Für mich ist das Interessante, dass in der Oper und auch in der Novelle bei Gottfried Keller die Zerbrechlichkeit, Besonderheit und Unvergleichlichkeit von Menschen und von menschlichen Beziehungen geschildert werden, dass über die Kostbarkeit menschlicher Bindungen gesprochen wird und von dem Drama, das sich abspielt, wenn diese gestört, zerstört oder vernichtet werden. Auch von dem, was ein Mensch braucht, um lebensfähig zu sein. Ich glaube, dass dieses Drama auch abhandelt, wie wichtig es ist, dass wir über den eigenen Gartenzaun schauen, was der Nachbar macht, wie es unseren Freunden geht, angesichts der Fragilität menschlichen Lebens und der Nähe des Todes.
Indem man gewichtet. Das Wichtigste ist diese zarte, verletzliche Liebe dieser beiden jungen Leute, die kein Fundament, kein Haus, keine Heimat – nichts hat. Im Gegensatz zu der Gier der Väter, die sich gegenseitig von einem Brachland bereichern, das ihnen nicht gehört. Es geht um dies Immer-mehr-haben-wollen als Ersatz für mangelnde Liebesfähigkeit, oder dass dieses Miteinander, die Liebe und die Menschlichkeit immer mehr an Raum auch in unserer heutigen Zeit verlieren. Insofern ist es immer wieder wichtig, dass man sich selbst dahin bringt, dass man überhaupt wahrnimmt, was mit den anderen Leuten los ist in dieser materiellen Welt. Dort hat Delius durch die fein psychologisierende und dennoch durchsichtige, einfache und farbige Fast-Kammermusik versucht, an diese Art der Sprache von Gottfried Keller heranzukommen. Ich glaube, dass er beim Komponieren auch immer wieder in der Novelle gelesen hat. Keller hatte die Kraft des Wortes, in einem Satz die ganze Welt erzählen zu können. Und das hat Delius in Töne gebracht.
Ich verstehe das Innere und das Gefühlsleben so, dass es uns – besonders als junge Menschen – durchs Leben begleitet. Ich stehe zu dieser Romantik, ich kann mich da wiederfinden. Und für mich ist die Verinnerlichung, dass die jungen Leute nicht in die reale Welt reinkommen und nur im Traum oder in ihrem Gefühlsleben einen Raum finden von Frederick Delius sehr gut eingefangen worden. Daraus ist eine Oper entstanden mit großen musikalischen Bögen, in der sehr viel ohne Text musiziert wird. Das stellt alle, die daran arbeiten, die Solisten und den Chor, vor eine große Aufgabe. Sie müssen sich dort ganz anders einstellen, als wenn sie ihren Text haben und sich nach den Worten richten können. Sie müssen sich plötzlich nach musikalischen Bögen und inneren Zuständen bewegen. Das ist eine wirkliche Herausforderung auch für die Zusammenarbeit zwischen den Protagonisten und dem Regisseur und in diesem Falle ja Choreografen, weil sich bei Delius oft die Worte weiterspinnen musikalisch. Es ist wirklich ein choreografisches Denken nötig, um dieses merkwürdige Zusammenspiel zwischen dem Text und der Musik und der Szene so zu gestalten, dass es ineinander greift und nicht nebeneinander herläuft.
Das ist schon eine Art Teufelsfigur oder Schicksalsträger in dem Stück. Es ist der Heimatlose. Es ist der, der sich außerhalb dieser materiellen Welt bewegt. Dieses Vogelfreisein ist ja heute auch wieder ein Thema, wo wir von Land zu Land, von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle, von Stadt zu Stadt, auch von Partner zu Partner ziehen und nirgendwo ein richtiges Zuhause mehr finden. Und diese Haltung, dieses Sich-nicht-binden und Seiner-eigenen-Natur-leben, das ist der schwarze Geiger, der die beiden verführen will, sich einen eigenen Weg zu suchen, im Positiven: sich zu befreien von den kleinbürgerlichen Grenzen und über den Horizont zu schauen.
Andererseits ist es eben auch ein System, wo gerade die beiden jungen Leute, Sali und Vrenchen, mit ihrem eigenen Wertesystem überhaupt nicht klar kommen. Sie müssten alles, was sie bislang erlebt hatten – sie hatten ja leidlich funktionierende Familien erlebt –, das müssten sie verlassen und über Bord werfen zugunsten eines Zigeunerlebens. Dafür fühlen sie sich nicht geschaffen. Und das gibt letztlich den Ausschlag. Auch weil sie ganz monogam nur den anderen wollen. Sie wollen nicht gestört sein, keinen Partnerwechsel, kein sogenanntes modernes Leben. Sie wollen diese Liebe leben und dafür gibt es keinen Platz. Das ist ihre Tragik. Sie können nichts dafür, sie sind schuldlos.
