin geht’s ja weiter nach diesem tragischen Tod Lenskis. Die begegnen sich dann später auf einem Ball in der Hauptstadt wieder. Da ist ja die Szene doch etwas größer. Jetzt ist sie die Fürstin Gremina, und Onegin möchte jetzt gut machen, was er da einst versäumt hat.
GRUHL: Ja, Sie hatten ja zu Beginn diesen Brief erwähnt, diese berühmte Szene, dieser Höhepunkt des Werkes. Und die Motive kommen ja in dieser Szene gegen Ende wieder. Also wenn zunächst Tatjana diesen Brief schreibt, dann erscheint in einer Projektion die Schrift an der Wand. Das ist ein altes Zeichen, ein Symbol: die Schrift an der Wand verheißt nichts Gutes. Und im letzten Akt antwortet Onegin, er schreibt ja auch. Und jetzt hat er alle Ironie abgelegt, er ist ohne Herablassung. Erstmals schreibt dieser Mann mit Herzblut. Und seine Schrift jetzt in Rot – das ist ein tolles Bild – fließt zwischen die Zeilen des Briefes von Tatjana. Aber es ist zu spät. Natürlich haben beide die Liebe zueinander erkannt. Es zieht sie zusammen, aber sie müssen sich voneinander losreißen. Und da ist am Ende noch mal ein sehr starkes Bild gelungen.
MDR: Also mit Ideen inszeniert in Freiberg. Am Pult stand Ido Arad. Wie fällt denn die musikalische Seite der Aufführung aus?
GRUHL: Also zunächst möchte ich sagen: die Bildhaftigkeit der Szenen entwickelt sich aus der Musik. Das ist toll. Beim Chor, verstärkt durch den Extra-Chor, beim Orchester, beim Dirigenten – man spürt wirklich großes Engagement, aber es bleiben ein paar Wünsche offen. Das betrifft so die Genauigkeit der Einsätze, das Zusammenspiel, die Dynamik, die Klangfarben – da droht doch manchmal das Bild auf der Bühne den Klang zu dominieren.
MDR: Die Solisten, Guido Kunze in der Titelpartie des Onegin, Lilia Milek als Tatjana – wie haben die sich gemacht?
GRUHL: Also da gibt’s wirklich viel Gutes zu berichten. Voran der Guido Kunze, der hat einen gut geführten Bariton, überzeugt durch sein Spiel. Lilia Milek – da könnten vielleicht noch ein paar mehr lyrische Töne sein. Aber insgesamt ist das ein ungemein starkes Rollenportrait, das sie da gibt. Und sie wird vom Premieren-Publikum gefeiert. Das gilt auch für Annette Pfeifer als Olga. Und Christoph Schröter, ein junger Tenor, gibt einen wirklich zart besaiteten Lenski.
MDR: Also ein kleines Theater wie Freiberg kann mithalten aus Ihrer Sicht mit den ganz großen?
GRUHL: Naja, man muss sehen, dieses Theater hat seine Grenzen. Diese Grenzen werden ausgelotet. Und angesichts der Möglichkeiten muss man nicht nur den Mut bewundern, sondern einfach sehen: so ein Ergebnis kann sich wirklich sehen und hören lassen. Vor allem, weil man sich ästhetisch auf einen Weg begibt, der zum einen das Publikum nicht verprellt, zum anderen einlädt, sich auf andere Sehgewohnheiten einzulassen.
MDR: Also eine sehr sehenswerte Inszenierung in Freiberg…
Mit begeistertem Applaus feierte das Freiberger Publikum die jüngste Opernpremiere der Mittelsächsischen Theater. Arila Siegert inszenierte „Eugen Onegin“ von Peter Tschaikowsky. Die Aufführung besticht durch klare Bilder und ästhetische Ausstrahlung. Moritz Nitsche hat einen genau abgegrenzten, hellen Raum in die dunkle Bühne gesetzt. Auch wenn der nach oben fährt und den Blick in die Tiefe ermöglicht, bleibt er als Begrenzung präsent. Nur in den Träumen öffnet er sich, zeigt Licht am Ende des Tunnels, eine in die Weite weisende Perspektive.
