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Rückblick

Reflexionen über Marianne Vogelsang - Tänzerin, Pädagogin, Choreographin

von Manfred Schnelle (14.08.1935-17.02.2016)


Marianne VogelsangMarianne Vogelsang war Tanzmeisterin bei Gustaf Rudolf Sellner in Göttingen. Dieser wollte sie 1943 bei seinem Weggang nach Hannover dorthin mitnehmen, doch ein gewisser Gauleiter Lauterbacher aus Hannover schritt ein. Die Zeitung Für Dich schreibt - rückblickend - am 10. November 1946 über Marianne Vogelsang: "Ihre Tänze gefielen dem Gauleiter nicht."
Schon das Erscheinungsbild von Marianne Vogelsang scheint ihm zu bürgerlich: "Ihre stolze, hohe und doch gelockerte Haltung, kurzum, die ganze, Harmonie und Sicherheit ausstrahlende Persönlichkeit empfindet er irgendwie als aufreizend revolutionär, nicht unterwürfig genug."
Sellner konnte den Kontakt mit Marianne Vogelsang nicht eingehen. Statt dessen erhielt sie die Möglichkeit, mit einer Gruppe von Mädchen zu arbeiten. Sie stand dazu, sagte zur damals geforderten Kunstauffassung: "Nein, nein und nochmals nein, jeder soll merken, welch gesunder Geist meine Truppe durchweht, wir werden sehen, wie fest alle Mädels zu mir stehen, wenn es nötig wird" - und es wurde bitter nötig! "Sollte ein Lauterbacher mich zum Teufel jagen, werden alle geschlossen mit mir gehen." Marianne Vogelsang erarbeitete mit dieser Gruppe 1944 die Szenen zum Slawischen Gesang.
Dass dieser Tanz zu slawisch, ja, wie sich Lauterbacher ausdrückte, zu "ostisch, russisch" für jene Zeit wirkte und nicht den damaligen kulturpolitischen und künstlerischen Interessen entsprach, können wir uns vorstellen, und wir glauben der Künstlerin gern, dass mit dem Publikumserfolg auch die Katastrophe über Meisterin und Truppe hereinbrach. Unglücklicherweise fiel die Aufführung 1944 auch in die Zeit der Zerbombung von Hannover, kurzum, es war aus mit dem Tanz.
Marianne Vogelsang zog sich mit ihren Tänzerinnen auf das Land nach Einbeck bei Hannover zurück. Doch kurze Zeit später wurden sie alle zusammen abgeholt und zur Zwangsarbeit in eine Mine gebracht. Dort mussten die Mädchen sich mit "Ostarbeitern und Jugendhäftlingen", so ein Zitat wiederum aus "Für Dich", "in die schwerste Zwangsarbeit teilen. Die Lust am Tanzen sollte ihnen vergehen, sie sollten für ihren Beruf für immer untauglich gemacht werden." Doch die Leiterin der Truppe hielt fest zu ihrem Ensemble und konnte später durch Sellner ein Ende dieser Zwangsarbeit erwirken.

