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Spiegelungen

Arila Siegert über ihre Interpretation von
Françis Poulencs „La voix humaine“ (Die menschliche Stimme)

Premiere: Mittelsächsisches Theater (Freiberg 15.04.2022, Döbeln 01.05.2022)

Telefonieren als Opernsujet klingt erst mal nicht so spannend. Bei Françis Poulencs «La voix humaine» („Die menschliche Stimme“): im Gegenteil. Es ist eine sogenannte Mono-Oper, 1959 uraufgeführt. Der Text, schon in den 30-iger Jahren entstanden, stammt von Jean Cocteau. Worum geht’s?

Es geht um Menschlichkeit, um Menschsein. Was bedeutet das Menschsein? Wir können nicht existieren, ohne verbunden zu sein mit mindestens einem anderen Menschen. Diese Verbindung muss ein Lebensfaden sein, in dem man die Anerkennung, die Wertschätzung, die Bindung, die Liebe und das Vertrauen erfährt, das man braucht, damit man in dieser Welt existieren kann. Und Poulenc und Cocteau handeln das Thema „Aus Liebe sterben“ so abstrahiert ab, dass nur durch eine einzige Stimme, die Stimme der Frau alles gesagt wird und die Frau auf mehrere imaginäre Stimmen, die mitspielen im Stück, sich bezieht: wir haben also die Stimme der Frau, die kämpft um einen Mann, den sie liebt und der sich, nach fünfjähriger Beziehung, seit drei Tagen von ihr getrennt hat; dann spielt die imaginäre Stimme des „Fräuleins vom Amt“ eine Rolle, die diese Verbindung technisch immer wieder herstellt aber auch unterbricht; und es ist eine dritte Frau, die als Voyeurin in der Leitung ist, und die sich durch den Mund der Frau darüber äußert, was sie von diesem Mann hält, der diese Frau die ganze Zeit belügt.

Du hast das Stück schon einmal inszeniert, ganz am Anfang deiner Beschäftigung mit Musiktheater. Aber du hast die Inszenierung jetzt neu kreiert, auch weil die musikalische Fassung (damals die Klavierfassung) hier eine andere ist.

Ja, es ist die Orchesterfassung, in der natürlich die ganzen Ebenen des Klangs, des Seins, viel differenzierter ausgestaltet sind. Die Instrumente sind sehr besonders eingesetzt. Die langen Fermaten, die Haltepunkte, zwischen den einzelnen Äußerungen sind das Beredtste an dem ganzen Stück. Es ist eine Herausforderung, dass das Stück immer wieder abbricht, weil derjenige am anderen Ende der Leitung spricht und daraus die Reaktion kommt dessen, der versucht, die Verbindung aufrecht zu erhalten.

Die Unterscheidung zwischen dem „Fräulein vom Amt“ und der Sängerin mit ihrer Stimme – wie ist die zu bemerken?

Alle Stimmen äußern sich nur über die Sängerin, die Aktionen und Reaktionen, Forderungen und Beschwichtigungen. Die Stimme der Sängerin muss alle Parameter des menschlichen Seins hörbar machen und darstellerisch überzeugend kreieren.

Für die Sängerin Leonora Weiß-del Rio ist das ein musikalisch-darstellerischer Parforceritt von höchster Expressivität, eigentlich fast kaum zu schaffen.

Das ist eine tolle Aufgabe für eine Sängerin, weil sie wirklich sowohl Schauspielerin, Tänzerin als auch Sängerin sein muss. Sie muss fast sprechen, hauchen, muss auch das dreigestrichene C singen, also hochdramatische und technisch schwierige Momente zeigen. Sie tanzt mit dem Tod und wie auf dem Seil. Sie muss von einem Zustand in den anderen, oft nur 2-3 Takte, transformieren. Die „Welt“ ändert sich durch Ihre Stimme und Darstellungskraft. Es braucht dafür eine Sängerdarstellerin, die bereit ist, sich dem Thema voll hinzugeben. Die sich selbst in diese Waagschale wirft. Mit allem, was sie hat und erfahren hat, was sie ahnt und weiß, was ihr Talent ist, ist sie gefordert einzubringen.

Es gibt bei dir neben ihr ein Tänzerpaar, Aya Sone und Lorenzo Malisan. Du nennst sie „die Seele“ und „der Tod“. Was sind sie in dem Stück? Eine Art Spiegel der Emotionen der Sängerin, innere Geister, Ängste?

