SIEGERT: Weil das Poetische mich anzieht, das Theater der inneren Situationen, der Seelenlandschaften, ein nicht-realistisches Theater.
Nein, man dringt nur immer tiefer ein durch die Arbeit. Das ist ja das Interessante, dass man sich mit allem, was man ist, hat, fühlt und denkt, in diesen Prozess hinein begibt. Und der wirkt dann zurück, dass alles in einem arbeitet und Türen sich öffnen.
Im Antiken kommt das Individuelle - auch wenn die politische Situation eine große Rolle spielt - sehr stark zur Geltung. Das gefällt mir, ich bin Individualistin. Sich behaupten gegen den Rest der Welt mit seinen Instinkten und Leidenschaften, der eigenen Kraft vertrauen, sich nicht abhängig machen, soweit als möglich, und sich Situationen schaffen, wo man lebendig und frei aus dem Moment heraus agieren kann, das mag mich.
Ja - würde ich für mich so sehen. Aber es ist noch mehr. Es ist die bohrende Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen, die sich lieben. Das geht in Richtung: was ist Partnerschaft? Weil, wahre Partnerschaft findet jenseits von Chefsesseln statt, hat nichts zu tun mit Geld und Macht.
Da spielt der Mythos mit rein von Orpheus und Eurydike: Dieses
Sich-nicht-Erkennen-Können. Deshalb stirbt ja auch Eurydike.
Sich-Erkennen ist ja auch ein Prozess, der nur funktioniert, wenn beide
Seiten sich erkennen wollen.
Bei Odysseus haben wir es zu tun mit einem zentralen Motiv menschlicher
Kondition: der Wanderer, der Heimkehrer, der Gestrandete; der Mann, der
die eigene Haltung - wie Penelope - über Gott und die Welt stellt,
selber Frevler und Dulder zugleich, eine kristalline Figur; der dieses
Suchen, Jagen, Weggehen vom Ort, Erproben der Manneskraft, Bestehen,
Sich-Beweisen-Müssen immer wieder durch exerziert. Und eigentlich ist
er ja ein Mann, der gerne seinen Acker bestellt hätte und bei Frau und
Kind am Herd geblieben wäre. Das Kriegshandwerk liebt er nicht.
So ist das bis heute. Ganz viele Männer melden sich zum Kriegsdienst,
weil sie nicht mehr das Selbstvertrauen haben – was Odysseus noch hatte
- und sich irgendwie beweisen müssen. Der Chefsessel gehört dazu. Frauen
machen das inzwischen auch wie die Männer. Insofern ist es eigentlich
ein Paradoxon, und das tangiert das Problem Partnerschaft: Das Warten
wie Penelope und das endlose, ruhelose Suchen nach einem Zuhause wie
Odysseus. Die beiden können nicht wieder zusammenkommen.
Durch die Globalisierung heute verändert sich der Heimatbegriff und wird
sich sicher neu definieren. Schon wir aus dem Osten sind einer
grundlegenden Verschiebung unterworfen, die eigene Heimat ist nicht mehr
dieselbe, es hat sich so viel verändert, dass man sich im Ausland fast
wohler fühlt. Diejenigen, die am Alten festhalten wollen und sich
rückorientieren, kommen aus der Sentimentalität nicht mehr raus. Im
Prinzip hat das vom Stillstand bei Penelope.
Ich habe keine feste Zeit, vieles wirkt zusammen. Der Mythos, das
Antikische spielt mit und Fauré und sein Verständnis, was er in seiner
Musik ausdrückt, und unsere eigene Erfahrung. Die kann man ja nicht
ausschalten. Man setzt sich als Mensch dazu ins Verhältnis.
Wir arbeiten im Theater mit Menschen und artikulieren über den Körper
und die Stimme immer wieder die Probleme, die in allen Zeiten ähneln -
wie eben die Beziehung zwischen zwei Menschen, nach wie vor eines der
größten Probleme. Die Kostüme von Marie-Luise Strandt zeigen das
genauso, sie entwickeln sich auch jetzt in den Proben immer noch weiter,
es ist ein Prozess.