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Marianne Vogelsang war Dresdnerin, sie wurde am 19. Oktober 1912 geboren. Bis 1929 besuchte sie das Mädchen-Gymnasium und war anschließend, bis 1934, eine der ersten Schülerinnen Gret Paluccas. Ihr Diplom für Tanz und Tanzpädagogik erhielt sie am 31. Mai 1933. Sie gehörte neben Herta Fischer und Charlotte Hölzner dem bekannten Palucca-Trio an. Sie traten in einer Arabesque nach Cassado auf, dann im Grazioso, einer Volksmusikadaption, und in einem Cantion nach Granados tanzte Marianne Vogelsang gemeinsam mit Palucca. 1935 gab sie dann ihren ersten Tanzabend.
Interessant ist die folgende Kritik, in der sich schon soviel Wesentliches und Typisches über sie findet: "Marianne Vogelsang, eine junge Dresdnerin, war schon wiederholt mit kleinen eigenen Arbeiten bei verschiedenen tänzerischen Veranstaltungen aufgefallen. So brachte man ihrem ersten Auftreten in der Komödie besonderes Interesse entgegen. (...) Man war freudig überrascht, hier einem ganz persönlichen Talent, einer neuen Tänzerin zu begegnen. Marianne Vogelsang verdankt ihre ungemein exakte Körperbeherrschung der Palucca-Schule, aber sonst hat sie sich von dem Vorbild ihrer Meisterin fast völlig freigemacht und geht mit der Sicherheit einer wirklichen Könnerin ihren eigenen Weg. Sie hat, erstaunlich bei ihrer Jugend, ihren Stil gefunden. Ihre Bewegungen sind von der kraftvollen Geschmeidigkeit eines schönen Tieres. Von einer selbstverständlichen lässigen Anmut, ohne weichlich zu wirken, stets klar in der Linienführung, ohne ausschmückendes Beiwerk, dabei ist sie im Ausdruck ebenso stark wie in der Komposition, der thematische Aufbau über Tänze, die geschickte Raumgestaltung sind geradezu ein Musterbeispiel für junge Tänzerinnen."
Auch mit ihren letzten Choreographien, den Fünf Praeludien aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach, die sie mir wenige Wochen vor ihrem Tod am 22. Oktober 1973 in Dresden übertrug, hinterließ sie ein Schulbeispiel für junge Choreographen. Hierin wird deutlich, wie sie Tanz sah und formulierte, wie sie Tänzer, Bewegung, Raum und Musik sinnvoll zu einem Ganzen gestaltete.

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Marianne Vogelsang ging 1935 zu Rudolf von Laban an die Deutsche Tanzbühne, die eine soziale Einrichtung zur kostenlosen Weiterbildung arbeitsloser Tänzer war. Sie war dort Lehrerin für modernen Tanz. 1936 ging sie als Lehrerin an die Meisterstätten für Tanz in Berlin, die eng mit Laban verbunden waren. 1938 bis 1940 lehrte sie an der Folkwang-Schule in Essen, 1940/41 an mehreren klassischen Tanzschulen in Berlin, unter anderen mit Tatjana Gsovsky und Tamara Rauser.
Nach dem Krieg war Marianne Vogelsang in Rostock tätig. Für das Kulturleben der Stadt bedeutete ihre Verpflichtung als Leiterin der Arbeitsgruppe Tanz an die Hochschule für Musik "einen wertvollen Gewinn. Als eine der führenden Künstlerinnen des deutschen Ausdruckstanzes ist sie berufen, diesen Kunstzweig, dessen organische Entwicklung in den letzten Jahren behindert und unterbrochen wurde, weiterzubilden und zu formen."
Am 10. November 1946 zum Beispiel tanzt sie in einer Matinee Corelli, Bach, Rameau, aber auch Chopin und Skrjabin. Es gibt auch Verweise auf einen Zyklus: Ahnung - Ferne - Zwiespalt - Weg. Sie tanzt zu Musik von Ullrich Keßler, dem Komponisten ihres Tanzzyklus Die sieben Todsünden, ebenso wie zu einem breiten Spektrum europäisches Musik, so ein Bretonisches Wiegenlied, ein Deutsches Liebeslied, Bäuerlein, Bäuerlein, eine Böhmische Weise, ein italienisches Straßenlied, ein slowakisches Klagelied sowie russische und ungarische Musik.
An der Tanzabteilung der Rostocker Musikhochschule unterrichtete sie bis 1948, übernahm auch eine eigene Ausbildungsschule in Berlin und war dort bis 1950 Mitarbeiterin des Mary Wigman-Studios. In Weißensee hatte Marianne Vogelsang ihre eigene Schule, die später mit der Staatlichen Fachschule für künstlerischen Tanz Berlin vereinigt wurde. Dort leitete sie von 1951 bis zur Auflösung 1958 die Abteilung für modernen Tanz.
Danach gastierte sie an verschiedenen Berlinern Theatern und beim Deutschen Fernsehfunk, übernahm an der Deutschen Staatsoper Unter den Linden die Choreographie zu Iphigenie in Aulis, tanzte auch als Marte Rull in dem Ballett zu Kleists Der zerbrochene Krug in der Choreographie von Anni Peterka. Sie wirkte gleichfalls in der berühmten Faust-Inszenierung von Wolfgang Langhoff mit, in der Ernst Busch den Mephisto spielte.
Nach ihrer Pädagogenzeit am Institut für Bühnentanz in Köln (1963 bis 1965) war sie noch ab 1965 Dozentin an Volkshochschulen verschiedener West-Berliner Bezirke und freie Mitarbeiterin an der Musikhochschule Hannover. Ihre letzten Choreographien schuf sie 1972 und 1973 mit eben jenen Fünf Präludien von Bach.
Ich habe diese Tänze einige Zeit getanzt und sie dann Arila Siegert übertragen, die sie in ihrem Programm Gesichte zeigte. Sie standen auch den Tänzern in Rostock für einen Mary Wigman-Abend zur Verfügung.

