Es war Rameaus vorletzte Oper, eine Ballett-Oper. 1760 wurde sie uraufgeführt – und kein Erfolg. Rameau, damals knapp 77 Jahre alt, war in einer Krise. 1752 wurde er hinein gezogen in den sogenannten Buffonisten-Streit. Es ging darum, die etwas schwerfällig-zeremonielle Tragédie lyrique ästhetisch zu öffnen hin zu mehr Leichtigkeit im Stile der italienischen Buffa mit ihren lebensnäheren Stoffen, weg vom barocken Ausmalen der Mythologie. Auch Rousseau und die Aufklärer mischten sich ein in die Debatte, warfen Rameau seine allzu verzierte, zu wenig natürliche Melodik vor, zweifelten generell am Französischen als operngemäßer Sprache gegenüber dem Italienischen als einer „Musik des Herzens“.
Rameau konnte die Kritiker zwar abschütteln, aber lange Jahre brachte er keine neue Oper heraus. Mit „Les Paladins“ wollte er neu anfangen. Der Stoff ist, einer Fabel La Fontaines folgend, nachgebildet den Vormund-Mündel-Stereotypen der Neapolitanischen Buffa: älterer Mann und Vormund einer jungen Frau, will diese (und ihre Mitgift) ehelichen. Aber die junge Frau hat einen anderen jungen Partner im Sinn. Es gilt den Ausbruch zu organisieren aus dem nicht nur sprichwörtlichen Gefängnis. Und dieser junge Mann, Atis, macht das durchaus mit Pfiff: er maskiert sich als frommer Pilger, mimt mit seinen Genossen den Aufbruch nach Kythera. Dem Alten, Anselme, werden die goldenen Knochen vorgeworfen, an denen er ja eigentlich nagen wollte. Und Argie, so heißt die junge Frau, sucht mit Atis das Weite. So feiern sie den Triumph ihrer Liebe in einem Fest der Kreativität.
Aber Rameau wäre nicht Rameau, hätte er nicht auch einige kleine Gemeinheiten in seine Oper verpackt, wiewohl er den Rationalisten durchaus nahe stand. Dass Atis und seine Pilgrime als Blumenkinder daher tanzen, als ob sie sich à la Watteau einschifften nach Kythera, ist gewiss auch ein Klacks Senf des aus Dijon gebürtigen Komponisten auf das Haupt von Rousseau und seiner Anhängerschaft. So porentief bio-rein wie der Natur-Philosoph sich gab, war er nun wirklich nicht. Und auch die verfaulende Aristokratie des ewig lüsternen und immer klammeren Louis XV und seine geldgierigen Ministerial-Bürokratie bekommen ihr Fett ab. „Wir wollen keine Sklaven sein“, auch Liebessklaven nicht, singt Argie triumphierend am Ende. Der „liberté“ wird schon hier das Wort geredet unter dem Zeichen bruderschaftlicher „fraternité“.
Woran das Publikum damals sich störte, war Rameaus Vermischung der Gattungen. Man empfand das als Einebnung der Klassen. Es durfte nicht sein, dass ein Komponist die Elemente der älteren Tragédie lyrique, auch wenn die aufgefächert waren durch viele Ballette, mischte mit den neuen Elementen der Buffa. Da konkurrierten mit einem alternden Freier von aristokratischem Habitus auch dumme Gefängniswärter und listige Dienerinnen auf der Opernbühne. Uns heute reizt gerade diese Mischung. Dennoch ist diese Oper seit der Wiederentdeckung 1967 in Lyon nur selten aufgeführt worden. Zum einen wohl, weil sich keine wirkliche Rameau-Aufführungs-Tradition heraus bilden konnte; der französische Königshof hatte die Opern Rameaus für sich reserviert in Paris, und sie wurden mit der Revolution „verschluckt“. Zum anderen bedarf es sie aufzuführen einiger organisatorischer Anstrengungen wegen der Ballette. Die sind integraler Bestandteil der Partitur, auch wenn man behutsam kürzen muss, um den Fluss der Handlung nicht zu gefährden.
Die kleinteilige Musik des gelernten Organisten Rameau mit ihren überraschenden Modulationen und oft abrupten auch rhythmischen Wechseln empfanden die Zeitgenossen damals als „geräuschhaft“ wild. Gerade dies und die rhythmische Kraft der eher rustikalen Tänze sind die Stärke dieses Werks. Dennoch keine Oper wie andere, fast schon ein barockes Musical. Man muss sich auf etwas sehr Besonderes ein- und alte Opern-Sehgewohnheiten beiseitelassen.
