Marianne Vogelsang
war Tanzmeisterin bei Gustaf Rudolf Sellner in Göttingen.
Dieser wollte sie 1943 bei seinem Weggang nach Hannover dorthin mitnehmen, doch
ein gewisser Gauleiter Lauterbacher aus Hannover schritt ein. Die Zeitung Für
Dich schreibt - rückblickend - am 10. November 1946 über Marianne Vogelsang:
"Ihre Tänze gefielen dem Gauleiter nicht."
Schon das Erscheinungsbild von Marianne Vogelsang scheint ihm zu bürgerlich:
"Ihre stolze, hohe und doch gelockerte Haltung, kurzum, die ganze, Harmonie und
Sicherheit ausstrahlende Persönlichkeit empfindet er irgendwie als aufreizend
revolutionär, nicht unterwürfig genug."
Sellner konnte den Kontakt mit Marianne Vogelsang nicht eingehen. Statt
dessen erhielt sie die Möglichkeit, mit einer Gruppe von Mädchen zu arbeiten.
Sie stand dazu, sagte zur damals geforderten Kunstauffassung: "Nein, nein und
nochmals nein, jeder soll merken, welch gesunder Geist meine Truppe durchweht,
wir werden sehen, wie fest alle Mädels zu mir stehen, wenn es nötig wird" - und
es wurde bitter nötig! "Sollte ein Lauterbacher mich zum Teufel jagen, werden
alle geschlossen mit mir gehen." Marianne Vogelsang erarbeitete mit dieser
Gruppe 1944 die Szenen zum Slawischen Gesang.
Dass dieser Tanz zu slawisch, ja, wie sich Lauterbacher ausdrückte, zu
"ostisch, russisch" für jene Zeit wirkte und nicht den damaligen
kulturpolitischen und künstlerischen Interessen entsprach, können wir uns
vorstellen, und wir glauben der Künstlerin gern, dass mit dem Publikumserfolg
auch die Katastrophe über Meisterin und Truppe hereinbrach. Unglücklicherweise
fiel die Aufführung 1944 auch in die Zeit der Zerbombung von Hannover, kurzum,
es war aus mit dem Tanz.
Marianne Vogelsang zog sich mit ihren Tänzerinnen auf das Land nach Einbeck
bei Hannover zurück. Doch kurze Zeit später wurden sie alle zusammen abgeholt
und zur Zwangsarbeit in eine Mine gebracht. Dort mussten die Mädchen sich mit
"Ostarbeitern und Jugendhäftlingen", so ein Zitat wiederum aus "Für Dich", "in
die schwerste Zwangsarbeit teilen. Die Lust am Tanzen sollte ihnen vergehen, sie
sollten für ihren Beruf für immer untauglich gemacht werden." Doch die Leiterin
der Truppe hielt fest zu ihrem Ensemble und konnte später durch Sellner ein Ende
dieser Zwangsarbeit erwirken.
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Marianne Vogelsang war Dresdnerin, sie wurde am 19. Oktober 1912 geboren. Bis
1929 besuchte sie das Mädchen-Gymnasium und war anschließend, bis 1934, eine der
ersten Schülerinnen Gret Paluccas. Ihr Diplom für Tanz und Tanzpädagogik erhielt
sie am 31. Mai 1933. Sie gehörte neben Herta Fischer und
Charlotte Hölzner dem
bekannten Palucca-Trio an. Sie traten in einer Arabesque nach Cassado
auf, dann im Grazioso, einer Volksmusikadaption, und in einem Cantion nach
Granados tanzte Marianne Vogelsang gemeinsam mit Palucca. 1935 gab sie dann
ihren ersten Tanzabend.
