Kiel. Die Dorfgemeinschaft dreht sich um sich selbst. Irgendwo in mährischer Mittelgebirgslandschaft und irgendwann in Zeiten blühenden Spießertums werden in dieser Lebensmühle Altlasten gemahlen und den Jungen aufgebürdet. Hier gibt es zwar einen freien Horizont, aber keine Aussichten. Alles gehorcht in verbretterter Schicksalsgeometrie vermeintlich moralischen Regelwerken.
Der Regisseurin Arila Siegert – unterstützt vom renommierten Ruth-Berghaus-Team Hans Dieter Schaal (Bühne) und Marie-Luise Strandt (Kostüme) – ist reiner Naturalismus mit guten Gründen zu wenig, um überdeutlich zu machen, was der Seelen-Seismograph Leos Janácek da zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Gabriela Preissovás Theaterstück herausdestilliert hat. Vergrößert in expressionistischen Gesten, bedeutungsvoll bewegt in choreographierten Gängen und manchmal sogar demonstrativ „ausgestellt“ mit Mitteln des epischen Theaters Brechts unterstreicht die kontrastreich ausgeleuchtete Szene hellhörig die raschen Stimmungsschwankungen der Musik. Das mag hier und da arg gekünstelt wirken, hebt aber Handlung und Figuren wie unter der Lupe hervor.
Im Zentrum steht als Dreh- und Angelpunkt die verhärmte Küsterin, die ihrer Stieftochter Jenůfa um jeden Preis, sogar um den Preis eines Kindsmordes, ihr eigenes Schicksal ersparen möchte. Marina Fideli spielt und singt sie mit intensivem Mezzosopran-Ton großartig: zunächst mit strenger Beherrschtheit und wie auf Schienen des einzig wahren Weges, dann zunehmend schwankend, bald von Schuld beladen am Rand des Wahnsinns und ganz aus der Spur.
Eine Idealbesetzung ist auch Agnieszka Hauzer für die Titelpartie. Scheinbar mühelos hat sie für die Schwärmerei um den Bruder Leichtfuß Steva (Yoonki Baek), für die Panik um die voreheliche Schwangerschaft, für Mutterliebe, Verlustängste und Schicksalsergebenheit ganz eigen schillernde Sopranfarben zur Verfügung. Wo sich Fideli und Hauzer umkreisen, um Überhand zu gewinnen oder sich im Graben zu verschanzen, ist spannendes Musiktheater garantiert. Das gilt aber auch für die allmähliche, schließlich tröstliche, wenn auch wohl nicht restlos glückliche Annäherung Jenufas an den redlich liebenden Laca, den der georgische Tenor George Oniani mit kraftvoll sehnsüchtiger Seufzer-Energie ausstattet.
Bis in die vielen Nebenpartien und die Chor-Folklore hinein überzeugt die (mit Übertiteln) im tschechischen Original gesungene Ensembleleistung, die Kiels Stellvertretender Generalmusikdirektor Leo Siberski musikalisch verantwortet. Er dirigiert die ungekürzte und trotzdem kompakte Brünner Fassung von 1908, die Janáčeks fiebrig psychologisierende Intentionen noch völlig ungeschönt transportiert. Die Kieler Philharmoniker, allenfalls im ersten Akt noch etwas nervös und laut angesichts der immensen Herausforderungen in der rhythmisch und harmonisch extrem vielschichtigen Partitur, begeistern zunehmend mit Schattierungen: berührend innige Soli wechseln mit eiskalten Blech- und Paukengewittern, warmherziges Pulsieren mit irrlichternder Dramatik. Ein eindrucksvolles Wechselbad der Gefühle.
„Dir, Kind, soll es einmal besser ergehen als mir!“ Ein Satz, der Geschichten erzählen kann, nicht nur positive, ein Satz, der quasi als Leitmotiv steht bei Leo Janaceks Meisterwerk „Jenufa“, ein Satz, der hier das Scheitern schon beinhaltet.