Tanz, Ballett, Oper erfordern unterschiedliche Sicht- und Herangehensweisen. Einlagen genügen mir in der Oper nicht. So habe ich versucht, die Tänze in die Handlung zu integrieren. Für mich ist der körperliche Ausdruck viel inspirierender, nicht unterworfen sprachlichen Missverständnissen. Und das Körperliche gehört ja mit zur Komödie. Konzeptuelles Theater – etwa auch ausgehend von einem Bühnenbild, dass etwas in einem China-Restaurant spielt oder auf einer Wendeltreppe, und dass das dann gnadenlos durchgezogen wird –, so was interessiert mich nicht. Meine Arbeit geht aus vom jeweiligen Sinn der Szene. Ich versuche daraus die Mittel zu entwickeln. Und körperliches Theater ist sinnliches Theater; das gehört ja auch zur Commedia dell’ arte, die im Stück präsent ist. Das Rhythmische der Musik, das Bewegliche der Fabel, die auch mit einer Fee arbeitet, also mit der Ebene, die wir nicht sehen, auf die wir aber reagieren – das alles hat mir geholfen, dass die Tänze eingeflossen sind in die Handlung und dort Sinn machen. Ungewöhnlich war, dass Sänger, Tänzer und Chor – dass alle körperlich arbeiten mussten. Besonders auch der Chor war sehr glücklich dabei. Auch durch meine spezielle Konzeption, dass ein Maler live die Szene übermalt, ließen sich eigentlich alle Tänze im Wesentlichen erhalten mit leichten Umstellungen und Kürzungen. Eine Linie im Stück heißt ja Beweglichkeit, Fantasie, Pilgerschaft, Verrückt-Sein.
Tanz war die große Leidenschaft Ludwigs XIV., und das hat sich dann als Mode fortgesetzt. Tänze wurden einfach verlangt, sie gehörten zur Noblesse und Eleganz des französischen Theaters. So empfinde auch ich das, dass Musik und Tanz als eine ganz wichtige Ebene in der Oper integriert wurden.
Der Anspruch auf Freiheit und Glück, um die es im Stück geht, bleibt ja ein Menschenrecht, das immer wieder gefährdet ist, und das wir immer wieder verteidigen müssen. Die Idee der Freiheit, des persönlichen Glücks und der Brüderlichkeit, die ja schon im Titel der Paladins – der Freunde, Vertrauten – mit angesprochen ist, das ist eine ganz grundlegende Forderung an die Menschheit. Und insofern sickert das durch alle Ritzen dieser hochartifiziellen Musik und dieser sehr eleganten und überaus künstlichen Art, miteinander umzugehen. Interessant ist diese Doppelbödigkeit, wie Rousseaus Maxime „zurück zur Natur“ verbunden wird mit der hochartifiziellen Ausdrucksform der Verzierungen und der sich immer mehr verkünstelnden Sprache. Das ist ein großer Reiz fürs Theater.
Ganz direkt: er verliert, wird ausgelacht, aussortiert, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft. Er ist am Ende der Genasführte, der jetzt anfangen muss zu „pilgern“, um aus dieser Einsamkeit, in der er endet, wieder heraus zu finden.
Wenn er daran teilnehmen will, muss er im Sinne des Stücks „pilgern“. Insofern ist es auch ein Stück, das sehr genau den Finger auf das Problem der Zeit legt. Dieser Alte, der Anselme, steht ja für den König und sein System, er steht für die herrschenden Verhältnisse, die Macht, das Geld und die Privilegien. Er verkörpert die feudale Willkürherrschaft, die hier gebrandmarkt wird, er will bestimmen wie er will. Die Autoren konnten das nicht direkt sagen, sie haben es auf die bürgerliche Ebene geschoben, die ja auch modern war in dieser Zeit – also nachzudenken, was möglich ist außerhalb der Hofgesellschaft –, aber gemeint war schon der König und der Hof.
Ganz harmonisch, auch mit dem einen Breakdancer in der Truppe. Diese verrückte Musik mit dieser sehr ausgeprägten Rhythmik ist ja fast Ba-Rock, wirkt sehr modern auch für uns heute.