Die Inszenierung trägt klar die Handschrift der vom Tanz geprägten Regisseurin. Allerdings verzichtet sie konsequent auf Mehrdeutigkeit und Symbolismen. Russische Folklore findet sich fast ausschließlich in Chorauftritten. Deren Beziehung zur Geschichte von Onegin und Tatjana wird nicht gezeigt. Siegerts Lesart ist nicht stringent auf ein Ziel deutend. Sie beschreibt Sehnsüchte und Melancholie, spürt den großen Gefühlen nach und gibt ihnen Raum. Einzig Gremins große Arie wendet sich ans Publikum. Saallicht an – ihr seid gemeint: Die Liebe ist eine Macht, der jeder erliegt. Tatjanas Entscheidung für diesen Mann, für ihre Ehe und gegen die Liebe, die mit aller Macht wieder aufbricht, wenn Onegin zurückkehrt, ist folgerichtig. Siegerts Inszenierung lässt es zu, in Handlungen auch widersprüchlichere Motive hineinzulesen. Sie lotet sie aber nicht aus und führt sie nicht vor. Damit bekommen Musik und Gesang breiten Raum.
Dirigent Ido Arad führt die Solisten, Chor, Extrachor und Mittelsächsische Philharmonie zu einer soliden Leistung an der oberen Leistungsgrenze, die so manches Mal hörbar wurde. Signifikant dafür ist Ingo Watzke als Gremin, der mit Erscheinung und profundem Bassregister fesselte und dennoch in der Höhe und im Bogen seiner großen Arie manches schuldig blieb. Mit Christoph Schröter als Lenski wurde ein junger Tenor verpflichtet, der rückhaltlos agiert und so anrührend natürlich wirkt. Annette Pfeifer als Olga kann jung und naiv spielen, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Tatjana, die heimliche Hauptrolle des Stücks, wird von Lilia Milek in einem großen, mitreißenden Bogen verkörpert. Die sängerischen Herausforderungen bewältigt sie achtunggebietend und mit einer spürbaren Steigerung hin zum finalen Gefühlsausbruch. Guido Kunze entfaltet in der Titelrolle ein großes Spektrum an Emotionen, denen er auch stimmlich überzeugend Ausdruck verleiht. Dabei könnte er Kälte, Überheblichkeit, Verzweiflung, Begehren weiter ins Extreme treiben und so seine Figur noch spannender gestalten.
Insgesamt ist „Eugen Onegin“ ein großer Abend mit eingängiger Musik und bewegender Geschichte.
„Kudà, kudà…“ Wohin, wohin man schaut: Eine „Eugen Onegin“-Welle schwappt durch die Republik. Nicht weniger als zehn Neuinszenierungen verzeichnet das Internetportal Operabase im Wagner-Verdi-Jahr, die Hälfte davon in den Monaten März und April… Was aber treibt Theaterleute im selben Moment zu einem Spiel, das sich trotz eingestreuter Chor- und Gesellschaftsszenen in die Kammer zurückzieht und in der Tradition des russischen realistischen Romans Kritik am Individuum übt?
Es muss das aktuelle Gefühl der Vergeblichkeit sein. Materiell geht es den Figuren in Tschaikowskys „Lyrischen Szenen“ gut. Trotzdem verfehlen sie ihr Glück. Glaubt man dem Orchestervorspiel, das 18 Takte dasselbe Sehnsuchtsmotiv stoisch wiederholt, macht der Russe … dafür den Fatalismus des Lebens verantwortlich. Die Musik dreht sich im Kreis und sagt: Wir sind Hamster im Rad und kommen nicht vorwärts.
Genauso visualisiert Arila Siegert das Vorspiel in ihrer Freiberger Inszenierung: In einem steifen weißen Kubus trotten Madame Larina und ihre Töchter nebst Kinderfrau wie van Goghs Sträflinge herum, jeweils auf der Viertelpause des Sehnsuchtsmotivs innehaltend und wie unter der Last eines unsichtbaren Fatums seufzend. Da wird die musikalische Struktur in Bewegung umgesetzt – ein Prinzip, das die Inszenierung bis zum Schluss konsequent durchhält.
In der wunderbaren Sonnenaufgangsmusik nach der Briefszene geht die Rückwand von Tatjanas Gefängnis auf. Doch die wärmende Aussicht auf ein erfülltes Leben währt nur kurz. Immer wieder stehen die Protagonisten vor den Puppenheimen der anderen und kommen nicht rein oder fallen ins Leere, wie Lenski in der Pose des Gekreuzigten. Siegerts Tatjana flieht – eine Petersburger Traviata – nach der Katastrophe ins Vergnügen. Sie sucht Vergessen auf Bällen bei Baronen und Polonaisen, was Gremins Loblied auf die Liebe ziemlich weltfremd aussehen lässt.
