Unsere Bühne ist ein Kampfplatz, wo das Ur-Theater stattfindet, die Suche nach dem Glück. Das Glück besteht in der persönlichen Freiheit. Und diese bis zum Tod auszuleben und auszutesten, den Radius für das individuelle Glück des Menschen und die unterschiedlichsten Ausgangssituationen, wie jeder das Glück findet und wie er das durchsetzt, werden exemplarisch in diesem Stück vorgeführt. Es ist eine sehr interessante Fragestellung, weil die Naivität eines Siegfried und diese Brutalität, die in dieser Naivität liegt, Carmen auch wirklich hat. Insofern ist es auch im Hinblick auf die Entwicklung heute mit der #MeToo-Debatte und dem ganzen immer wieder Versuch, die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau herzustellen, auch ein ganz aktuelles Thema.
…Und für Individualität, dass wir alle gefangen sind in uns und in dieser Dualität leben müssen zwischen schwarz und weiß, Gut und Böse, Mann und Frau, hell und dunkel und in diesem Spannungsfeld wir diese Kämpfe ausführen, und vorgeführt wird, dass dieser Anspruch eines jeden nur lebbar ist, wenn man den auf etwas für andere lebbares Maß zurückschraubt.
Es war damals durch die wirtschaftlichen Entwicklungen, die Weltausstellungen und das Reisen up to date. Und es ist ein Heraustreten aus dem engen Blickfeld, wird ein Welt-Thema. Es ist ein Interesse an einem übergeordneten System, also nicht innerhalb eines Volkes, eines Landes, sondern der Menschheit. Insofern ein europäischer oder ein Welt-Gedanke. Diese Arenen sind ja vergleichbar den Fußball-Stadien. Wie wir Fußball-Felder in jeder kleineren Stadt haben, gibt es in der Camargue und in Spanien die Tradition dieser Stierkämpfe, was ja auch dieses Archaische von Kampf hat, dass der Intellekt und die Gewandtheit und Klugheit über die Kraft siegt. Es ist eine Hybris, ein Tier in solch einer Weise in die Enge zu treiben und dann meist auch zu töten. Es hat auch mit dieser Hybris von Siegfried zu tun.
José ist ein domestizierter Mann, ein Militär, einer der Regeln hochhält, auch sinnlose Regeln wie sie im militärischen Drill liegen, die aber zum Eigenschutz und zum Kämpfen nötig sind. Er unterwirft sich einem System. Und die Carmen ist das Gegenteil. Sie ist eine Roma, aber sie befreit sich aus diesem System und ist sich nur selbst der eigene Maßstab. Insofern ragt sie aus dieser Gruppe auch heraus. Sie ist ein besonderer Mensch mit einem besonderen Anspruch, und der den eigenen Anspruch über alles stellt.
Im Bann einer Liebe zu sein, ist ein Mysterium unseres Lebens. Neben dem Tod ist die Liebe das größte Mysterium: warum sie uns fesselt, warum wir für die Liebe sterben können, für sie zu morden, oder für die Liebe alles zu lassen, was wir uns erkämpft haben. Die Liebe ist dieser seltsame Phönix, der immer wieder aus der Asche aufsteigt. Insofern ist diese Unkontrollierbarkeit dieses Affekts, dem wir unterliegen, der archaische Grundmotor unseres Lebens. Sonst wären wir sicher schon ausgestorben. Es ist wie ein innerer Motor der Welt. Deshalb haben wir auch unser Bühnenbild einen Vulkan genannt, in dem die Lava, das Magma brodelt. Aus dem Zentrum quillt die Power heraus, der Kampfplatz, aus dem wir als in dieser Welt existierende Wesen nicht herauskönnen. Wir sind darin gebannt. Und das zeigt auch dieses rote Tuch. Es ist ein Ausdruck für das Blut, das Blut, die Fruchtbarkeit der Frau, aber auch für die Liebe und für dieses gegenseitig Sich-in-Ketten-legen, In-Bann-schlagen, sich fesseln, sich aneinander binden.
Bizet und seine an Offenbach geschulten Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy haben alle Einflüsse ihrer Zeit in das Werk aufgenommen. Die Frauen schmücken sich, um die Zöllner zu umgarnen, damit sie die Waren nach Sevilla schmuggeln können. Es ist die Zeit, in der Börsen eine große Bedeutung bekommen und Geld und Gold dominieren – mit gelegentlichen Crashs.
Das gesellschaftliche Leben ist in dem Stück stark verankert. Es geht schon um was darin, nicht nur um Unterhaltung – eine wesentliche Qualität der „Carmen“. Korruption war damals ein großes Thema und ist es heute wieder. Es ist wie ein „Darknet“ innerhalb der Gesellschaft. Die Ordnung wird unterwandert und tendenziell zerstört, die Werteskala leidet.