Mein Thema im Stück ist die Fantasie, das Überwinden von auch existenziellen Problemen durch eigenschöpferisches Denken im Sinne von: „Okay, ich bin am Ende und was mache ich jetzt? Was stelle ich an, damit ich weiter leben kann und Spaß habe am Leben?“ Dadurch kam die Idee, Helges Malerei mit einzubeziehen. Die Malerei greift direkt in das Bild, das der Zuschauer sieht, ein und verändert es im Moment nochmal. Dadurch entsteht ein Impuls beim Betrachter, die Veränderung, die jede Minute mit uns passiert, noch deutlicher wahrzunehmen. Das löst ein Gefühl und ein Denken aus: alles ist beweglich, alles ist veränderbar, und du bist derjenige, der das selber gestalten kann.
Es hat sich eines aus dem anderen entwickelt. Die Kleinteiligkeit ist schon ein Problem. Das hatte ich aber auch schon vorher bei Purcells „Dido and Aeneas“ studiert: wie geht man mit solchen schnellen Wechseln um? Es gibt in „Les Paladins“ keine langen Arien, die längste ist vier Minuten, die meisten sind weniger als zwei. Und meistens sind es Rezitative und Ariosi. Die Kleinteiligkeit bringt aber auch einen großen Reiz und Unterhaltungswert. Die Gefahr ist, dass man sich verzettelt. Man muss die großen Linien des Stücks im Auge behalten. Ob das gelungen ist, wird man erst am Ende sehen.
In dem Stück mischt sich die französische tragédie lyrique mit der italienischen opera buffa. Im Grunde denkt der über siebzigjährige Künstler Rameau hier nach über seine eigene Situation: wie kann, wie muss sich die ältere französische Tradition der tragédie lyrique wandeln unterm Einfluss der modernen italienischen Oper? Was passiert in diesem Spannungsfeld von Volks- und Hoftheater? Es geht um Jung und Alt, auch um die Erziehung der Jugend. Im Stück gibt es ja auch diese philosophische Ebene, dass die Fee Manto – also die unsichtbaren Geister, die um uns sind – helfen zu uns selbst zu kommen. Das wird vorgeführt an der Hauptrolle, dem Atis, dem jungen Mann, der seine Liebste, Argie, verloren hat und sie wieder zu gewinnen sucht mit Hilfe seiner Freunde. Also es sind sehr viele Gedanken, die das Stück zu dem machen, was es ist: ein philosophisch-theatralischer Entwurf, über Zeit und Leben zu reflektieren. Man spürt auch die große Distanz, wie das Material behandelt wird. In der Komödie liegen ja Lachen und Weinen eng beieinander und die Trauer, warum wir etwas so machen und nicht anders.
Darin unterscheidet sich Händel, dessen „Alcina“ ich zuvor inszeniert habe, sehr von diesem Stück. Bei Händel ist alles sehr direkt. Hier wird alles verklausuliert. Man drückt sich immer indirekt aus, durch die Blume, verdreht Dinge, um an sein Ziel zu kommen. Sich geistreich, spritzig, verrückt zu geben, sodass alle von einem begeistert sind, und man dennoch hartnäckig seine Ziele verfolgt, das ist eine ganz eigentümliche Form der Kommunikation. Am Hof waren sie ja hochgebildet, langeweilten sich und ersannen Ränke. Auch verbale, indem sie sich gegenseitig in die Irre führten.
Schein und Sein, sich dahin zu erziehen, dass man knallhart seine Ziele verfolgt, aber das überhaupt nicht zeigt, sondern ganz charmant und obenhin sich darstellt, ohne dass man seine wahren Absichten zeigt – das ist in diesem Stück sehr präsent. Rameau hat das in einer sehr witzigen, fantasievollen Form künstlerisch bearbeitet.
Die Prostitution, dass man seine Ziele erreichen will und die anderen dafür benutzt und es einem ganz egal ist, ob man lügt und die anderen in die Irre führt – die Härte dieser nebulösen Scheinwelt ist auch in dem Stück. Ganz brutal – und sehr aktuell. Und es wird immer simuliert, als ob das alles ganz toll ist. Das ist schon sehr verrückt und hat sehr viel zu tun mit dem, wie wir scheinen, erscheinen wollen und was wir wirklich tun, was wir sind.