Fällt der Name Igor Strawinsky, denkt man wohl zuerst an die genialen Ballettmusiken der frühen russischen Periode des Komponisten. Dass nach der ersten Stilwende mit der „Geschichte vom Soldaten“ noch viele andere großartige Werke folgten, sitzt weniger tief im Gedächtnis. Dazu gehört die Oper „The Rake’s Progress“ aus dem Jahr 1951. Nun gibt es die Erstaufführung dieser Oper am Staatstheater Schwerin, deren Premiere am Freitagabend im Großen Haus mit begeistertem Applaus aufgenommen wurde.
Das Werk entstand nach einer gleichnamigen Bilderfolge William Hogarths von 1735. In ihr zeigt der englische Maler auf sozialkritische Art den moralischen und finanziellen Verfall eines jungen Lebemannes. Ähnlich moralisierend ist Strawinskys Werk gemeint, wie der Komponist im Epilog klarstellt. „Für faule Hände, Herzen und Köpfe findet der Teufel eine Beschäftigung“, heißt es da.
Auf diese Art des Vorführens einer Handlung zum Zweck moralischer Erkenntnis geht die Regisseurin Arila Siegert durchaus ein. Sie lässt den Teufel Nick Shadow, der den jungen Tom Rakewell verführt, als zweites Ich aus Tom selbst herauswachsen. Nick ist wie „die zweite Seele“ aus Toms Brust, die ihn seine Braut Anne verlassen und in die Großstadt London gehen heißt. Dort bringt er das von Nick vorgestreckte Geld durch und verroht und verrottet dabei menschlich mehr und mehr, bis über Jahr und Tag der Teufel den Lohn fordert, den er stets verlangt: die Seele.
Arila Siegert erzählt in symbolischen Bildern, wenn Tom und Nick sich gemeinsam in einen Mantel wickeln, oder wenn in der Stadt Menschen einzeln ihren Weg kreuz und quer zwischen den düsteren Versatzstücken von Bühnenbildner Moritz Nitsche gehen. Sie zitiert, wenn sie beim Auftritt der bärtigen Türkenbaba an die Farbigkeit der alten Commedia erinnert. Die reizvollen, typisierenden Kostüme dazu entwarf Marie-Luise Strandt. Nur stehen die Bilder oft wie gesucht nebeneinander, es fehlt ihnen der magische Fluss.
Größer ist die musikalische Faszination der Aufführung unter der Leitung des jungen Kapellmeisters Gregor Rot. Strawinsky selbst stellt die kompositorische Technik über die Inspiration. Das hört man der Musik an, die stets Routine der Machart offenbart, gleichwohl sie mit geistvollen Einfällen gespickt ist. Die Mecklenburgische Staatskapelle widmet sich der Partitur sehr engagiert, und der Dirigent erreicht mit den Musikern brillant klingende Momente. Dazu hat Ulrich Barthel den Opernchor sehr sorgfältig vorbereitet. Souverän in Rhythmik und Klang meistert er die nicht gerade einfache Chorpartie.
Auch das Solistenensemble ist vorzüglich besetzt. Die Partie der treuen Anne singt die Sopranistin Katrin Hübner hinreißend schön. Mit ihrem lyrischen Ton, der Reinheit der Intonation, dem ausdrucksvollen Spiel ist sie der Höhepunkt des Abends! Der Tenor Steffen Schantz steht ihr in der Rolle des Tom Rakewell nicht nach. Auch er ist den stimmlichen Anforderungen seiner Partie gewachsen und vermag noch am Schluss des Abends im Irrenhaus sterbend die anrührend zartesten Töne zu formulieren.
Itziar Lesaka gibt eine musikalisch prägnante, erotisch pralle, explosiv agierende Türkenbaba, geradezu das positive Gegenstück zur Intention des Autors. Stimmlich hervorragend ist auch Sebastian Kroggel als Nick Shadow. Allerdings bleibt er mehr Schatten von Tom, teuflische Verschlagenheit und echte Verführerqualitäten hat er nicht. Schließlich sind auch Igor Storozhenko als Annes Vater und Christian Hees als Auktionator für ihre Rollen prädestiniert.
Alles in allem eine Aufführung, die man sich ansehen sollte!
Andere Kritiken, wie die in der
opernwelt
6/2015 beurteilen die Produktion auf dem Hintergrund der bislang
üblichen Interpretationen, dies sei ein vor allem satirisches Stück.
Das beschreibt bei genauerem Lesen freilich nur die Oberfläche bzw. den Bilderzyklus von William Hogarth.