Das hat sich die Küsterin geschworen, ihre Stieftochter Jenufa soll nicht so von einem Mann enttäuscht werden wie sie. Dafür ist ihr jedes Mittel recht, auch Mord. Doch Jenufa liebt Steva, den Dorfbeau, der die Küsterin fatal an ihren Mann erinnert. Sie favorisiert Laca, Stevas Halbbruder, zuverlässig, bieder und auch in Jenufa verliebt. Doch Jenufa ist schwanger, von Steva, der nichts mehr von ihr wissen will. Eine Katastrophe im Dorf! Die Küsterin schafft das Problem auf ihre Art aus dem Weg: Sie ermordet das Baby, wirft es in den eiskalten Fluss und erzählt Jenufa, dass es bei der Geburt verstorben sei. Der Weg ist frei für Laca, doch die Küsterin hat mit einem nicht gerechnet: Ihrem Gewissen, ihrem Leben mit der Schuld. Aber die Geschichte endet positiv, Jenufa geht mit Laca in eine gemeinsame Zukunft, eine Liebe, die viel ausgehalten hat, eine Liebe, die nicht an Katastrophen verzweifelte. Musikalisch ein so ergreifender Schluss, dass das Publikum einige Sekunden in Schockstarre verharrt, bevor der Jubel losbricht.
„Jenufa“ am Opernhaus Kiel, das ist, schlicht und einfach, eine gelungene Produktion, ein Abend, der unter die Haut geht und der zeigt, wozu Oper fähig ist. Das liegt auch an der interessanten und packenden Inszenierung von Arila Siegert, die die Geschichte sauber und schlüssig erzählt, ohne konventionell zu wirken. Frau Siegert kommt vom Tanztheater, sie war Solotänzerin an der Staatsoper Dresden, sie arbeitete mit Ruth Berghaus und Peter Konwitschny zusammen, ihre erste Oper war „Macbeth“ in Ulm 1998, zusammen mit dem Bühnenbildner Hans Dieter Schaal und Marie-Luise Strandt (Kostüme), die auch jetzt auch mit ihr nach Kiel kamen. Alles folkloristische Beiwerk ist aus der Inszenierung verbannt, ohne die Geschichte zu beschädigen, im Gegenteil, geradezu schmerzlich wird das Leid der Akteure, die Enge der dörflichen Gemeinschaft brennpunktartig auf die Bühne gebracht. Und man merkt an jeder Stelle der Inszenierung, dass Frau Siegert vom Tanz kommt. Ob es nun die wundervollen Chöre sind oder nur Bewegungsabläufe der Sänger, die Personenführung ist durchdacht bis in kleinste Kleinigkeiten. Bei der Besetzung ist sehr bemerkenswert, dass die Oper Kiel alle Rollen, bis auf eine Ausnahme (Laca), mit eigenem Ensemble besetzt.
Marina Fideli verkörpert die Küsterin nicht als Monster, nicht als alte, verbitterte Frau. Dank ihrer wundervollen, lyrischen Stimme wird hier eher das Rollenportrait einer sich sorgenden Mutter, einer Frau, vom Leben gezeichnet, geboten. Ich habe Frau Fideli in Kiel in diversen Rollen gesehen, doch als Küsterin macht sie sprachlos. Ein extrem starker Auftritt, den das begeisterte Publikum zu Recht bejubelte. Ganz wundervoll die Besetzung der zwei Stiefbrüder, allein schon vom Äußeren ein Volltreffer: Auf der einen Seite Yoonki Baek als der junge, flatterhafte Steva, auf der anderen Seite George Oniani als sein biederer, rechtschaffener Bruder. Er wurde vom Publikum begeistert gefeiert. Sie beide zeichnen stimmlich und darstellerisch ein restlos überzeugendes Bild der ungleichen Brüder. Tenoral voll aufblühend, geradezu schmachtend Yoonki Baek als Steva, George Oniani dagegen ein Mann, der verzweifelt liebt und dieser Liebe stimmlich perfekt Ausdruck gibt.
Ein Glücksfall ist Agnieszka Hauser in der Titelrolle.
