Es ist die Passion eines jungen Menschen, der sich verliert im Überangebot von London – von Großstädten. Ich sehe ihn als Heimkehrer nach einem Krieg. Er ist innerlich nicht gesettelt, nicht gefestigt, und somit eine gute Beute für den sogenannten Teufel, der in Gestalt von Nick Shadow aus ihm selbst herauswächst in meiner Version. Es ist also eine Art Gespalten-Sein, weg von sich, nicht in seinem Zentrum, nicht in sein Inneres zurück zu kehren sondern immer weiter sich von seinem eigenen Wesen zu entfernen und am Ende verrückt zu werden. Eine Krankheit, die sich heute immer mehr verbreitet.
Auch das hat mich auf die Idee gebracht, dass in Strawinskys eigener Biografie die Brüche nach den Kriegen eine große Rolle spielen. Nach dem Ersten Weltkrieg eben von seiner russischen Phase, von seinem Lehrer Rimski-Korsakov weg zu einer Art klassischen Phase, wie man sie nannte. Und nach dem Zweiten Weltkrieg der Bruch weg von der klassischen in eine atonale Phase. Also ich glaube, dass „L‘histoire du soldat“ und „The Rake’s Progress“ Markierungen in dem Schaffen von Strawinsky sind. Und ich dachte auch deshalb, dass diese Kriegserlebnisse, die Vertreibung und dieses Sich-Verlieren dazu gehören zu dieser Passion des Tom Rakewell.
Es ist beides: die äußeren, dass wir nicht genug Bindungen in der Realität haben, und auch die innere Zerrüttung, das innere Schwanken, das Nicht-in-sich-Ruhen, was natürlich dieser Verführung durch Medien, Menschen, Werbung, Geld usw. Tür und Tor öffnet, wo man immer glaubt, außerhalb das Glück zu finden, und sich selbst und die Menschenwürde dabei verliert.
Sekundär ist der Ausgangspunkt, die Hogarth–Vorlage in dem Werk. Strawinsky hat sich anregen lassen von diesen „Rake‘s Progress“-Stichen von Hogarth. Die Entwicklung des jungen Mannes, und seine Niederlage hat er auf seine Zeit übertragen und ganz modern gestaltet. Ich glaube, dass Strawinskys Absicht darin lag, diesen Verlust der Identität, den er selbst auch durch die Kriege und das Verlassen seiner Heimat – er ist ja bis nach Amerika, nach Los Angeles ausgewandert – erlitten hat, was heutzutage ein ganz modernes Thema ist, dass das die Verbindungslinie ist: nach anderem streben als nach der eigenen inneren Einkehr, oder dass man mit sich im Einklang ist und dass man sich mit dem, was man hat und was man als gut erkennt, was man gut für sich findet, dass man das wertschätzt und nicht immer wegschmeißt, um was Neues zu kaufen. Und dass die besten Dinge im Leben nicht zu kaufen sind sondern zu erkämpfen. Und wenn man diesen Kampf nicht führt, dass man dann das Beste verliert und dass die Voraussetzungen dafür schlecht sind, wenn man sich kaufen lässt. Das wird erzählt. Und insofern ist das auch wieder eine moralische Geschichte.
Ja, man kann es auch mit liederlich übersetzen, ein liederlicher oder gedankenloser oder oberflächlicher am besten aber mit ein leichtsinniger Mensch, einer der mit dem, was er hat, nicht sorgfältig umgeht. Er geht oberflächlich mit seinem Leben, seinen Beziehungen, seinen Möglichkeiten um. Und das ist in dieser kapitalistischen Gesellschaftsordnung verheerend, die Geldwelt schlägt gnadenlos zurück.
Sie haben ganz unterschiedliche Funktionen im Stück. Die Anne ist der Anfang und das Ende. Es ist die tiefste Beziehung, die es auf der Welt gibt, also das Mädchen, die Frau, die Mutter – die Hure ist es nicht. Sie ist fast eine Marien-Figur, vom Anfang bis zum Ende in seinem Herzen. Er liebt sie, glaubt aber, je schlimmer es mit seinem Tun wird, dass er ihr nicht in die Augen schauen darf. Er schämt sich, glaubt sich ihrer nicht würdig. Die Türken-Baba ist eine Etappe seines Lebens, wo er glaubt, wenn er was Außergewöhnliches tut – also die Attraktion in London, die Frau mit dem Bart, die in allen Zeitungen abgelichtet wird, zu heiraten – , dann ist er auch in allen Zeitungen, ist auch berühmt. Er denkt, dass ihm das hilft sich zu verwirklichen. Das ist dieser Versuch, über die Medien berühmt zu werden à la Lady Gaga, was viele sich wünschen, die wir heute konfrontiert sind mit den Medien: mit Zeitung, Internet, Fernsehen, sozialen Medien. Es geht darum, bekannt zu werden. Er will das mit der Türken-Baba erreichen. Die Baba allerdings ist eine Künstlerin. Sie wird sich dann für Anne und letztlich für Tom einsetzen, indem sie der Anne sagt: er liebt dich, geh‘ und such‘ ihn. Also sie ist auch eine positive Kraft in „Rake’s Progress“. Sie verbündet sich mit Anne.