Die Zeitumstände der Entstehung der Oper und der heutigen
Erfahrungen zetiigen allerdings tiefer reichende
Deutungs-Möglichkeiten...
Was der Körper in der Bewegung ausdrücken kann, das hat sie bei Palucca gelernt. Sie gehörte zu Tom Schillings progressivem Tanztheater an der Komischen Oper Berlin und war Solistin in Dresden. Die Regisseure Walter Felsenstein und Ruth Berghaus hatten Einfluss auf ihre künstlerische Entwicklung. Die Tänzerin wandte sich bald der Choreografie des Ausdruckstanzes zu, aktualisierte seine Tradition, international erfolgreich.
„Ausnahmekünstlerin“, nannte sie ein Washingtoner Kritiker. 1998 inszenierte sie zum ersten Mal Oper, Verdis „Macbeth“. Inzwischen ist Arila Siegert eine renommierte Regisseurin, die im vorigen Jahr mit Mozarts „Zauberflöte“ bei einem Opernfestival in Florida debütierte. Nach Händels „Alcina“ 2009, arbeitet sie erneut am Schweriner Theater. Sie inszeniert zum ersten Male Igor Strawinskys Oper „The Rake’s Progress (Das Leben eines Wüstlings)“, die auch zum ersten Male in Schwerin zu sehen ist. Und zu hören in Originalsprache.
Ein bewährtes Thema, der vom Teufel verführte Mensch, eine bewährte Opernform mit Nummern, und dennoch hatte es Strawinskys Meisterwerk von 1951 nie leicht auf der Bühne. Was reizt Arila Siegert an „Rake’s“? „Es wird im Moment sehr viel gespielt“, entgegnet sie, „das Thema ist up to date, die Verführung durch alles, was auf die jungen Leute von außen einstürmt. Und ich glaube, dass der Tom Rakewell ein Soldat ist, Soldaten kommen immer wieder vor in dem Stück. Es hat mit der Nachkriegszeit zu tun, in der die Oper komponiert wurde. Der Rakewell ist für mich einer, der schon geschädigt und deshalb eine fette Beute für den Teufel ist.“ Eine Figur, die angesichts akuter kriegerischer Krisen aktuell wirkt? „Absolut“, sagt die Regisseurin.
Es
ist nicht mehr selten, dass Tanzprofis Oper inszenieren, was ist
anders, wenn eine Choreographin Regie führt? Arila Sieger erklärt:
„Wenn man sich solche Inszenierungen anschaut, sieht man: Es wird
viel ausdrücklicher mit dem Raum gearbeitet, es wird untersucht, was
mit der Figur passiert, wenn sie sich im Raum bewegt, mit welchem
Tempo, ob sie kleiner wird oder größer je nach ihrer
Bewegungsrichtung. Choreografie benutzt den Raum als Partner. Das
erweitert auch in der Opernregie die Deutlichkeit der Szene.“
Im Tanztheater wird Bewegung musikalisch inspiriert, das scheint bei Strawinskys Oper aufs erste Hören nicht zwangsläufig zu sein, wie regt seine Musik die Szene an? Freundlicher Widerspruch: „Diese Musik ist Bewegung mit ihren Taktwechseln. Es ist eine intellektuelle Musik, aber darin steckt sehr viel Sinn für den theatralischen Vorgang. Und sie ist sehr erfinderisch, komponiert vom Jahrmarktsspektakel bis zur Tiefenpsychologie. Genial verknüpft in filmschnittartiger Dramaturgie, zwischen Oper, Schauspiel, Tanz abrupt gewechselt. Alles ziemlich verrückt und schwierig.“ Was bedeutet das für die Regie? Leise, lächelnde Antwort: „Enormen Anspruch, und man darf die Musik nicht durch die Szene zudecken.“
Anspruch wohl auch fürs Publikum, es ist keine Oper zum Zurücklehnen, wie vielleicht bei Puccini. „Ach, wendet Siegert ein, „ich glaube, wir haben ein sehr aufmerksames Publikum, und Zurücklehnen bei Puccini will ich auch etwas bezweifeln.“ Nach lautem Lachen bescheiden: „Wir tun unser Bestes, um von der Spannweite eines Werks wenigstens einen Zipfel zu erreichen. Theater visualisiert die inneren Welten, Musik ist das Abstrakteste, Innerlichste, Seelischste in der Kunst. Wir müssen Opernbilder erfinden, die das kenntlich machen. Und das Beste für das Publikum ist, wenn es sich ganz öffnet, naiv und staunend blickt. “