Ihr ist es zu
verdanken, dass dieser Abend zum reinen Opernglück wird. Eine
zierliche, hübsche Person, die den Leidensweg der Jenufa fesselnd
und anrührend nachzeichnet, das Gebet im 2. Akt gerät zum magischen
Moment, wo man weiß, wieso man opernsüchtig werden kann, quasi eine
Legitimation für dies Genre. Mühelos packt sie die Klippen der
Partitur, führt ihren wundervollen Sopran durch alle Höhen ,
verzaubert das Publikum in den leisen Passagen.Und das Finale mit
Laca singt sie so hinreißend, das allein hierfür der Abend lohnt.
Auch die kleineren Rollen waren geradezu luxuriös besetzt. Neu am
Opermhaus Kiel ist Timo Riihonen, dessen Dorfrichter neugierig auf
weitere Rollen machte. Juliane Harberg als Buryja und
Christoph Woo
als Altgesell rundeten die stimmige Besetzung ab.
Ein Sonderlob dem
Kieler Opernchor, der, wie immer, wundervoll sang und von
Barbara
Kler hervorragend einstudiert war.
Welche Raffinesse in der
Partitur steckt, wurde einem durch das Dirigat von
Leo Siberski,
erstem Kapellmeister am Opernhaus Kiel, bewusst. Geradezu
traumwandlerisch sicher das Spiel der Kieler Symphoniker, ein Genuss
die Soloparts, hier hervorzuheben die Violine. Alles passte
zusammen, alles wie aus einem Guss und man kann
dem Opernhaus Kiel nur danken für einen Opernabend, der
Suchtpotential hat!
Claus Brandt
Vor einigen Jahren habe ich in Prag erstmalig Leo Janaceks „Jenufa“
gesehen. Wie in Prag so üblich, bestach das Bühnenbild durch seinen
ausgeprägten Naturalismus, um es einigermaßen positiv auszudrücken.
Deutsches Regietheater ist von solch durchaus gelungenen
Interpretationen etwa so weit entfernt wie Anna Netrebko von ihrer
ehemaligen Figur.
Nun also zweites Kennenlernen, an der
Förde, im Opernhaus Kiel und welch ein grandioser Unterschied. Alle
Beliebigkeit, alles künstliche Drumherum mit folkloristischen
Tanzeinlagen, bunten Kostümen und großen Birken, hinweggefegt von
einer packenden Inszenierung, für die
Arila Siegert verantwortlich
zeichnet. Mit dem Bühnenbildner Hans Dieter Schaal und den Kostümen
von Marie-Luise Strandt erlebt man
die tragische Geschichte einer
verzweifelten jungen Frau hautnah, ja, man leidet mit. Da ist nichts
überzeichnet, die Tragik der handelnden Personen erschließt sich
durch sparsame Gesten, Blicke. Eine herausragende Inszenierung, die
sich mit jedem großen Opernhaus messen kann! Die Leistung der Regie
besteht in der stringenten Erzählweise ohne Mätzchen. Da reichen ein
Tisch, Stühle, eine in dunkles Blau ausgeleuchtete Bühne, um die
Emotionen der handelnden Personen transparent erscheinen zu lassen.
Ganz hervorragend die Lichtregie.
Ohnehin straft die Handlung der „Jenufa“ all die Lügen, die meinen, Opernlibretti seien doch realitätsfern und unglaubwürdig. Jenufa soll es besser haben als die Küsterin! Das hat sie sich geschworen. Und sie schreckt auch vor Kindsmord nicht zurück. Den passenden Mann hat sie auch schon ausgesucht, aber nichts läuft nach Plan. Ausgerechnet bei der Hochzeit wird die Leiche des Babys gefunden. Auch hier zeigt sich die Stärke von Jenufa, sie findet die Kraft, ihrer Stiefmutter zu verzeihen. Der Schluss der Oper, wo Jenufa und Laca gemeinsam in ein neues Leben gehen, gehört musikalisch zu den Highlights der Opernliteratur. So schön, so ergreifend wie in Kiel präsentiert, das muss man gesehen haben. Gänsehaut pur!