Er ist, wie der Teufel ist. Er zeigt uns die Wahrheiten auf. Er verführt uns und sagt: schaut, wie leicht ihr euch verführen lasst. Warum seid ihr so blöde? Der Nick ist eine schillernde Figur, ein Spieler, der immer wieder den Finger in die Wunde legt.
Es ist eine Schwierigkeit, weil aus den sehr wechselhaften, kurzen Szenen – Ariosi, Rezitativen, Zwischenspielen – ein filmschnittartiges Kaleidoskop von Ideen, Aspekten, psychischen und auch emotionalen Bildern geschaffen wird, denen man beim Gestaltgeben, beim Inszenieren gerecht werden muss. Und da das sehr schnell wechselt, hat das schon mit einer Art Kino-Sichtweise zu tun, wo die einzelnen Aspekte fast nahtlos filmschnittartig aneinander gesetzt werden. Das macht es sehr modern, aber auf dem Theater schwer zu inszenieren. Wenn man das nicht beachtet, kleistert man die Brüche zu und weicht die Härte auf. Es ist eine verrückte Mischung zwischen hoch-intellektuell in der Musik und im Libretto, und ganz feinen und vielschichtigen emotionalen Linien der Figuren.
Es ist kom-poniert, zusammen-gesetzt. Für mich ist die Musik die größte Inspirations-Quelle für die jeweilige Sicht im Raum und für den Vorgang zwischen den Figuren oder in einer Figur selbst.
Die Idee für diese Bühne stammt von Moritz Nitsche. Sein Vorschlag ist schon ein bisschen genial, weil das Architektonische der Musik in der Art der sich ständig wandelnden Architektur der Bühne sich widerspiegelt. Das hat etwas sehr Konstruktivistisches und Graphisches, was beides in Strawinskys Musik drin ist. Insofern ist es ein hochmusikalisches aber auch hochkompliziertes Bühnenbild. Es besteht aus Treppen und Schrägen, also aus der Idee: man klettert irgendwo hoch um dann auch wieder abzurutschen. Wer hoch steigt, kann tief fallen. Es gibt keinen gesetzten Ort. Es sind innere Zustände, die sich in Orte umwandeln. Insofern spielt das Bühnenbild als Mitspieler mit. Und das ist eine heikle und komplizierte Sache. Das Bühnenbild wird von Statisten bewegt, die sich im Geschehen mit dem Chor und den Solisten bewegen. Die Räume verändern sich ständig, wie auch die Zustände und emotionalen Situationen ineinander übergehen.
Ja, es war eine sehr schöne Zusammenarbeit. Gregor Rot ist ein Dirigent, der sich wirklich von Herzen und ganz echt sich interessiert für die Szene, und zwar – da trafen unsere Interessen aufeinander – was eben den Zusammenhang anlangt zwischen Musik und Szene: Wie ist es mit dem Hören und wie mit dem Sehen? Kann ich das verstehen, kann ich die Musik deutlich hören und dabei den szenischen Vorgang beobachten, ohne dass das eine das andere tötet? Und da hatten wir sehr viel Spaß und waren sehr vital in der Zusammenarbeit.
Ich habe es als ganz kurzes „lieto fine“ wie bei Händel im Barock oder bei Mozart verstanden in dem Sinne: es ist alles sehr traurig, aber wir müssen versuchen es zu überleben. Das Leben geht weiter, und uns geht es ja gut. Also eine optimistische Quintessenz nach dem Verlöschen dieses Tom Rakewell. Es ist unheimlich traurig und feinsinnig komponiert. Und am Schluss einer großen Oper ganz langsam und leise zu werden, ist ein Wagnis. Insofern verstehe ich dieses „lieto fine“, was wir vor dem Vorhang und mit halb erleuchtetem Saallicht spielen, womit die Darsteller sagen: wartet mal liebe Leute, wir sagen euch jetzt noch mal was kurz zu der ganzen Sache und wir danken euch fürs Kommen. Es ist so ein theatralisches Moment. Ein Strang in dem Stück ist ja auch die Sicht von Strawinsky auf das Leben als eine Art Jahrmarkt oder Kasperle-Theater. Und dass es ja auch deshalb Theater gibt, weil es uns reflektieren lässt über uns. Dass es uns erheitert, bedrückt, amüsiert und beschäftigt.