Interessant ist die folgende Kritik, in der sich schon
soviel Wesentliches und Typisches über sie findet: "Marianne Vogelsang, eine
junge Dresdnerin, war schon wiederholt mit kleinen eigenen Arbeiten bei
verschiedenen tänzerischen Veranstaltungen aufgefallen. So brachte man ihrem
ersten Auftreten in der Komödie besonderes Interesse entgegen. (...) Man war
freudig überrascht, hier einem ganz persönlichen Talent, einer neuen Tänzerin zu
begegnen. Marianne Vogelsang verdankt ihre ungemein exakte Körperbeherrschung
der Palucca-Schule, aber sonst hat sie sich von dem Vorbild ihrer Meisterin fast
völlig freigemacht und geht mit der Sicherheit einer wirklichen Könnerin ihren
eigenen Weg. Sie hat, erstaunlich bei ihrer Jugend, ihren Stil gefunden. Ihre
Bewegungen sind von der kraftvollen Geschmeidigkeit eines schönen Tieres. Von
einer selbstverständlichen lässigen Anmut, ohne weichlich zu wirken, stets klar
in der Linienführung, ohne ausschmückendes Beiwerk, dabei ist sie im Ausdruck
ebenso stark wie in der Komposition, der thematische Aufbau über Tänze, die
geschickte Raumgestaltung sind geradezu ein Musterbeispiel für junge
Tänzerinnen."
Auch mit ihren letzten Choreographien, den Fünf
Praeludien aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach, die sie mir wenige Wochen vor ihrem Tod
am 22. Oktober 1973 in Dresden übertrug, hinterließ sie ein Schulbeispiel für junge
Choreographen. Hierin wird deutlich, wie sie Tanz sah und formulierte, wie sie
Tänzer, Bewegung, Raum und Musik sinnvoll zu einem Ganzen gestaltete.
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Marianne Vogelsang ging 1935 zu Rudolf von
Laban an die Deutsche Tanzbühne,
die eine soziale Einrichtung zur kostenlosen Weiterbildung arbeitsloser Tänzer
war. Sie war dort Lehrerin für modernen Tanz. 1936 ging sie als Lehrerin an die
Meisterstätten für Tanz in Berlin, die eng mit Laban verbunden waren. 1938 bis
1940 lehrte sie an der Folkwang-Schule in Essen, 1940/41 an mehreren klassischen
Tanzschulen in Berlin, unter anderen mit Tatjana Gsovsky und Tamara
Rauser.
Nach dem Krieg war Marianne Vogelsang in Rostock tätig. Für das Kulturleben
der Stadt bedeutete ihre Verpflichtung als Leiterin der Arbeitsgruppe Tanz an
die Hochschule für Musik "einen wertvollen Gewinn. Als eine der führenden
Künstlerinnen des deutschen Ausdruckstanzes ist sie berufen, diesen Kunstzweig,
dessen organische Entwicklung in den letzten Jahren behindert und unterbrochen
wurde, weiterzubilden und zu formen."
Am 10. November 1946 zum Beispiel tanzt
sie in einer Matinee Corelli, Bach, Rameau, aber auch Chopin und
Skrjabin. Es gibt auch Verweise auf einen Zyklus: Ahnung - Ferne - Zwiespalt
- Weg. Sie
tanzt zu Musik von Ullrich Keßler, dem Komponisten ihres Tanzzyklus Die sieben
Todsünden, ebenso wie zu einem breiten Spektrum europäisches Musik,
so ein Bretonisches Wiegenlied, ein Deutsches Liebeslied, Bäuerlein, Bäuerlein,
eine Böhmische Weise, ein italienisches Straßenlied, ein slowakisches
Klagelied sowie russische und ungarische Musik.
An der Tanzabteilung der Rostocker Musikhochschule unterrichtete sie bis
1948, übernahm auch eine eigene Ausbildungsschule in Berlin und war dort bis
1950 Mitarbeiterin des Mary Wigman-Studios. In Weißensee hatte Marianne
Vogelsang ihre eigene Schule, die später mit der Staatlichen Fachschule für
künstlerischen Tanz Berlin vereinigt wurde. Dort leitete sie von 1951 bis zur
Auflösung 1958 die Abteilung für modernen Tanz.
Danach gastierte sie an
verschiedenen Berlinern Theatern und beim Deutschen Fernsehfunk, übernahm an der
Deutschen Staatsoper Unter den Linden die Choreographie zu Iphigenie in Aulis,
tanzte auch als Marte Rull in dem Ballett zu Kleists Der zerbrochene Krug in
der Choreographie von Anni Peterka. Sie wirkte gleichfalls in der
berühmten Faust-Inszenierung von Wolfgang Langhoff mit, in der Ernst Busch den Mephisto spielte.