Stimmlich gehört ihr der Abend, Agnieszka Hauser als Jenufa! Eine
junge Sängerin, die speziell im 2. Akt (der für mich neben Puccinis
„Suor Angelica“ zu den Sachen gehört, die emotional extrem packen)
die ganze Bandbreite ihres Könnens abliefert. Schauspielerisch eine
Offenbarung, wie sie beim Gebet auf die Knie sinkt, dann die
Nachricht verdauen muss, dass ihr Kind angeblich bei der Geburt
verstorben ist. Sie stemmt die Partie grandios. Mühelos die
tückischen Höhen, zart und lyrisch die Pianostellen, eine
wundervolle Sängerin mit Potential für die Zukunft.
Marina
Fideli, die in Kiel als Carmen und Ortrud überzeugte, nun als
Küsterin, wahrlich keine leichte Partie. Wurde diese Rolle in der
bereits erwähnten Prager Inszenierung als alte, verhärmte,
knallharte Matriarchin gezeichnet, erlebt man hier eine zwar vom
Leben geprägte Frau, die aber auch liebende Mutter ist und die durch
ihre Vorgeschichte nur „das Beste“ für ihre Tochter will. Wie so
etwas ausgeht, weiß man. Frau Fideli wurde vom Publikum gefeiert,
völlig zu Recht. Sie beherrschte die Bühne, zuerst als strenge
Mutter, dann als gebrochene Frau. Ihre sängerische Leistung war
grandios, messerscharf ihre Attacken, dann im 3. Akt sanft und
lyrisch. Yoonki Baek singt den Tunichtgut Steva, mit
ausdrucksstarkem Spiel und müheloser Höhe. Schon rein vom Aussehen
das genaue Gegenteil: George Oniani als Laca, als verzweifelt
Liebender. Von der Regie war sein Rollenprofil eher verhalten
angelegt, er überzeugte durch seinen wunderbar geführten Tenor. Auch
für ihn Bravorufe vom Publikum. Der Rest des Ensembles ebenso
hochkarätig. Juliane Herberg als alte Buryja,
Christoph Woo als
Altgesell und, neu in Kiel, Timo Riihonen, der kraftvoll den
Dorfrichter gab. Ganz vorzüglich der Opernchor, der auch stark
schauspielerisch gefordert wurde. Betörend sinnlich und opulent
auftrumpfend die Kieler Symphoniker unter Leo Siberski. Da war
nichts holzschnittartig, die Solovioline einer der Höhepunkte des
Abends. Welche Kraft und Schönheit in Janaceks Musik steckt, wurde
auch dem Teil des Publikums deutlich gemacht, die diese Oper noch
nicht kannten.
Ein Abend, den man nicht
vergisst, der einem zeigt, warum man Opernfan ist. Alle Janacek-Fans
und die, die es werden wollen: Auf nach Kiel!
Maximilian von Grünfeldt
*
Der tschechische Komponist Leos Janacek (1854–1928) hat ein
umfangreiches musikalisches Werk hinterlassen, wovon sich auf
unseren Bühnen und Konzertpodien neben dem reizvollen Tiermärchen
„Das schlaue Füchslein“ vor allem die anspruchsvolle Oper „Jenufa“
erhalten hat. Auch die wird selten gespielt – in Kiel zuletzt vor 40
Jahren. An diesem Sonnabend hatte im Opernhaus am Kleinen Kiel eine
Neueinstudierung von Arila Siegert in der Urfassung von 1908 ihre
gefeierte Premiere.
Die Handlung dieses expressionistischen
Musikwerkes ist dunkel, und sehr spannend. Eine im Dorf durchaus als
Küsterin angesehene Frau will ihrer Stieftochter eignes Leid
ersparen. Als diese von einem wohlhabenden Müller schwanger wird,
fordert sie vom Kindesvater, dass dieser sein Kind anerkenne. Der
verweigert dies und in irrer Verzweiflung bringt die Großmutter das
Kind um. Dies wird erst im nächsten Frühjahr ruchbar, als das Eis
die versteckte kleine Leiche freigibt. Die Frau bekennt sich zu
ihrer Schuld und öffnet so ihrer Steiftochter den Weg in ein –
hoffentlich – schöneres Leben mit einem biederen Bürger dieses
Dorfes.
