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Liebe ist: den anderen wahrnehmen
und auch wirklich meinen

Arila Siegert über Giacomo Puccinis „La Bohème”

Premiere: 16. April 2016, Freiberg
Musik. Ltg.: Raoul Grüneis GMD
Ausstattung: Moritz Nitsche

Giacomo Puccinis „La Bohème“ war bei der Uraufführung unter Arturo Toscanini 1896 in Turin kein Erfolg. Heute gehört sie zu den meistgespielten Opern der Welt. Für dich liegt das auch an der meisterlichen Verzahnung von Text und Musik.

Ich habe das bisher nur bei Janáček in dieser Form erlebt, dass der Komponist so eng und sinnvoll vom Text ausgehend die Musik erfindet. Sehr selten geht Puccini in eine andere Ebene darüber hinaus; es kommt vor, vor allem in den Ensembles der Solisten. Ansonsten arbeitet er wie ein Maler, der die Szene künstlerisch genauestens beschreibt, aber auch koloriert und in sehr kurzer und knapper Abfolge typisiert. Für die szenische Arbeit ist das eine Schwierigkeit. Man ist zum einen sehr eng gebunden an die Musik, und trotzdem sollte man nicht eins zu eins parallelisieren. Es ist wirklich schwer, auf diese dichte, fast filmisch auf das Nötigste beschränkte und trotzdem poetische Musik hin zu inszenieren.

Was heißt Bohème? Der Ausdruck meint ja ursprünglich „böhmisch“ und bezieht sich auf die ab dem 15. Jahrhundert aus Böhmen eingewanderten Roma. Prostituierte wurden im 19. Jahrhundert als „Böhminnen“ bezeichnet. Im übertragenen Sinn meint das etwas liederliche Leute, nicht bürgerlich gesattelt. Hier sind es vier Künstler, die von Gelegenheits-Jobs leben.

Künstlerisches Arbeiten hat seine eigenen Gesetze. Diese vier jungen Männer sind fast ein bisschen anarchistisch, wenn auch nicht so direkt im politischen Sinn. Sie sind Aussteiger, wollen nicht in dies System des Geldverdienens und Sich-Prostituierens in einer kapitalistischen Gesellschaft einsteigen.

Bohème meint auch widerständig. Der Maler Marcello malt an einem Bild, das den Auszug der Israeliten aus Ägypten darstellt. Diese Vier suchen nach einer neuen Freiheit...

…wie es das Privileg von jungen Künstlern ist, die noch nicht integriert, noch nicht gefangen sind in den Fesseln des gesellschaftlichen Gefüges. Sie haben immer noch die Chance, was Anderes zu suchen. Aber im Stück stellt sich heraus, dass Rodolfo ohne diese gesellschaftlichen Bindungen Mimi nicht retten kann. Das ist der große Konflikt.

Puccini scheint sich sehr angezogen gefühlt zu haben von diesem Milieu. Er war ja auch kein Heiliger.

Er hat wohl in seiner Studienzeit in Mailand in so einer Kommune gelebt. Und auch beim Komponieren hat er in Torre del Lago so eine Bohème-Situation um sich herum inszeniert. Er hat sich anregen lassen von seinen Freunden, die einen solchen Club gegründet haben. Und er hat sich dann ans Klavier gesetzt, während die anderen gefeiert und rum-geopert haben. Es ist sehr eng am Leben gestrickt. Und deshalb ist die Oper auch so berühmt, weil sie so nah an der Haut von uns Menschen und vor allem von jungen Leuten, mit einer großen Liebe für diese Menschen, komponiert ist.

An dem Libretto hat Puccini selbst mitgearbeitet. Er hat auf eine möglichste Entschlackung der Vorlage von Murger („Scènes de la vie de bohème“) gedrungen. Um die Beziehungen der Figuren, zumal der beiden Hauptfiguren des Poeten Rodolfo und der Putzmacherin und Grisette Mimi zu verstehen, muss man die Vorlage kennen. Rodolfo und Mimi sind nicht, wie im 1.Bild suggeriert, einander Unbekannte.

