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Kein Fundament, kein Haus, keine Heimat

Arila Siegert zu ihrer Inszenierung der Oper „Romeo und Julia auf dem Dorfe“
(A Village Romeo and Juliet) (UA: 21.Febr. 1907, Berlin) von Frederick Delius (29.Jan. 1862 - 10.Juni 1934)

Premiere, Badisches Staatstheater Karlsruhe, 28.Januar 2012
Musik. Leitung: Justin Brown
Bühne: Frank Philipp Schlößmann
Kostüme: Marie-Luise Strandt

Der Geiger lockt

„Romeo und Julia auf dem Dorfe“ von Frederick Delius nach Gottfried Keller ist eine Art Königskinder-Geschichte. Sie spielt im bäuerlichen Milieu der Schweiz. Was ist das Interessante daran heute?

Für mich ist das Interessante, dass in der Oper und auch in der Novelle bei Gottfried Keller die Zerbrechlichkeit, Besonderheit und Unvergleichlichkeit von Menschen und von menschlichen Beziehungen geschildert werden, dass über die Kostbarkeit menschlicher Bindungen gesprochen wird und von dem Drama, das sich abspielt, wenn diese gestört, zerstört oder vernichtet werden. Auch von dem, was ein Mensch braucht, um lebensfähig zu sein. Ich glaube, dass dieses Drama auch abhandelt, wie wichtig es ist, dass wir über den eigenen Gartenzaun schauen, was der Nachbar macht, wie es unseren Freunden geht, angesichts der Fragilität menschlichen Lebens und der Nähe des Todes.

Die Kinder

Keller hat seine Erzählung nach einer wahren Begebenheit Mitte des 19.Jahrhunderts gestaltet, angelehnt an den Shakespeareschen Plot. Zwei Nachbarskinder, die einander lieben, werden durch den Hass der Väter getrennt, finden dann doch zusammen, sehen aber keine Lebensperspektive und gehen gemeinsam in den Tod. Delius hat diese Geschichte für sein Libretto stark verkürzt. Der von Keller mit vielen realistischen und ironischen Details geschilderte soziale Niedergang der beiden Bauersfamilien ist hier sehr komprimiert. Wie fängt man das bei der Inszenierung der Oper ab?

Indem man gewichtet. Das Wichtigste ist diese zarte, verletzliche Liebe dieser beiden jungen Leute, die kein Fundament, kein Haus, keine Heimat – nichts hat. Im Gegensatz zu der Gier der Väter, die sich gegenseitig von einem Brachland bereichern, das ihnen nicht gehört. Es geht um dies Immer-mehr-haben-wollen als Ersatz für mangelnde Liebesfähigkeit, oder dass dieses Miteinander, die Liebe und die Menschlichkeit immer mehr an Raum auch in unserer heutigen Zeit verlieren. Insofern ist es immer wieder wichtig, dass man sich selbst dahin bringt, dass man überhaupt wahrnimmt, was mit den anderen Leuten los ist in dieser materiellen Welt. Dort hat Delius durch die fein psychologisierende und dennoch durchsichtige, einfache und farbige Fast-Kammermusik versucht, an diese Art der Sprache von Gottfried Keller heranzukommen. Ich glaube, dass er beim Komponieren auch immer wieder in der Novelle gelesen hat. Keller hatte die Kraft des Wortes, in einem Satz die ganze Welt erzählen zu können. Und das hat Delius in Töne gebracht.

Der Geiger lockt die jeungen Leute

Delius‘ Musik ist 1900/01 entstanden, 1907 uraufgeführt in Berlin. Sie changiert stilistisch zwischen Grieg, Wagner und Debussy, ist harmonisch vielfältig mit stark impressionistischen Zügen. Sie reflektiert mehr die inneren Gefühle und die Träume der beiden jungen Liebenden als dass sie das dramatische Geschehen schildert. Wird da nicht allzu sehr romantisiert? Wie bekommt man dennoch eine spannende Szene? Der Grundkonflikt von Besitzgier und Bigotterie ist ja durchaus nicht von gestern.