Ich denke ja. Und sie zeigt eben die Fehlbarkeit: dass ein Zusammenleben nur möglich ist, indem man den anderen wahrnimmt, mit ihm korrespondiert und einen Kompromiss findet, damit man miteinander leben kann. Eine Kompromisslosigkeit ist zwar eine Kraft, aber sie zerstört auch. Insofern ist die Carmen auch ein Extrem mit zerstörerischem Potenzial. Wenn wir nur unsere eigenen Wünsche durchsetzen und ausleben, gehen die anderen rundherum krachen. Das ist in einer Familie so, in einem Theater, in der großen Politik. Es kann nicht nur einer sein eigenes Programm durchziehen, ohne eine Möglichkeit für andere zu lassen, sich darin wieder zu finden. Die Micaëla zeigt eben, woher der José kommt: aus einer ländlichen, in sich stimmigen, „lyrischen“, bodenständigen Welt. Und die Carmen ist eben dieses Extrem, eine Klippe im Meer mit Absturzgefahr.
Sie reflektiert da vor dem roten Vorhang schon ihr zukünftiges Leben mit Escamillo: in Samt und Seide gekleidet wie eine Königin, im Glück, im Rausch, im Wohlstand. Das ist der Gedanke, der sie vorwärts treibt Richtung Escamillo, der der Star von heute ist mit rotem Teppich, Blitzlichtgewitter, Anbetung der Gesellschaft diesem Mann gegenüber, der sein Leben riskiert für seine Kunst, den Stierkampf. Auch diese mysteriöse Auseinandersetzung des Menschen mit seiner eigenen Natur, mit seiner eigenen Wildheit spielt da rein. Das ist wieder Carmen. Wie Escamillo sich dem Tod ausliefert, so liefert sich Carmen ihrem Tod aus. Extrem. Und sie weiß, dass sie stirbt, wenn sie immer weiter diesen Weg geht, dass sie durchsetzt, was sie allein will, ohne Rücksicht auf die anderen. Das ist eine Art Stierkampf. Und deshalb ist dieser Kampfplatz, dieser Vulkan, diese Gefangenschaft in dieser Dualität die Sprengkraft dieses Stücks.
José ist auch im Stück auf der Flucht, und Carmen ist mit Escamillo ja auf dem vermeintlichen Aufstieg. Die Leidenschaft zerstört den einen und baut den anderen immer mehr auf. Das ist der Antagonismus zwischen José und Carmen. Der eine geht immer mehr kaputt, der andere bleibt unbeschädigt und steigt immer höher.
Liebe kann terroristisch sein – sonst gäb’s keinen „Tatort“. Der Terror in der Liebe, ist auch die Kraft, die den Krieg zwischen den Paaren entfesselt. Liebe schlägt um in Hass, der Hass bringt den Krieg und der Krieg bringt den Tod. Das kommt auch im Stück selbst vor: Der Schmuggler Dancaïro singt, als Zuniga im Finale II die beiden warnt: jetzt bin ich in eurer Hand, jetzt werde ich in den Kuhstall gesperrt, aber ich warne euch, ich komme wieder, und dann geht’s euch an den Kragen. Und in diesem Moment sagt Dancaïro „c’est la guerre“ (das ist der Krieg), das steht so in den Noten. Es geht in diese Dimension, dass der Mensch in seinem Bewusstsein und in diesem Kosmos das Menschsein spiegelt, um das Lebbare und das Unlebbare zu zeigen. Wenn José mit Micaëla zusammengeblieben wäre, wäre sein Charakter auch lebbar gewesen, mit Carmen nicht. Micaëla ist die Figur, die das Leben repräsentiert, dass man einen anderen zu verstehen sucht, dass man den aushält, dass man sich gegenseitig schützt und hilft, dass es eine Familie gibt, Nachkommen, Essen und Trinken und dass man ein Dach überm Kopf hat. Das alles demonstriert Micaëla.
Lillas Pastia spielt in unserem Stück auch noch eine zweite Rolle. Er ist die Figur, der dieser unbehausten Welt außerhalb der gesellschaftlichen Norm und, noch weitergedacht, außerhalb der realen Welt als das Schicksal oder den Tod versinnbildlicht. Carmens Welt ist diese Kneipe, außerhalb der Regeln. Dort verkehren auch die anderen Militärs, Zuniga und Moralès. Dieses Mafiosohafte und Halbweltmäßige in dem Stück ist auch für die, die an den Gesetzen verdienen und diese Gesetze repräsentieren, genauso relevant. Diese Korruption…
…dass jemand sein Amt und seine Möglichkeiten ausnutzt, um Geschäfte zu machen – siehe auch Berlusconi, Bolsonaro und so weiter. Dieses Abrutschen aus der extremen militärischen Ordnung in eine Welt, die mehr Kreativität, mehr Körperlichkeit hat, mehr Improvisation, mehr Verrücktheit, mehr Spaß auch – das reizt solche Leute.