Puccini und seine Librettisten Illica und Giacosa haben sich nicht orientiert an der dramatischen Vorlage, die es von dem Roman auch gibt. Das war ja zunächst ein Fortsetzungsroman in einer Zeitung um 1848. Dieser Roman reflektiert eigentlich das Leben von Murger. Darin beschreibt er seine Frauen, seine Freunde, das Café Momus, seinen Mantel. Die Vorgeschichte von Rodolfo und Mimi wird aufgefächert im Drama, das er daraus destilliert hat. Da will ein reicher Onkel aus Amerika, der im zweiten Bild der Oper auch erwähnt wird, Rodolfo nur dann finanziell unterstützen, wenn der sich von Mimi trennt und eine reiche Witwe heiratet. Rodolfo tut das und geht zu der reichen Witwe, hält es aber nicht aus und kehrt zurück in seine Mansarde. Und Mimi wird an diesem Hin und Her zerbrechen. Die Vorgeschichte beschreibt also beider enge Liebe, und dass Rodolfo kein Hallodri ist. Er steht zu seiner Liebe. Aber die Verhältnisse, in denen sie leben, zerstören ihre Liebe – und Mimi.

Mimi ist krank. Sie leidet an der damals im Zeichen der Dampfmaschinen-Industrialisierung weit verbreiteten Tuberkulose. Ähnlich wie die Violetta in Verdis „la traviata“. Du hast eine Figur zugefügt, die auf diese tödliche Krankheit verweist.

Ich wollte diese Krankheit nicht mit einem blutigen Taschentuch erzählen. Ich wollte diese gestörte Liebesbeziehung zeigen, in der der Tod von Anfang an mit dabei ist. Es ist eine Dreierbeziehung. Rodolfo trifft Mimi – wieder –, indem sie in seine Bude kommt und zusammenbricht. Von Anfang an ist klar: diese Frau ist todgeweiht.

 

Die Todesfigur tritt in vielerlei Gestalt auf.

Der Tod verfolgt sie, lässt sie nicht aus den Augen und ist gleichsam der Spielmacher des Stücks. Nicht vordergründig. Aber er geht ihr in jedem Akt nach.

Der Weihnachtsabend, das Zweite Bild, wirkt wie eine Gegenwelt zu der Einsamkeit Rodolfos und auch Mimis, auch durch die Beteiligung des Kinder-Chors.

Das ist das pralle Leben, ein Kontrast zu dieser harten, aber auch romantisch und impressionistisch verklärten Welt der Künstler und Mimis. Es ist die Welt der Musetta, einer Grisette ebenfalls, die Welt des hohlen Scheins und des Spiels, der lauten Freude und des Skandals. Das ist das Pariserischste an dem ganzen Stück. Der Walzer der Musetta wird dann auch im Vierten Bild zitiert in den Köpfen von Rodolfo und Marcello.

„La Bohème“ gilt durch das Quartett der vier Künstler als eine sehr vitale Oper. Der Realismus (oder im Italienischen: „Verismo“) verlangt, wie erwähnt, ein auch sehr realistisches Spiel. Und du lässt das auch sehr vital ausspielen etwa, wenn die Vier ihr Prekariat als großes Fest feiern. Andererseits gibt es auch fast impressionistische Momente in dieser Oper.

Man kommt nicht um den Verismo herum. Und man muss die Oper dennoch in ihrer musikalischen Vielschichtigkeit hören können. Als Regisseur möchte ich die Wahrnehmung beider Ebenen ermöglichen. Am spannendsten ist der Wechsel, das Ineinander-gehen von musikalischen Ideen und jeweiligem realistischen Moment; und andererseits das Ausformen von Gefühlen, Gedanken, von Atmosphären, was Puccini meisterlich versteht: Aber alles auf engstem Raum und auf die kürzeste Metapher gebracht. Keine Note ist zu viel. Es ist so knapp aneinandergesetzt, dass es perfekt ist wie ein guter Hollywood-Film.

