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Gegen den Strom

Arila Siegert über ihre Inszenierung von Leoš Janáčeks „Jenůfa“

Premiere Theater Kiel, 28.Sept. 2013
Musikalische Leitung: Leo Siberski
Bühne: Hans Dieter Schaal
Kostüme: Marie-Luise Strandt

Jenufa und alte Buryja

„Jenůfa“ ist ein Stück über Verlust, Tod, Suchen nach neuem Leben. Es geht um einen Kindsmord, das Glück einer jungen Frau, um „Ehre“ in einem eher altmodischen Sinn. Was ist für dich der wichtigste Aspekt?

Die Grundlinie im Stück ist, dass wir alle Fehler machen, dass wir stolz, ungerecht, egoistisch sind, dass wir irren, und dass wir aber einander die Fehler und Verletzungen verzeihen müssen. Um diese Katharsis, diese Reinigung, geht es.

Der Fall ist authentisch. Wie weit lässt sich dieser Kindsmord heute noch von unseren Moralvorstellungen aus verstehen? Ein unehelich geborenes Kind ist kein Grund mehr, um es zu töten. Wenn Frauen heute ihre Kinder töten, dann aus psychisch-sozialen Nöten oder weil sie aus einem ganz anderen kulturellen Umfeld stammen.

Das würde ich bezweifeln. Die Welt beschränkt sich ja nicht auf unser kleines Europa. Und selbst in Europa gibt es sowas sicher noch mehr als wir denken. Das Stück spielt vor etwa 125 Jahren. Durch die Emanzipation der Frau hat sich zwar vieles verändert, aber so viel auch nicht. Es ist ja etwas sehr Archaisches in der Geschichte; eine Urangst zu versagen, nicht zu bestehen spielt da mit. Die Küsterin sagt: Das Kind wird uns das Blut aussaugen.

Apfelbaum

Diejenige die tötet, ist ja nicht die Mutter, Jenůfa, sondern deren Stiefmutter, die Küsterin. Wie siehst du sie? In einer Szene, als sie sich am Ziel glaubt, dass die „Schande“ vertuscht und Jenůfa mit Laca verkuppelt ist, trumpft sie auf wie eine Hexe. Aber letztlich verliert sie alles. Die Menschen, die sie an sich binden will, entgleiten ihr förmlich aus den Armen.

Ein Mensch mit einer solchen Tat, die so auf der Psyche lastet, kann nicht normal leben. Zuerst ist die Küsterin krank vor Stolz, dann vor Angst, dass sie in der Dorfgemeinschaft ihre herausragende Rolle einbüßt. Und dann wird sie richtig psychisch krank durch diese Tat. Sie will sterben, will nicht wieder gesund werden, benimmt sich merkwürdig. Das zeigt aber auch, dass sie ein Mensch ist und kein Monster.

Im Mühlrad

Am Ende der Oper kommt sie zu der Einsicht, dass sie zu sehr sich selbst geliebt hat und dass sie deshalb die Todesstrafe verdient.

Eitelkeit und Stolz sind durchaus Eigenschaften dieser Frau. Sie musste sich alles selbst erarbeiten in ihrem Leben. Die Dominanz der Männer führt ja dazu, dass so eine Frau sich besonders extrem auf sich selbst bezieht. Dabei dachte sie, sie braucht die Männer eigentlich nicht. Aber aus einem Helfersyndrom hat sie sich doch in einen verliebt, und der hat sie ausgenommen, geschlagen, beraubt. Das hat sie bestätigt in ihrem Hass auf die anderen Männer und die Welt außerhalb ihrer Sphäre. Mit Disziplin hat sie ihre kleine Welt picobello in Ordnung gehalten, war auch als Stiefmutter für Jenůfa vorbildlich. Sie wollte sich abheben von den anderen, sich abgrenzen, alles besser machen. Sie war eine sehr anspruchsvolle Frau mit einem „Manns-Verstand“, wie man über sie sagt. Jenůfa auch.

Küsterin und Jenufa

Die beiden Männer, die um Jenůfa werben, sind auch von denkbar widersprüchlichem Charakter. Števa, von dem Jenůfa das Kind hat und den sie heiraten wollte, ist ein Luftikus, und steht am Ende auch allein da. Laca, der die eigentliche Arbeit in der Mühle macht, ist ein Mann, der sich immer zurückgesetzt fühlt – aber Jenůfa dann auffängt.

Die Treue, dieses Zueinander-stehen beeindruckt mich schon sehr bei Laca. Er ist sehr bäurisch, teilweise auch ganz schön brutal in seiner Wut. Im ersten Akt ist er sehr dominant, versucht Jenůfa mit allen Mitteln zu gewinnen, wird immer aggressiver, bis er sie wirklich verletzt, sie in gewisser Weise schändet. Und damit vergeht er sich auch an ihr. Trotzdem bleibt diese Liebe und das Werben um die Frau, der er sich zugehörig fühlt von Kindheit an, ganz unverändert, stark von Anfang bis Ende. Števa ist ein verwöhnter, leichtsinniger Mann, der von seinem Lustprinzip aus die Welt nimmt. Dazu passt, dass er trinkt und spielt. Und da er immer Geld in der Tasche hat, wird er von den anderen – auch Mädchen – hofiert und ausgenutzt. Aber als herauskommt, dass er sich gedrückt hat vor seinen Vaterpflichten, steht niemand mehr ihm bei außer der Großmutter, der Alten Buryja.