Penelope ist vom Patriarchat vereinnahmt. Sie wählt nicht den Mann, den sie möchte, oder schickt ihn nach Hause, wenn sie ihn nicht mehr mag. Sie ist das Gegenstück von Helena, das Symbol ehelicher Treue. Sie wartet. Trotzdem finde ich, dass Penelope den Freiern gegenüber Stärke zeigt, die aus dem archaischen Stolz rührt, an sich selber zu glauben. Die eigenen Gefühle, schon ins Krankhafte übersteigert, sind ihr das Höchste. Sie ist wie eine Schlafwandlerin, opfert gnadenlos die Dienerinnen im Palast, den Besitz und das ganze Staatsgefüge. Es interessiert sie eigentlich nicht.
Der Mythos entstand aus dem Ritual. Der Name Odysseus ist vorgriechisch,
bei Homer bedeutet er der Zaudernde, der Hasser. Der Ursprung des Mythos
ist mesopotamisch. Sowieso begreifen wir die Antike als Urgestein oder
Steinbruch unserer Kultur. Die Antike ist kulturell eigentlich unsere
Kindheit. Im 8. Jahrhundert vor Christus hat Homer die Geschichte
aufgeschrieben und die heute überlieferte Endfassung hergestellt. Damals
schon wurde das Schulstoff - was ich sehr gut nachvollziehen kann. Es
ist demagogisch: Dass die Männer Krieg machen und töten, sei gottgewollt
und rechtens. Das Töten wird als „Werk“ bezeichnet. Das Patriarchalische
in dem Stoff ist sehr dominant, es ist ein patriarchalisches Stück.
Aber auch die matriarchalische Vorgesellschaft wirkt noch herein in der
Figur der Eurykleia. Sie ist die Amme, Urmutter; sie ist mythologisch
verbunden mit den Weberinnen, germanisch Nornen, griechisch
Moirai, lateinisch Parzen; die halten die Welt zusammen.
Mich hat interessiert, was George Thomson darüber schreibt: Das
Altgriechische „moira“ hat die Grundbedeutung „teilen“,
im Sinne von Schicksal, Los zuteilen. Früher wurde vieles durch Los
entschieden. Im alten Clan blieben die Frauen sesshaft, und die Männer
heirateten in die anderen Clans. Die Frauen teilten bei den Mahlzeiten
die Stücke zu, der Vornehmste bekam das beste Stück.
Krieg ist eine weiter entwickelte Form des Jagens. Die Frauen
verarbeiteten die Tiere, die Wolle, die die Männer nach Hause brachten.
Die Arbeitsteilung beförderte den Übergang zu dem, was man
"Zivilisation" nennt. Die Könige entwickelten sich aus den Führern bei
Jagd und Krieg. Der König bekam den größten Anteil. Besitz bestand nicht
aus Land, sondern aus Beute. Könige wohnten in Palästen, umgeben von
ihren Vasallen, die für den König Kriegsdienst leisten mussten. Für
diesen Dienst erhielt der Gefolgsmann einen bestimmten Teil des
eroberten Gebietes als Lehen. Dafür griff er für den König zu den
Waffen.
Odysseus versuchte vergeblich, dem Krieg in Troja sich zu entziehen. Er
war Vasall des Agamemnon, und den Fürsten von Ithaka gegenüber war er
der König. Vasallen hatten das Recht, in politischen Angelegenheiten zu
Rate gezogen zu werden und an der königlichen Tafel zu speisen. Das galt
auch für die Freier gegenüber Odysseus. Aber die Freier missbrauchten
ihr Vorrecht, indem sie sich bei Penelope festsetzten.
Der Turm steht für: Haus, Platz, Warten, Aussichtsturm, Elfenbeinturm,
Sich-um-sich-selber-Drehen. Der Turm ist auch wie eine Schale, aus der
wir nicht heraus kommen. Zu Nancy Gibson, der Sängerin der Penelope, habe ich gesagt:
Du bist der Turm, das ist Penelope. Die weiße Landschaft von
Hans Dieter Schaal ist ein poetisch sehr
inspirierendes Umfeld, eine eigene Welt, die sofort ausstrahlt. Sie
wirkt gleißend-leicht und tritt in Wechselwirkung mit dem Spiel und der
Musik, die auch Härte bringt.
Die Freier belagern den Turm. Fauré behandelt sie musikalisch sehr
unterschiedlich. Er hat sich nicht diesem Schwarz-Weiß unterworfen. Sie
sind nicht böse, sie sind nur Egoisten, wie wir alle, mehr oder weniger.
Sie verfangen sich in ihren Affekten Eitelkeit, Stolz, Gier, Hass und
Angst. Und Missbrauch wird aller Orten zu allen Zeiten getrieben. Auch
die Wahrheit wird benutzt, wie man sie braucht - in der Politik und in
der Wirtschaft. Das ist ein ewiges Thema. Schlag nach bei Shakespeare
- im Sonett No.66 steht das schon drin.