Nach ihrer Pädagogenzeit am Institut für Bühnentanz in Köln (1963 bis 1965)
war sie noch ab 1965 Dozentin an Volkshochschulen verschiedener West-Berliner
Bezirke und freie Mitarbeiterin an der Musikhochschule Hannover. Ihre letzten Choreographien schuf sie 1972 und 1973 mit
eben jenen Fünf Präludien von Bach.
Ich habe diese Tänze einige Zeit getanzt und sie dann Arila Siegert
übertragen, die sie in ihrem Programm Gesichte zeigte. Sie standen auch den
Tänzern in Rostock für einen Mary Wigman-Abend zur Verfügung.
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Marianne Vogelsang war Tänzerin, Pädagogin und Choreographin, wie das bei den
modernen Tänzern üblich gewesen ist. Man trennte nicht den Choreographen vom
Tänzer. Der Tänzer tanzte in der Regel seine eigene Choreographie, und er
unterrichtete und vermittelte seine eigenen Erfahrungen. Bei
Palucca war das so,
ebenso bei Mary Wigman, bei Dore Hoyer und auch den anderen Modernen.
Neben der Vermittlung von Technik und tänzerischer Gestaltung war an der Schule die
Einführung in die Musik selbstverständlich. Sie wurde als Teil einer praktischen
Musikerziehung verstanden, wobei Formenlehre, Stil, rhythmische Gegebenheiten
und motivische Charakteristika vermittelt wurden. Hauptanliegen war,
dass der Tänzer selbst die Gestaltung des Tanzes findet. Die Idee gebiert die Form!
Typisch für den modernen Tanz ist ja nicht, eine Technik zu erfinden und
vorzuführen, sondern die Technik, die künstlerische Form
muss aus der Idee erwachsen. Dabei kann vieles Tanz auslösen: Töne, Klänge, Geräusche, Musik
natürlich, aber auch Worte, Gedichte oder Prosa und alles, was aus
Zeichnerischem, Zeichenhaftem, Malerischem, Farbigem, Plastischem usw. erfassbar
ist. Die menschliche Haltung und Bewegung kann den Ausschlag für einen neuen
Tanz geben.
Bei aller Freiheit der Möglichkeiten muss aber jeder schöpferische Tänzer,
jeder Choreograph für sich selbst immer wieder neu das jeweilige einer
künstlerischen Form zugrunde liegende Gesetz finden. Mary Wigman,
Marianne Vogelsang, alle Größen des Ausdruckstanzes waren darin Meister. Sie vermochten
stets den roten Faden in der verwirrenden Fülle der Möglichkeiten zu finden, wussten originell zu formulieren.
So sind die Fünf Präludien von Bach, die
Marianne Vogelsang am Ende ihres Lebens schuf, nicht nur hervorragende Beispiele
von Intuition und Konstruktion, von hoher Musikalität und von adäquat
durchgeführter, strenger formaler Logik, sondern sie sind zugleich
ein Beispiel von Rang für die Sinngebung im Tanz.
Die Erarbeitung von Tänzern war uns Auftrag und lohnendes Ziel, es war
selbstverständlich, dass wir mit fertig komponierten Tänzern die Schule
verließen. Es gab nie die Hierarchie, wie im klassischen Ballett, von Solo- und
Gruppentänzern, sondern es gab das Ensemble, in dem jeder Tänzer
gleichberechtigt war und aus dem der Solist in die solistische Aufgabe
hineinwuchs.
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Marianne Vogelsang gab uns auch Anregungen zum historischen Tanz. Wir lernten bei ihr Renaissancetänze, erarbeiteten alte Musik in freier Gestaltung, dazu immer wieder auch Béla Bartók und die Beziehungen zur zeitgenössischen Musik. Tänze zu Musiken von Brahms und Robert Schumann fanden eine Ergänzung durch Beziehungen zur bildenden Kunst - zum Beispiel zu Barlach. Marianne Vogelsang hatte für das Fernsehen einen Film mit Tänzern nach Barlach-Gestalten geschaffen. Es bleibt zu hoffen, dass der Film erhalten ist, da es ohnehin nur wenige Zeugnisse aus der Tradition des Ausdruckstanzes, des modernen Tanzes gibt.