Das Vierte Bild ist wie eine Summe. Auf der einen Seite die Vitalität der Künstler, die wieder ein Fest mit nichts feiern, tanzen, singen. Auf der anderen Seite der Todeskampf Mimis. Der Philosoph Colline nimmt förmlich Abschied von seinem engsten Begleiter, einem Mantel; er will damit Medizin für Mimi bezahlenen – das ist wie eine Anspielung für mich an Golgatha und den Streit der Landsknechte, ob sie Jesu Mantel zerteilen sollen oder nicht. Und die doch sehr leichtlebige Musetta, die es gern mit allen trieb, zumal wenn die wie Alcindoro gut betucht waren – sie versetzt ihren Ring, kauft Mimi einen Muff und fängt schließlich an zu beten.

Die femme fatale Musetta und die femme fragile Mimi, das vitale Leben und das Todesdrama brechen aufeinander ein. Musikalisch besteht das Vierte Bild nur aus Reminiszenzen. Sehr spannend, wie Puccini mit den erarbeiteten Melodien und Phrasen ihr Leben gestaltet hat. Alles wird ins Verhältnis gebracht: das Leben in der Erinnerung, das Verändern der Figuren. Mimi wird immer menschlicher und bringt die anderen noch näher zueinander. Sie rät Marcello, auf Musetta zu achten, weil sie ein so guter Mensch ist. Musetta nimmt sich immer mehr zurück und ähnelt der Mimi. Die Figuren erleben durch die äußere Dramatik eine Entwicklung. Sie fragen sich, was macht das mit uns? Es bringt sie zurück zu dem Grundlegendsten, der Liebe.

 

Was ist das transzendierende Moment in diesem Werk? Was sagt es uns heute? Ist es nur ein Zeitbild aus dem Frankreich des 19. Jahrhunderts? Es gibt da ja auch diese kleine Szene mit dem Wohnungsvermieter Benoît, den die Vier seiner Doppel-Moral überführen.

„La Bohème“ wäre nicht eine der berühmtesten Opern, wenn sie nicht so eng am Leben dran wäre: Junge Leute, die sich durchs Leben zu schlagen versuchen und die ganze Doppel-Moral, die Lügen der Welt ablehnen. Das Transzendente ist schon die Liebe zwischen Rodolfo und Mimi und auch die ganz andere Liebe zwischen Marcello und Musetta.

Aber Liebe ist immer: den anderen wahrnehmen und ihn wirklich meinen. Auch Musetta und Marcello kommen nicht voneinander los. Ihre Liebe ist laut und wild, die von Mimi und Rodolfo still und zurückgenommen. Sehr schön ist, wie der etwas in sich gekehrte Colline, der in gewisser Weise an diesen Lieben teilnimmt, sehr menschlich wird mit seiner Mantel-Arie. Und die Verbindung zu unserer Zeit ist dieses Sich-Auflehnen gegen die Gesellschaft. Auch dieses Sich-Verweigern gegen diese Welt der Gewinnsucht und der Gier. Und dazu gehört auch die Liebe von Puccini zu seinen Figuren, indem er das ganz einfache Volks porträtiert, indem er uns zeigt, dass das Lebens- und Liebes-Drama im Kleinen genauso wichtig ist wie im Großen. Diese Anteilnahme ist auch eine ganz wesentliche Triebkraft von dem, was uns das Leben lebenswert macht: dass wir uns kümmern, was mit den anderen passiert um uns herum.

Int.: gfk, 26.03.2016
Fotos: © Jörg Metzner u. gfk (HP2 7 GP)
Ton: Jan Peerce, Licia Albanese, Arturo Toscanini, NBC-SO 1946