Ich verstehe das Innere und das Gefühlsleben so, dass es uns – besonders als junge Menschen – durchs Leben begleitet. Ich stehe zu dieser Romantik, ich kann mich da wiederfinden. Und für mich ist die Verinnerlichung, dass die jungen Leute nicht in die reale Welt reinkommen und nur im Traum oder in ihrem Gefühlsleben einen Raum finden von Frederick Delius sehr gut eingefangen worden. Daraus ist eine Oper entstanden mit großen musikalischen Bögen, in der sehr viel ohne Text musiziert wird. Das stellt alle, die daran arbeiten, die Solisten und den Chor, vor eine große Aufgabe. Sie müssen sich dort ganz anders einstellen, als wenn sie ihren Text haben und sich nach den Worten richten können. Sie müssen sich plötzlich nach musikalischen Bögen und inneren Zuständen bewegen. Das ist eine wirkliche Herausforderung auch für die Zusammenarbeit zwischen den Protagonisten und dem Regisseur und in diesem Falle ja Choreografen, weil sich bei Delius oft die Worte weiterspinnen musikalisch. Es ist wirklich ein choreografisches Denken nötig, um dieses merkwürdige Zusammenspiel zwischen dem Text und der Musik und der Szene so zu gestalten, dass es ineinander greift und nicht nebeneinander herläuft.

Balkonszene

Es gibt – wie in Erzählungen von Keller oft – eine geisterhafte Figur, die erst die Kinder, dann die jugendlichen Liebende sozusagen in ein anderes Leben locken will: in eine Art Paradies. Und Sali, der junge Mann, scheint sogar etwas bereit dazu, aber Vrenchen, das Mädchen, ängstigt sich vor diesem Ungewissen. Welche Funktion hat dieser „schwarze Geiger“, wie er genannt ist?

Das ist schon eine Art Teufelsfigur oder Schicksalsträger in dem Stück. Es ist der Heimatlose. Es ist der, der sich außerhalb dieser materiellen Welt bewegt. Dieses Vogelfreisein ist ja heute auch wieder ein Thema, wo wir von Land zu Land, von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle, von Stadt zu Stadt, auch von Partner zu Partner ziehen und nirgendwo ein richtiges Zuhause mehr finden. Und diese Haltung, dieses Sich-nicht-binden und Seiner-eigenen-Natur-leben, das ist der schwarze Geiger, der die beiden verführen will, sich einen eigenen Weg zu suchen, im Positiven: sich zu befreien von den kleinbürgerlichen Grenzen und über den Horizont zu schauen.

Vrenis Vater will die Tochter von Sali trennen

Andererseits ist es eben auch ein System, wo gerade die beiden jungen Leute, Sali und Vrenchen, mit ihrem eigenen Wertesystem überhaupt nicht klar kommen. Sie müssten alles, was sie bislang erlebt hatten – sie hatten ja leidlich funktionierende Familien erlebt –, das müssten sie verlassen und über Bord werfen zugunsten eines Zigeunerlebens. Dafür fühlen sie sich nicht geschaffen. Und das gibt letztlich den Ausschlag. Auch weil sie ganz monogam nur den anderen wollen. Sie wollen nicht gestört sein, keinen Partnerwechsel, kein sogenanntes modernes Leben. Sie wollen diese Liebe leben und dafür gibt es keinen Platz. Das ist ihre Tragik. Sie können nichts dafür, sie sind schuldlos.

Hochzeits-Traum

Es gibt auch noch eine Art Schein-Paradies: die Kirmes, auf der Sali und Vreni sozusagen sich noch einmal mit „irdischen“ Gütern vergnügen wollen. Aber es gelingt ihnen nicht so recht. Ist es mehr eine Hölle?