Das ist eine Schlüsselszene. Es ist der Versuch, nachdem die Familien sich ruiniert haben und das Haus von Vrenchens Eltern am nächsten Tag verkauft wird, dass Sali seiner Freundin sagt: komm, wir gehen zusammen weg. Und sie wollen sich wenigstens noch einen Tag auf dieser Kirmes vergnügen. Delius hat das komponiert wie ein Gewitter, das auf sie einbricht. Es ist eine Überlagerung von musikalischen und szenischen Ideen in ganz kurzen Abständen. Es ist wie ein Feuerwerk von Realität, was plötzlich auf sie einbricht, einschreit. Sie finden sich da gar nicht zurecht. Sie versuchen in die Society hineinzukommen, werden erkannt, werden hämisch beäugt und ausgestoßen. Sie können da nicht ankern. Keine von den Verkäuferinnen – es gibt in der Szene u.a. eine Glücksrad-, eine Pfefferkuchen-, eine Schmuckwaren-Verkäuferin sagt, komm, hilf mir im Laden, du kannst dabei was verdienen, ich helfe dir weiter. Das findet nicht statt. Sie ziehen fremd ein und bleiben es.
Es funktioniert wunderbar. Wir sind davon ausgegangen, das in Kreisen zu erzählen. Dass wir einen inneren Kreis haben, das ist die innere Welt, die man nicht sieht, die sich in uns abspielt, die Gedanken, Gefühle, Ahnungen. Dann gibt es eine äußere Welt. Das sind die Väter, die Kirmes, die Society. Und dann gibt es eine Meta-Welt außen herum. Dazu gehören der Geiger und die Schiffer zum Schluss, die sie in die Toteninsel hineinziehen, in das sog-hafte Zentrum dieses Lebens- und Todesstücks.
Sali versucht das Vrenchen zu verteidigen, als der Vater die beiden jungen Leute im Feld beieinander entdeckt und das Vrenchen verprügelt. Es ist also eine gewisse Verteidigung und Hilfe für Vrenchen. Es ist kein Akt der Brutalität. Trotzdem wird Vrenis Vater Marti so verletzt, dass er ab da geistesgestört ist. Das belastet die jungen Leute zusätzlich. Auch dass beide Familien, die von Sali und Vreni, ruiniert sind – besonders bei Vreni hinterlässt das eine Art Schuldkomplex. Sali kann das eher rationalisieren; er sagt, wir sind nicht daran schuld, was die Väter Marti und Manz im Hass getan haben. Aber Vrenchen hat sehr früh ihre Mutter verloren – das wird von Keller ganz explizit erzählt –, Vrenchen ist nicht so stabil und bezieht vieles masochistisch auf sich. Das hat auch was mit Frau-Sein und Mann-Sein zu tun. Besonders im 19.Jahrhundert, aber heute auch. Wir Frauen verinnerlichen mehr als die Männer, sind introvertierter.
Auf den beiden liegen zwei große Lasten. Der Ruin der Familien und der Unfall mit Vrenchens Vater im Feld. Sie sind herausgelöst aus ihren Familien, haben ein gutes Leben, früher als Kinder in ihrem Bewusstsein. Das heißt: sie haben ein Bild von einem Zusammenleben. Deshalb können sie nicht das Zigeunerleben ertragen. Sie kennen das: ein warmes Bett, ein warmer Herd, warmes Essen und Zuhause-Sein. Insofern ist auch der Gang in den Paradies-Garten eher schon ein Schritt in die Todesnähe, als dass er ein echter Versuch wäre zu einem neuen Leben. Der ganze Versuch an dem Tag, zuerst zur Kirmes, dann in den Paradies-Garten, einen alten Gasthof, zu wandern, dient eher dazu, noch einen Tag zusammen zu sein und dann zu sterben. Sie fühlen das sehr früh im Stück, dass sie keinen Raum, keinen Boden haben.
Es ist ihr Alter: das Alles oder Nichts. Sie sind noch nicht ganz erwachsen, aber auch nicht mehr Kind, den Gefühls-Stürmen unseres Lebens ausgeliefert, wo es kein Halten gibt. Es ist genau diese Phase des Lebens, der heutzutage immer mehr junge Leute zum Opfer fallen, und wo sie sich dann das Leben nehmen.
Komponiert ist es als eine Verklärung. Es ist eine unwahrscheinlich schöne und eigenartige Musik am Schluss. Und für mich hebt es doch den Wert einer Liebe und einer Liebesfähigkeit hervor. Tragisch ist es sowieso, dass das immer wieder passiert, dass man ohne Liebe oder eine soziale Bindung als Mensch kaputt geht. Und dass es so schwierig ist, solche sozialen Strukturen so zu erhalten, dass sie Platz bieten für alle. Es erfordert immer wieder alle Kraft, dass junge Leute Möglichkeiten haben, sich zu „saddeln“, Arbeit zu finden – gerade heut wieder ein großes Thema –, einfach diesen Schritt ins Leben zu schaffen. Aus der Kindheit heraus, aus dem Nicht-Materiellen, aus der Gedanken- und Gefühlswelt in die Realität, wo man seinen eigenen Unterhalt verdient, eine Familie gründet und seine Erfahrung macht mit diesem Leben.
Gemeint ist auch in der Keller-Novelle, soweit ich das verstanden habe, dass die Tragik nicht so akzentuiert ist, sondern dass das Besondere, das Wertvolle einer Liebe aufgefächert wird; dass die Liebe mehr wert ist als alles Gold der Welt; dass das uns am Leben erhält und nicht das Anhäufen von Reichtümern.