Dies alles wird in dem minimalistischen Bühnenbild von Hans Dieter Schaal – das vor allem auf die Vorstellungskraft der Zuschauer setzt – und den zeitgenössischen Kostümen von Marie-Luise Strandt spannend und mit großartigen Volksszenen erzählt. Janaceks expressionistische Tonsprache gibt den Geist der Entstehungszeit wider und geht bis an die Grenzen der Tonalität, ohne diese zu sprengen. Die Komposition setzt hohe Anforderungen an die Sänger – insbesondere an die beiden wesentlichen Frauenrollen der Küsterin Buryia und der Jenufa, die mit Marina Fideli and Agnieska Hauser hervorragend besetzt sind. Beide singen und spielen über 150 Minuten hinweg großartig. Neben ihnen haben es Yoonki Baek als Steva und George Oniani als Laca schwer. Vor allem Letzterer bleibt recht blass. Als neues Ensemblemitglied stellt sich der finnische Bassist Timo Riihonen in der kleinen Rolle des Dorfrichters vor. Die zahlreichen Nebenrollen sind eindrucksvoll besetzt und der von Barbara Kler einstudierte Chor überzeugt einmal mehr.
Der Erste Leo Siberski hat das Philharmonische Orchester und den großen Apparat jederzeit gut im Griff. Vor allem die vom Komponisten geforderten Bläser haben eindrucksvolle Einsätze. Und der Dirigent weiß das Orchester so zu dämpfen, dass es die Sänger nicht überdeckt. Der Schlussbeifall ist lang und stürmisch.
Horst Schinzel
Vorberichte:
Arila Siegerts kühl geometrische Inszenierung der Händel-Oper „Agrippina“ gehörte in der vergangenen Saison zu den Highlights am Kieler Opernhaus. Jetzt bringt die Tänzerin, Choreografin und vielgefragte Opernregisseurin dort Leoš Janáčeks Literaturoper „Jenůfa“ auf die Bühne. Premiere ist am 28. September.
Kiel. „Ich bin ein bisschen aufgeregt“, sagt Arila Siegert, „ob alles funktioniert.“ Am Abend geht es am Kieler Opernhaus nach drei Tagen Pause in die Endproben. „Da werden noch viele Feinschrauben gestellt“, stimmt der Erste Kapellmeister Leo Siberski zu. „Es ist eine interessante Phase, wenn Musik, Licht und Bühne endlich zusammenkommen“, sagt die Regisseurin, scheint im Kopf schon ihren Bildern zu folgen und glüht ganz offensichtlich für ihre Arbeit. „Noch haben sich die Dinge nicht gesetzt, ist alles im Fluss.“ An Jenůfa hat sie gereizt, wie Komponist Leos Janacek (1854-1928) von der Sprache ausgehend Musik macht. „Das schafft eine besondere Expressivität, schnelle Stimmungswechsel und überhaupt ein enormes Tempo.“ Ohne Leerräume oder Ziselierungen treibt die Musik die Geschichte voran. „Die inneren Vorgänge der Figuren werden im Orchester beinahe stärker abgebildet als auf der Bühne“, ergänzt der Dirigent. „Janáček hat ja nur nachts komponiert. Das merkt man der Musik an. Dem wahnwitzigen Tempo und wie es quer durch die Tonarten geht. Wie in einem Delirium.“
Soviel Emotionalität entspricht der wilden Geschichte der tschechischen Schriftstellerin Gabriele Preissová, deren Drama (Ihre Ziehtochter) Janáček übernahm, für sein Libretto aber stark straffte. Es geht um Jenůfa, die von dem jungen Laca verehrt wird und von dessen Bruder Steva ein Kind erwartet. Um eine Mutter, die von dieser Schwangerschaft nichts weiß und die Heirat verhindert, weil sie der Tochter die Ehe mit einem Saufbold ersparen will. Und die später das Kind ermordet. „Das ist schon ein sehr extremer Plot“, sagt Arila Siegert und findet die Geschichte aus dem mährischen Bauernmilieu zum Ende des 19. Jahrhunderts dennoch bis heute nachvollziehbar: „Das alte traurige System, dass die Frau schuldig ist, weil sie schwanger wird, das gilt immer noch in vielen Teilen der Welt.“