Das tote Kind

Welche Rolle spielt die Dorfgemeinschaft? Stehen sie auf Seiten von Jenůfa oder halten sie wie die Küsterin das uneheliche Kind ebenfalls für eine „Schande“?

Sie würden es tun. Deshalb versteckt die Küsterin ja ihre Stieftochter. Da Je Jenůfa den Chor der Dorfgemeinschaft geleitet hat und dem Hirtenjungen Jano und sicher auch anderen Lesen und Schreiben beigebracht hat, hat sie im Dorf auch eine Sonderstellung. Sie ist sehr beliebt. Und solange der Kindsmord nicht ruchbar wird, ist sie auch angesehen im Dorf. Aber das kippt, und die Dörfler wollen sie steinigen, als Jenůfa die Kindsleiche aus dem schmelzenden Eis als ihr Kind identifiziert.

Was für eine Figur ist Jenůfa? Sie hält ja lange an Števa, dem Vater ihres Kindes fest, ist sogar zum Selbstmord bereit. Dann lässt sie sich mit Laca ein, der sie tätlich mit dem Messer angegriffen und ihr das Gesicht aufgeritzt hat. Am Ende geht sie mit ihm gar weg. Warum und wohin?

Küsterin

Jenůfa ist die Figur in der Oper, die die größte Entwicklung durchmacht: angefangen von einer dem Laca gegenüber auch zickigen jungen Frau, die Laca in seiner Liebesbrunst ganz kalt abblitzen lässt und ihn auch reizt. Insofern hat sie auch mit zu verantworten, dass er immer verrückter wird. Aber sie sind zusammen in dieser Mühle gebunden. Sie können nicht voreinander ausweichen. Sie können nicht den Zug oder das Flugzeug nehmen und woanders hinfahren, sind zusammen eingeschlossen in diesen Kreis der Dorfgemeinschaft. Sie müssen irgendwie miteinander auskommen. Und Jenůfa benimmt sich im ersten Akt, wo sie von Stewa schwanger ist, sehr unklug Laca gegenüber. Als intelligente und emanzipiertere Frau müsste sie mitkriegen, dass er ein ganz verlässlicher und herzensguter Mensch ist, der nicht mehr aus noch ein weiß, weil sie ihn schnippisch, fast brutal von sich wegstößt – wie junge Frauen eben sein können. Sie muss dann durch den tiefsten Punkt hindurch, dass das eigene Kind tot ist. Daraus entwickelt sie diese außergewöhnliche Toleranz, die sie befähigt, der Küsterin den Kindsmord zu verzeihen, als sie endlich gesteht. Die Küsterin sagt zwar, dass sie sich vor allem selbst geliebt hat, aber Jenůfa erkennt, dass die Küsterin auch aus Liebe zu ihr gehandelt hat, ihr alles geopfert hat. Jenůfa gelingt dies Verzeihen trotz ihres Schmerzes darüber, dass sie der Mörderin ihres Kindes gegenüber steht. Und weil sie weiß, dass ein totes Kind nicht mehr zum Leben zu erwecken ist, arbeitet sie daran, dass sie und ihre Stiefmutter weiter leben können.

Jenůfa und Laca gehen am Ende aus der Bühne raus. Und da taucht am Horizont ein Hügel auf, auf dem vorher schon mal der kleine Števuschka gesessen hat als eine Projektion von Jenůfa. Ist der Hügel eine Art Sehnsuchtsort?

Für mich ist es eine unbestimmte Ferne. Sie gehen weg aus dem Dorf. Der Laca im Roman von Gabriela Preissová, der dem Libretto zugrunde liegt, hat eine Mühle gemietet, weit ab. Dort wollen sie eine neue Existenz gründen. Offen bleibt, ob das gelingt. Aber sie gehen zusammen. Und dieses Zusammen-Gehen ist, meine ich, auch eine Hauptlinie dieses Stücks und auch unserer Existenz: dass wir nicht alleine existieren können, sondern dass wir uns immer einen oder mehrere Partner suchen.

Die Mühle, in der das spielt, ist im Bühnenbild von Hans Dieter Schaal eine Art Mausefalle.

Die Falle war ihm sehr wichtig: wir gehen in die Falle. Wir verrennen uns, sind gefangen in unserem Denken und in einer Gemeinschaft, wo die Wände Ohren haben und wir nicht raus kommen.