Sie spiegeln dieses Innenleben. Sie sind Gedanken und Energien, sie sind Kräfte, die in uns wirken und die uns in die eine oder andere Richtung drängen. In die Todesrichtung, dass man aufgibt, oder in die Richtung der Unendlichkeit, in der wir existieren. Sie sind also dies sterbende und seelische Moment.

Ein wesentliches Requisit der Produktion ist ein in unterschiedlichen Mustern über die Bühne gespannter Faden, inspiriert wohl vom Telefon, wie es damals war. Es ist wie ein Spinnennetz, in dem die Frau sich verfängt, aus dem sie sich immer wieder zu befreien sucht.

Den Schicksalsfaden, den Ariadne-Faden, der uns aus dem L abyrinth führt, die Bindung, die Nabelschnur usw. symbolisiert der Faden. Das Problem, dass wir uns nicht sehen beim herkömmlichen Telefonieren, dass heutzutage einfach eine SMS geschrieben wird, dass man sich trennt. Oder eine kurze E-Mail. Dieses nicht konfrontiert sein mit dem Sehen und dem Fühlen ist ein großes psychologisches Problem, in dem wir uns in Missverständnissen und in globaler, weltumspannender Problematik verfangen. Insofern ist diese Entwicklung, dass wir nicht mehr physisch präsent sind und uns gegenüberstehen und den anderen ansehen, und aus dem was wir fühlen, was wir sehen und was wir hören unsere Erkenntnisse ziehen, sondern nur diesen Äußerungen glauben – da ist der Lüge Tor und Hof geöffnet und auch dem Missverständnis und den daraus resultierenden größeren und kleineren Katastrophen.

Es ist also ein Moment des Sich-Distanzierens und Flüchtens.

Es ist auch ein Moment der Feigheit.

Gerade auch durch die Tänzer ist das eine fast choreografische Arbeit. Wovon bist du ausgegangen bei deiner Konzeption?

Dass wir eben so vieles nicht sehen. Und dieses innere Geschehen habe ich versucht, nach außen zu spiegeln. Das ist die Konzeption, dass man das im Theater zeigt, was man nicht sieht. Also nicht eine Frau, die auf dem Bett sitzt mit dem Telefon, die rumläuft, sich die Telefonschnur um den Hals legt und was immer. Sondern dass wir das erzählen, was wir fühlen in so einer Situation. Diese innere, unwägbare Welt, die man nicht sieht, sondern von der man nur die Auswirkungen spürt, indem ein anderer Mensch zum Beispiel erkaltet. Wir können den Wind nicht sehen, sondern nur seine Auswirkungen. Wir können die Liebe nicht sehen, sondern nur die Auswirkungen. Und den Hass und die Feigheit – alles das können wir nicht sehen, aber wir können sehen, wie es wirkt auf einen Menschen, eine Beziehung, eine Welt und was daraus erwächst. Insofern ist es schon die Metapher auch für unsere Welt.

 

Das Werk ist weniger als eine Stunde lang. Deshalb wird es meist mit einem anderen kurzen Stück gekoppelt. Für das Mittelsächsische Theater, das die Städte Freiberg und Döbeln bespielt, habt ihr unterschiedliche „Beigaben“ gewählt. Welche und warum?

In den Döbeln wird es gepaart mit einem Stück von Gian Carlo Menotti, „Das Telefon“. Das ist eine Regie von Ralf-Peter Schulze, dem Intendanten des Mittelsächsischen Theaters, der sich für Döbeln so entscheiden hat, weil es hier keine Konzertkirche gegenüber dem Theater gibt wie in Freiberg. Das Publikum müsste durch die Stadt laufen. In Döbeln ist es jedenfalls mit diesem gut 20-minütigen leichten, spielerischen Kurz-Öperchen gepaart. In Freiberg haben wir es gepaart mit Arvo Pärt, „Te Deum“, als ein ins Transzendente erweitertes stimmliches Requiem. Das Publikum geht in der Pause vom Theater in die gegenüberliegende Kirche und hat dann dort dieses nur akustische Erlebnis in einem Kirchenraum.

Auch aus akustischen Gründen.

Aber es passt auch zu dem Stück. Die Stimme der Protagonistin der Oper wird ersterben. Sie stirbt an dieser unerwiderten Liebe und dem Verlassen sein, mutterseelenallein am Telefon oder an der Strippe oder im Netz...

Interview: gfk, Berlin, 12.03.2022
Fotos © HL. Böhme