Das ist eine Schlüsselszene. Es ist der Versuch, nachdem die Familien sich ruiniert haben und das Haus von Vrenchens Eltern am nächsten Tag verkauft wird, dass Sali seiner Freundin sagt: komm, wir gehen zusammen weg. Und sie wollen sich wenigstens noch einen Tag auf dieser Kirmes vergnügen. Delius hat das komponiert wie ein Gewitter, das auf sie einbricht. Es ist eine Überlagerung von musikalischen und szenischen Ideen in ganz kurzen Abständen. Es ist wie ein Feuerwerk von Realität, was plötzlich auf sie einbricht, einschreit. Sie finden sich da gar nicht zurecht. Sie versuchen in die Society hineinzukommen, werden erkannt, werden hämisch beäugt und ausgestoßen. Sie können da nicht ankern. Keine von den Verkäuferinnen – es gibt in der Szene u.a. eine Glücksrad-, eine Pfefferkuchen-, eine Schmuckwaren-Verkäuferin sagt, komm, hilf mir im Laden, du kannst dabei was verdienen, ich helfe dir weiter. Das findet nicht statt. Sie ziehen fremd ein und bleiben es.

Die Leute vom Dorf stoßen sie aus

Das Bühnenbild, das Frank Philipp Schlößmann entworfen hat – du arbeitest mit ihm zum zweiten Mal zusammen – ist einigermaßen kompliziert. Es zeigt eine Welt von Mauern und Wänden, ein Sich-Drehen im Kreise.

Es funktioniert wunderbar. Wir sind davon ausgegangen, das in Kreisen zu erzählen. Dass wir einen inneren Kreis haben, das ist die innere Welt, die man nicht sieht, die sich in uns abspielt, die Gedanken, Gefühle, Ahnungen. Dann gibt es eine äußere Welt. Das sind die Väter, die Kirmes, die Society. Und dann gibt es eine Meta-Welt außen herum. Dazu gehören der Geiger und die Schiffer zum Schluss, die sie in die Toteninsel hineinziehen, in das sog-hafte Zentrum dieses Lebens- und Todesstücks.

Ins Paradies?

Wie kann man diese Ausweglosigkeit der Titelfiguren heute vermitteln? Es ist ja auch eine Flucht Salis vor der Verantwortung, dass er Vrenis Vater mit einem Stein halbtot geschlagen hat. Hier flüchten sie sich zunächst in eine Traum-Hochzeit, in ein Bündnis der Verschworen- und Verschwiegenheit. Kann das tragen?

Sali versucht das Vrenchen zu verteidigen, als der Vater die beiden jungen Leute im Feld beieinander entdeckt und das Vrenchen verprügelt. Es ist also eine gewisse Verteidigung und Hilfe für Vrenchen. Es ist kein Akt der Brutalität. Trotzdem wird Vrenis Vater Marti so verletzt, dass er ab da geistesgestört ist. Das belastet die jungen Leute zusätzlich. Auch dass beide Familien, die von Sali und Vreni, ruiniert sind – besonders bei Vreni hinterlässt das eine Art Schuldkomplex. Sali kann das eher rationalisieren; er sagt, wir sind nicht daran schuld, was die Väter Marti und Manz im Hass getan haben. Aber Vrenchen hat sehr früh ihre Mutter verloren – das wird von Keller ganz explizit erzählt –, Vrenchen ist nicht so stabil und bezieht vieles masochistisch auf sich. Das hat auch was mit Frau-Sein und Mann-Sein zu tun. Besonders im 19.Jahrhundert, aber heute auch. Wir Frauen verinnerlichen mehr als die Männer, sind introvertierter.

Frei sein bei den Vagabunden?