Ich wollte schon im Präludium dies Thema anreißen zwischen den Zeilen.
Athene ist auch eine Figur, die weg führt vom Realismus. Sie agiert -
und ist trotzdem nicht da. Aber man muss auch sagen, dass Athene eine
„patriarchalische“ Göttin ist; sie verteidigt Haus und Handwerk, Krieg
und Eroberung, alles was „Recht“ ist.
Aber ich fand es auch wichtig zu zeigen, dass Odysseus als Gestrandeter
anfängt, dass Athene ihn aus dem Schlamm holt und in einen Bettler
verwandelt, dass er dann die Szene umkreist, bis er auftritt. Das ist
auch symbolisch zu verstehen, dass Odysseus nicht das Paradies gefunden
hat. Er ist zwanzig Jahre unterwegs gewesen und kommt ziemlich alt und
kaputt zurück an seinen Ausgangspunkt.
Die Figur hat ja sonst auch nicht viel Material. Richard
Berkeley-Steele, der Sänger des Odysseus, dachte erst, das wäre eine
kleine Rolle. Jetzt ist er erstaunt über die Dimensionen.
Die sollen diese sensible Leichtigkeit der Musik zwischen Klassizismus und Impressionismus erzählen, dieses verschwimmend Durchsichtige, Transparente. Ich möchte eine große Klarheit in dem Stück, was, ohne oberflächlich zu sein, am schwersten ist - viel schwerer als das Düstere, Brutale.
Ja, und ich habe dazu eine sehr enge Beziehung. Durch die Palucca Schule bin ich ja mit allen Arten von Musik aufgewachsen. Wir haben mit sehr guten Musikern viele Stunden in der Woche improvisiert, auch viel französische Musik. Ich habe durch meinen eigenen Körper auch meine Liebe dazu entdeckt. Mit Esprit und Charme und leichter Ironie zu erzählen, kommt mir ohnehin entgegen.
Es ist wunderbar, dass Fabrice Bollon
Franzose ist und ich mich über ihn immer prüfen kann. Unsere Zusammenarbeit ist sehr fruchtbar und
angenehm. Alles was er beisteuert, hilft mir. Auch die beiden
Hauptdarsteller, Nancy Gibson und Richard Berkeley-Steele, hat er
ausgewählt, und ich bin sehr glücklich damit.
Es ist auch eine tolle Aufgabe, solche wunderbaren Werke, die kaum einer
kennt, ans Licht zu holen. Auch politisch ist das wichtig, grade hier im
Osten: Sich zu öffnen und das Andersartige zu schätzen und als
Bereicherung empfinden zu lernen. Denn das Leben spielt auf einer großen
Tastatur, und nicht bloß auf zwei Oktaven.
Der Schluss enthüllt den philosophischen Kern des Stücks: Ein Mann
beginnt wieder im Kreis zu laufen, und die Frau steht in der Tür eines
zerstörten Hauses. Fauré schließt sein Werk im Pianissimo, er wird immer
leiser. Es ist wie eine Frage. Die Empfindsamkeit Faurés hat mir immer
wieder Impulse und Anregungen gegeben: wie er tonal arbeitet - weniger
die Leitmotivik, sondern wie er die Töne setzt und alles immer wieder
hinterfragt.
Die Auseinandersetzung mit Wagner ist deutlich zu spüren.
Es war ja für diese Komponisten alle schwierig, an Wagner vorbei zu kommen.
Aber was mich fesselt, ist Faurés eigenes, fein gesponnenes
musikalisches Netz. Da steckt viel drin, gedanklich und emotional, an
Angeboten des Seins.
Das hat schon was mit Spinnen als Schicksal und der anfänglich erwähnten Archaik zu tun. Und ich denke auch, Fauré hat es musikalisch so gemeint. Es ist auch einfach historisch richtig: Die Frauen haben die Wolle verarbeitet; in der Antike wurde, wenn Feste vorbereitet wurden, mit Wolle geschmückt. Aber in unserm Stück ist es eher das versponnene Element, das Eingesponnensein und Nicht-Herausfinden-Können zu einer wirklichen Partnerschaft, zu einem wirklichen Leben. Die Freier verenden in unserer Inszenierung in dem gesponnenen Netz.