Vor der Hochzeit

Es gibt im Bühnenbild auch eine Rinne. Sie ist sowas wie Lebens-, Todesfluss, Abwasserkanal. Das Wasser fließt hier nicht sozusagen an der Mühle vorbei, sondern mitten durch sie hindurch.

Die Rinne wechselt ihre Bedeutungen, sie ist ein poetisches Hauptelement der Spielfläche. Und sie trennt die Bühne von der Vorbühne. Wo das Portal ist, ist die Rinne. Es ist dadurch eine Art Heraustreten aus der Handlung möglich, dass man über die Rinne nach vorn in einen eigenen Raum geht, einen Zwischenraum. Erfunden ist die Rinne eigentlich, weil ich die Handlungen wie Kartoffel-Schälen am Anfang nicht direkt zeigen wollte. Ich dachte, es muss zwar geschehen aber ich will es in eine allgemeine Arbeitssituation versenken. Die Rinne soll die Arbeitsvorgänge abstrahieren, damit nicht zu viele materielle Details zu sehen sind in dieser taktweise wechselnden Musik, die ja eine innere, leidenschaftliche, psychologische Musik ist. Da zu viele Naturalismen hineinzupacken, würde die Kraft der Musik schmälern.

Das rote Mützchen des Kindes ist gefunden

Eines der wiederkehrenden szenischen Zeichen, die du erfunden hast, ist ebenfalls abgeleitet von dem Ort, aber auch aus der Musik: eine Art menschliches Mühlrad.

Ich habe die Mühle so übersetzt, dass wir in diesem Mühlrad gefangen sind – wie Hans Dieters „Falle“ oder Bühnenbild: wir sind gefangen in dieser Mausefalle des Lebens. Das Rad wird öfters zitiert, geformt wird es dreimal. Anfangs nur mit den Soli, im Finale I mit allen Beteiligten des Stücks, zum Schluss im großen Monolog der Küsterin im 3.Akt sind nur die vier Haupt-Solisten, Küsterin, Jenůfa, Laca, Stewa, beteiligt.

„Jenůfa“ ist Janáčeks erste „gültige“ Oper. Du hast vorher schon seine „Sache Makropulpos“ inszeniert. Janáček hat bei „Jenůfa“ noch viel getüftelt, verändert, gekürzt.

Man merkt deutlich, dass der 1.Akt lange vor den beiden anderen Akten entstanden ist. Zwischen den beiden Teilen liegen, glaube ich, neun Jahr, in denen er sich mit anderen Dingen beschäftigt hat: Chorleiten, Studien, Sprachmelodie-Forschung, anderen Stücken. Der 2.Akt ist das Herz der Oper und ist mit einer – für mein Empfinden – größeren Stringenz geschrieben. Am schwierigsten zu inszenieren ist der 1.Akt, weil die Szenen kurz aufeinander folgen und sehr schnell wechseln.

3.Akt Schlussbild

Du hast dich mit dem Dirigenten Leo Siberski auf eine frühere Fassung geeinigt, die etwas länger ist.

Wir sind auf die Fassung von 1908 gegangen. Janáček hat da zwar schon einiges verändert nach seinen Erfahrungen und den Aufführungen der ersten Fassung von 1904. Aber die Fassung von 1908 ist authentischer als die von 1916 in Prag. Da hat der Dirigent Karel Kovařovic das alles in Richtung Wagner abgebügelt, sodass die typischen Wiederholungen und Extreme der Orchestrierung dieser Partitur entschärft wurden. Die Fassung von 1908 ist einfach authentischer. Schwierig fürs Inszenieren und zugleich das ganz Besondere bei ihm ist, dass Janáček, der ja das Libretto selbst gestaltet hat, nach Sprach- und Sinnkriterien komponiert hat. Er lotet mit seiner Musik die Worte und den untergründigen Sinn aus – weswegen wir auch die Originalsprache beibehalten. Diese schnellen Wechsel, eng an der Handlung orientiert, das ist ihm wichtig, das muss man auch beim Inszenieren sehr beachten. Und man muss eine eigene szenische Abstraktion, eine eigene szenische Realität finden.

Es ist ein Spagat.

Es ist Expressionistisches Theater. Der Naturalismus – dass wir in einer Mühle sind, dass dort gearbeitet wird – ist von Janáček zwar genau vorgeschrieben, aber szenisch das nachzuspielen würde die Musik zukleistern. Man muss beides erlebbar machen: Szene und Musik, ohne dass das eine das andere nivelliert. Es ist ja eine sehr menschliche Oper, die auslotet, was wichtig ist im Leben: Liebe, Treue, Verzeihen, sich gegenseitig leben lassen. Die Küsterin versucht, für die Jenůfa zu leben. Dieses Sich-an-die-Stelle-eines-anderen-Setzen und sagen, so und so muss es sein, anders geht es nicht, dieses Doktrinäre wird als großer Irrtum und als große Wunde unseres Menschseins aufgezeigt. Und das ist doch ganz aktuell, wenn man sich umguckt in der Welt.

Kiel, 22.09.2013, gfk. / fotos: struck, gfk