Sie kann Onegin am Ende nur mit der Kraft der Verzweiflung den Weg aus ihrem Kubus weisen, um ihre Autonomie zu retten und sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. Lilia Milek setzt die éducation sentimentale des jungen Mädchens, das die Spielregeln des Lebens erlernt, ganz unzynisch mit heißem Herzen um. Ein Mensch will leben…
…Der junge Freiberger Kapellmeister Ido Arad hat mit der nur 30-köpfigen Mittelsächsischen Philharmonie sehr genau am Detail gearbeitet, lässt jeder Phrase Zeit, artikulier präzis und sprechend. So entsteht ein beredter Klang, den auch Arila Siegerts Personenführung einfordert und visualisiert… Von den Vertretern der Titelpartie hatte Rodion Pogossov in Stettin das edelste Material… Freibergs farbarmer, aber darstellerisch starker Guido Kunze [wird] durch die kluge Regie aufgewertet. [Von den Tatjanas] zu überzeugen vermögen Joanna Tylkowska, die in Stettin mehr Stimme als Theaterblut hatte, Lilia Milek, bei der es sich in Freiberg umgekehrt verhält, und Sarah Kuffner als Glücksfall in Bielefeld…
[Bei den Lenskys wäre in Freiberg] Christoph Schröters schmaler Tenor in der Operette besser aufgehoben… Die Gremin-Bässe klingen mehr oder weniger überall gleich, wohingegen das Triquet-Couplet … die unterschiedlichsten Interpretationen vom überreifen Travestie-Star (Mainz) … bis zum … ungeschickten Musiklehrer (Freiberg) oder senilen Gutsbesitzer (Stettin) zulässt…
Als Fazit dieser Reise, die bei zweistelligen Minusgraden in Freiberg begann, wo der Hochverräter Richard Wagner 1849 zufällig der Verhaftung entgin, und im Hannoveraner Frühling endete, bleibt die Erinnerung an die hohe Leistungsfähigkeit des deutschen Stadttheatersystems, die Einsicht, dass deutschsprachige Aufführungen (Bielefeld, Freiberg, Schwerin) die Sänger in der Regel davor schützen, am Stück vorbeizusingen, und die Erkenntnis, dass sich bei Tschaikowskys Meisterwerk noch keine allgemein verbindliche Interpretationsidee durchgesetzt hat. Ein Glück! Tschaikowsky ist resistent gegenüber der Ideologie.
Boris Michael Gruhl, in:
Dresdner Neues
Nachrichten, 13.03.2013
…Selten waren neben den üblichen Abonnenten so viele junge Zuschauer zu Gast bei einer Döbelner Musiktheaterpremiere. Da ist es von Vorteil, dass zum einen der Komponist – anders als der Dichter – Tatjana und ihre idealisierte Liebe in den Mittelpunkt seines Werkes rückte und zum anderen Regisseurin Arila Siegert in ihrer Inszenierung genau darauf mit äußerst sparsamen Mitteln den Fokus legt.
In jener „Onegin“-Inszenierung muss sich das Regieteam einem schwierigen Bruch stellen: Den Endpunkt des „alten“ Onegin zeigt das Duell, in dem er seinen Freund Lenski erschießt. Unmittelbar danach wagt Tschaikowski einen Zeitsprung – mit einer Polonaise geht es viele Jahre weiter auf einen Ball in die Hauptstadt. Dort taucht Onegin auf und singt davon, dass ihn das Bild seines toten Freundes im Traum verfolgt hätte. Siegert verknüpft diese beiden Schichten, indem sie die Polonaise als Albtraum zeigt: Überall sieht Onegin den toten Freund, die übergroßen Schatten der Tanzenden wirken wie Gespenster.
Hier offenbart sich, wie perfekt Ausstatter Moritz Nitsche vor allem
als Bühnenbildner arbeitet. Denn der von ihm entwickelte Kasten, in dem die Oper
(einem psychologischen Versuchsaufbau gleich) spielt, ist mitsamt der
durchsichtigen „vierten Wand“ an der Vorderseite zugleich Projektionsfläche für
allerlei Wünsche und Ideen. Bisweilen öffnen sich die Wände dieses geschützten
Seelenraumes und geben dann den Blick in die kalte und reale Welt frei – dank raffinierter
Perspektiven täuscht Nitsche in diesen Momenten unendliche Tiefen vor...