Deshalb ist es mir sehr nah. Die Körperlichkeit steht auch in diesem Kampfplatz, diesem Battlefield als Waffe der Frau gegenüber der eingeschnürten, exorzierten Körperlichkeit des Mannes. Das ist auch wieder dieser Kampfplatz und hat mir das Stück sehr nahe gebracht, weil der körperliche Ausdruck, die Körperbewegung und der Gesang, die Musik, der Zusammenhang zwischen Tanz und Musik und zwischen der Kraft, die wir Menschen in die Körpersprache legen, wenn wir uns die kalte Schulter zeigen, wenn wir uns umarmen, wenn wir uns entfremden – das sind alles Vorgänge, die mit Körperlichkeit zu tun haben. Im Computer-Zeitalter heute, wo man mehrere Stunden vor Maschinen sitzt, die einem das Leben vorgaukeln, ist so eine Körperlichkeit wieder sehr wichtig, damit der Mensch gesund bleibt. Wir sind ein Teil der Natur und wir brauchen die Bewegung innerlich und äußerlich. Wir brauchen dieses nicht-intellektuelle Reagieren und Schöpfen, dieses Bewusstsein, das uns weiterbringt als nur das intellektuelle Denken, weil: die Seele denkt in Bildern. Und deshalb ist dieser nur-intellektuelle Verstand, dieses Berechnende nur ein kleiner Teil der Möglichkeiten des Menschen. So wird in diesem Stück ein großer Radius gezogen von der Vielfalt des Klanges, der Differenziertheit und Leichtigkeit der Ausdruckspalette unserer Seele, unserer Existenz.
…der sie bezwingen will. Er tritt sie in den Staub. Er ist total brutal an dieser Stelle, weil er sie nicht haben kann. Und Männer benutzen dann ihre Kraft, die Frauen zu erniedrigen, um einfach durchzusetzen, was sie wollen. Und er erreicht Null.
Großartig, hochartifiziell, die ganze Palette: vielgestaltige, unaufdringliche, für jeden verständliche Leichtigkeit im Anspruch und in der Gedankenwelt – einfach grandios.
Der GMD hier, Guillermo García Calvo, will immer zurück zu der Urfassung, was ich sehr begrüße. Ich komme vom Theater eines Walter Felsenstein, Komische Oper Berlin. Dort habe ich gelernt, dass man ein Werk wirklich ernst nimmt und das, was von diesem Werk an Material existiert, genau erforscht und untersucht. Die Forschung heute ist da wesentlich weiter. Man hat die Dirigier-Partitur gefunden mit allen Einträgen von Bizet und hat anhand des aufgefundenen, nicht vernichteten Materials die Urfassung rekonstruiert. Jakob Brenner, der das Stück einstudiert hat und auch in vielen Vorstellungen dirigiert, hat darüber ausführlich referiert bei der Einführungsveranstaltung. Wir sind heute auf einem Wissensstand, den man früher noch gar nicht hatte. Wir spielen also die ursprüngliche Dialog-Fassung, französisch mit deutschen Übertiteln. Das Stück ist insgesamt ohne Pause über dreieinhalb Stunden. Wenn man die Dialoge ungekürzt bringen würde, wäre das bei einem besonderen Anlass sehr angebracht, weil dieses Filmische von Schauspiel, Musiktheater und Tanztheater ganz reizvoll ist.
Das würde über vier Stunden dauern, für den Repertoirebetrieb heute kaum machbar. Deswegen haben wir die Dialoge auf das Wesentliche reduziert. Aber man merkt eben an den Dialogen: es ist eine französische Oper, auf französischen Traditionen basierendes Musik-Theater. Mit diesen Dialogen hat es auch sehr was von Offenbach und des aufkeimenden Verismo, wo das Wort eine große Rolle gespielt hat. Und interessant finde ich auch den Übergang zwischen gesprochenem und gesungenem Wort, was ich bedauerlicherweise in der Kürze der Probenzeit nicht so richtig ausreizen konnte. Aber dann muss ich an Leoš Janáček denken, der aus dem Wort den Klang geschöpft hat und aus der Tradition seiner Sprache und seiner Nation die Musik gleichsam absorbiert hat. Und das ist auch drin. Sehr französisch…
Melodramen, Dialoge. Die ganze Palette von Lyrik, Dramatik, Komik, Folkloristisches aber nicht klischeehaft, sondern fein ziseliertes Gold ist diese Musik.