Das folkloristische Moment, das im Milieu der Geschichte begründet liegt und das Janacek in seine Musik aufnahm, will auch Siegert nicht verleugnen. Marie-Luise Strandt hat sich für ihre Kostüme an den Trachten der Gegend orientiert, Bühnenbildner Hans Dieter Schaal ein Gehäuse aus Holzbalken auf die Bühne gebaut. „Darin stecken die Figuren alle fest, verklebt wie Pech und Schwefel“, sagt Siegert, „denn Fehler haben sie alle gemacht.“ Ihr ist vor allem die metaphysische Dimension der Geschichte wichtig: „Wir zeigen das Rad der Existenz, in dem wir gefangen sind und das Janacek am Ende durch das Verzeihen öffnet“. Und wenn sie dazu die Bewegung als Motor beschwört, die Bedeutung der Positionen im Raum, dann wird auch die Berghaus-Schule des szenischen Teams spürbar.
Fast zwanzig Jahre lang, mit langen Pausen hat Janacek an Jenufa gearbeitet, bevor die Oper 1904 in Brünn Uraufführung feierte – nur um danach zunächst vom Komponisten selbst, später am Prager Nationaltheater von Karl Kovarovic nochmals bearbeitet zu werden. Ein bisschen „glatt gebügelt“, wie Siberski sagt. Entsprechend hat man sich in Kiel für Janaceks Brünner Fassung entschieden und außerdem für die tschechische Originalsprache, für deren Einstudierung mit Józef Katrak eigens ein Muttersprachler engagiert wurde. „Hochtschechisch, mährischer Dialekt – das war Fitzelarbeit“, sagt Siberski und begeistert sich zugleich für das ausgesprochen Moderne in der Musik: „Was Janáček da macht, das wurde im Grunde viel später, in den Sechzigern, zum Prinzip der Minimal Music: Da werden aus kleinen, sich fortlaufend wiederholenden Motiven Klangflächen. Nur, dass sie hier tiefe Einblicke in die Seele geben.“
www.theater-kiel.de
Im Kieler Opernhaus am Rathausplatz wird heute Abend um 19.30 Uhr wieder einmal eine Premiere gefeiert. Die Oper „Jenufa“ des tschechischen Komponisten Leos Janacek wird dann erstmals sein über 40 Jahren wieder in Kiel gespielt. Die Regie hat Arila Siegert, die musikalische Leitung Leo Siberski. Damit eröffnet die Oper Kiel ihre Spielzeit 2013/2014.
Zur Handlung: Jenufa soll es einmal besser ergehen als ihr, das hat sich die Küsterin geschworen. Sie hatte einen Spieler und Trinker geheiratet, der jung starb und sie mit ihrer Stieftochter Jenufa allein ließ, nachdem er den Besitz verprasst hatte. Den richtigen Mann für Jenufa hat die Küsterin schon im Auge: Laca Klemen, fleißig und verlässlich, und darüber hinaus auch noch in Jenufa verliebt. Doch Jenufa liebt nicht Laca, sondern dessen Halbbruder Stewa, der die Küsterin fatal an ihren verstorbenen Mann erinnert. Als Stewa tatsächlich die schwangere Jenufa im Stich lässt und der rasend eifersüchtige Laca ihr auch noch das Gesicht zerschneidet, sieht die Küsterin nur noch einen Weg: Jenufas Baby muss verschwinden.
In dieser Familie wäre eine Familienaufstellung aufschlussreich, denn ihre Mitglieder wiederholen wie ferngesteuert die Konflikte der vorherigen Generation. Die Küsterin will den Mechanismus zwar unbedingt unterbrechen, setzt ihn gerade dadurch jedoch wieder in Gang.