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Marianne Vogelsang war Tänzerin, Pädagogin und Choreographin, wie das bei den modernen Tänzern üblich gewesen ist. Man trennte nicht den Choreographen vom Tänzer. Der Tänzer tanzte in der Regel seine eigene Choreographie, und er unterrichtete und vermittelte seine eigenen Erfahrungen. Bei Palucca war das so, ebenso bei Mary Wigman, bei Dore Hoyer und auch den anderen Modernen.
Neben der Vermittlung von Technik und tänzerischer Gestaltung war an der Schule die Einführung in die Musik selbstverständlich. Sie wurde als Teil einer praktischen Musikerziehung verstanden, wobei Formenlehre, Stil, rhythmische Gegebenheiten und motivische Charakteristika vermittelt wurden. Hauptanliegen war, dass der Tänzer selbst die Gestaltung des Tanzes findet. Die Idee gebiert die Form!
Typisch für den modernen Tanz ist ja nicht, eine Technik zu erfinden und vorzuführen, sondern die Technik, die künstlerische Form muss aus der Idee erwachsen. Dabei kann vieles Tanz auslösen: Töne, Klänge, Geräusche, Musik natürlich, aber auch Worte, Gedichte oder Prosa und alles, was aus Zeichnerischem, Zeichenhaftem, Malerischem, Farbigem, Plastischem usw. erfassbar ist. Die menschliche Haltung und Bewegung kann den Ausschlag für einen neuen Tanz geben.

Bei aller Freiheit der Möglichkeiten muss aber jeder schöpferische Tänzer, jeder Choreograph für sich selbst immer wieder neu das jeweilige einer künstlerischen Form zugrunde liegende Gesetz finden. Mary Wigman, Marianne Vogelsang, alle Größen des Ausdruckstanzes waren darin Meister. Sie vermochten stets den roten Faden in der verwirrenden Fülle der Möglichkeiten zu finden, wussten originell zu formulieren.
So sind die Fünf Präludien von Bach, die Marianne Vogelsang am Ende ihres Lebens schuf, nicht nur hervorragende Beispiele von Intuition und Konstruktion, von hoher Musikalität und von adäquat durchgeführter, strenger formaler Logik, sondern sie sind zugleich ein Beispiel von Rang für die Sinngebung im Tanz.
Die Erarbeitung von Tänzern war uns Auftrag und lohnendes Ziel, es war selbstverständlich, dass wir mit fertig komponierten Tänzern die Schule verließen. Es gab nie die Hierarchie, wie im klassischen Ballett, von Solo- und Gruppentänzern, sondern es gab das Ensemble, in dem jeder Tänzer gleichberechtigt war und aus dem der Solist in die solistische Aufgabe hineinwuchs.

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Marianne Vogelsang gab uns auch Anregungen zum historischen Tanz. Wir lernten bei ihr Renaissancetänze, erarbeiteten alte Musik in freier Gestaltung, dazu immer wieder auch Béla Bartók und die Beziehungen zur zeitgenössischen Musik. Tänze zu Musiken von Brahms und Robert Schumann fanden eine Ergänzung durch Beziehungen zur bildenden Kunst - zum Beispiel zu Barlach. Marianne Vogelsang hatte für das Fernsehen einen Film mit Tänzern nach Barlach-Gestalten geschaffen. Es bleibt zu hoffen, dass der Film erhalten ist, da es ohnehin nur wenige Zeugnisse aus der Tradition des Ausdruckstanzes, des modernen Tanzes gibt.

Quelle: tanz international, Heft 10/1990