Auf den beiden liegen zwei große Lasten. Der Ruin der Familien und der Unfall mit Vrenchens Vater im Feld. Sie sind herausgelöst aus ihren Familien, haben ein gutes Leben, früher als Kinder in ihrem Bewusstsein. Das heißt: sie haben ein Bild von einem Zusammenleben. Deshalb können sie nicht das Zigeunerleben ertragen. Sie kennen das: ein warmes Bett, ein warmer Herd, warmes Essen und Zuhause-Sein. Insofern ist auch der Gang in den Paradies-Garten eher schon ein Schritt in die Todesnähe, als dass er ein echter Versuch wäre zu einem neuen Leben. Der ganze Versuch an dem Tag, zuerst zur Kirmes, dann in den Paradies-Garten, einen alten Gasthof, zu wandern, dient eher dazu, noch einen Tag zusammen zu sein und dann zu sterben. Sie fühlen das sehr früh im Stück, dass sie keinen Raum, keinen Boden haben.

Wie ist das mit dem Schluss? Bei Keller versuchen die jungen Leute ja auszuwandern, finden aber keinen Weg – außer den in einen schicksalhaften Tod. Auch bei Delius suchen sie ihr Ende in einer Art Liebestod, im 19.Jh. eine poetische Metapher für Selbstmord. Den Vagabunden, die ihnen begegnen mit dem schwarzen Geiger und sie in eine neue Freiheit naturhaften Lebens locken, gelingt es nicht, sie zu überzeugen. Insbesondere Vreni kann sich nicht lösen aus den engen Moral-Vorstellungen dieser Zeit, obwohl die eine Frau der Vagabunden-Gruppe ganz nüchtern sagt: irgendwann habt ihr einander satt, und was ist dann mit eurer Liebe? Haben die beiden jungen Verliebten keinen Sinn für die Realität, oder warum wollen sie unbedingt in den Tod?

Es ist ihr Alter: das Alles oder Nichts. Sie sind noch nicht ganz erwachsen, aber auch nicht mehr Kind, den Gefühls-Stürmen unseres Lebens ausgeliefert, wo es kein Halten gibt. Es ist genau diese Phase des Lebens, der heutzutage immer mehr junge Leute zum Opfer fallen, und wo sie sich dann das Leben nehmen.

in der Todesbarke

Dieser sehr pessimistische Schluss: Ist es auch eine Aufforderung zum Widerstand gegen diese Schicksals-Bestimmtheit oder doch mehr Verklärung? Die Geschichte hat ja durchaus autobiografische Züge: Delius selber hat sich von seinem Vater nicht „einsperren lassen“. Er sollte erst Textilkaufmann, dann Farmer in Amerika werden, ging dann nach Leipzig und Paris und tauchte in die Künstlerwelt ein, hat damit seinen Fluchtpunkt gefunden.

Komponiert ist es als eine Verklärung. Es ist eine unwahrscheinlich schöne und eigenartige Musik am Schluss. Und für mich hebt es doch den Wert einer Liebe und einer Liebesfähigkeit hervor. Tragisch ist es sowieso, dass das immer wieder passiert, dass man ohne Liebe oder eine soziale Bindung als Mensch kaputt geht. Und dass es so schwierig ist, solche sozialen Strukturen so zu erhalten, dass sie Platz bieten für alle. Es erfordert immer wieder alle Kraft, dass junge Leute Möglichkeiten haben, sich zu „saddeln“, Arbeit zu finden – gerade heut wieder ein großes Thema –, einfach diesen Schritt ins Leben zu schaffen. Aus der Kindheit heraus, aus dem Nicht-Materiellen, aus der Gedanken- und Gefühlswelt in die Realität, wo man seinen eigenen Unterhalt verdient, eine Familie gründet und seine Erfahrung macht mit diesem Leben.

was bleibt...

Und trotzdem liebesfähig bleiben.

Gemeint ist auch in der Keller-Novelle, soweit ich das verstanden habe, dass die Tragik nicht so akzentuiert ist, sondern dass das Besondere, das Wertvolle einer Liebe aufgefächert wird; dass die Liebe mehr wert ist als alles Gold der Welt; dass das uns am Leben erhält und nicht das Anhäufen von Reichtümern.

14.Jan.2012, gfk