Dass dies ein Welterfolg werden würde, ahnte anfangs keiner. Die Direktoren des Theaters mäkelten: keine Musik, ein bloßer Mischmasch von Melodien sei das. Der Librettist fand darin zu wenig Besonderes. Dem avisierten Hauptdarsteller des Danilo, Louis Treumann, fehlten „Exotik und Erotik“. Für die Uraufführungs-Inszenierung begnügte man sich mit einer Ausstattung aus dem Fundus. Erst zur 300.Vorstellung leistete man sich ein neues Outfit. Da auch bekam das Stück erst seine heutige Gestalt. Es musste nun auch nicht mehr enden mit dem „Zauber der Häuslichkeit“, in den das Paar Hanna-Danilo verwiesen werden sollte. Den Part bekam das zweite Paar zugewiesen, Valencienne und Camille. Für Hanna und Danilo ging es frisch ins volle Liebesleben, und selbstironisch stimmt da auch Hanna ein in den Refrain „ja das Studium der Weiber ist schwer“.
Die „Botschaft“ von diesem neuen Typ selbstbewusster Frau, die nicht geizt mit ihren Reizen und der die Männer zufliegen, machte schnell die Runde. Über Berlin, London, New York tanzten Hanna und Danilo sich bald rund um die ganze Welt. Amerika machte aus der Witwe und ihren Accessoires eine neue Mode. Fan-Artikel wie für Hollywood-Produktionen heute wurden überall verkauft. „Merry Widow“-Schuhe, -Korsetts und -Hüte kamen in die Auslagen, „Merry Widow“-Kuchen, -Schnitzel und -Liköre auf die Speisekarte. Junge Paare fanden sich zu Hochzeiten massenweise. Hollywood meldete sich gleich dreimal. Erich von Stroheims Stummfilm 1925 wurde zu einem der größten Erfolge des Kinos damals überhaupt. Ein Jahrzehnt später drehte Ernst Lubitsch die Tonfilm-Version mit Maurice Chevalier und Jeanette MacDonald als Stars. Und auch nach dem Krieg stürzte sich Hollywood noch einmal auf den Stoff.
1905 tanzte die „Lustige Witwe“ erstmals über die Bretter des Theaters an der Wien. Es war die Zeit des Analytikers Sigmund Freud und des Erotomanen Arthur Schnitzler. Wenige Wochen vor der „Witwe“-Premiere hatte Richard Strauss‘ „Salome“ ihren betörenden Schleiertanz erstmals aufgeführt. Allerdings nicht in Wien, wie Gustav Mahler wollte, sondern in Dresden. Die k&k-Zensur fürchtete die Verletzung religiöser Gefühle – man kennt das. Dass man anfangs auch der Witwe nicht über den Weg traute, hat letztlich mit der umstürzlerisch neuen Geschlechter-Konstellation zu tun, die hier exponiert wird: eine Frau sitzt auf einem Banktresor. Und sie sucht sich ihren neuen Liebhaber nach eigenem Gutdünken aus, will ihn sogar ausschließlich der Liebe wegen heiraten und nicht wegen irgendwelcher Konventionen. Und diese Frau tanzt auch noch mit dem Objekt ihres Begehrens in holder Zweisamkeit und auf Lippenfühlung.
Für eine Frau wie Josephine Baker im Bananendress und mit Raubkatze im Körbchen war sie ein Prototyp. Die „Lustige Witwe“ war die neue Zeitoperette des frühen 20.Jahrhunderts. Sie hatte aufgeräumt mit der alten k&k-Herrlichkeit. Und dass der fiktive Balkanstaat Pontevedro alias Montenegro vor dem Bankrott steht, verstand jeder als Zeichen für das alte Europa. Die damit gemeinte Donaumonarchie trudelte ihrem finalen Stadium entgegen. Sogar die einsichtigeren Mitglieder der Kaiserfamilie – wie der 1889 durch Selbstmord zu Tode gekommene Thronfolger Erzherzog Rudolf und seine kapriziöse Mutter Elisabeth, 1898 erstochen am Genfer See von einem Attentäter – wussten es längst und geißelten die Borniertheit des sich zu Tode feiernden Adels.
Sisi allerdings stand auch mit Pate für dies neue Frauenbild. Wie Hanna eher ein „Landei“, befreite sie sich bald von den Konventionen, in die sie der Hof „einkerkern“ wollte. Sie separierte sich in ein „Eremiten“-Leben mit Wandern, Reiten, Dichten, Schwimmen und auch luxuriöseren Hobbys bis hin zu einem extremen Körper- und Schönheitskult, der im Welt- und Lebensekel mündete. Aber sie eroberte sich als „Elfen-Königin Titania“ ihren eigenen Planeten. Gustav Klimt mit seinen geometrisierenden Frauenporträts wurde der Landvermesser dieses neuen „Planeten“. Lou Andreas-Salomé, die sowohl von Friedrich Nietzsche wie von Rainer Maria Rilke angebetete russisch-hugenottische Literatin, seziert deren Psyche. Diese und das in der Figur des Danilo angedeutete komplementäre Männerbild, wie es heute zumal auch der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter wieder preist, macht das Stück so frisch und aktuell: Ein „champagnisierter“ Tanz auf dem Vulkan mit erstaunlichen Perspektiven vom Kraterrand.
***
Dieser Umbruch, dass plötzlich eine Frau das Kapital hat, ist das total Neue. Und auch heute noch ist das was Besonderes, die Frauen bleiben meist im Hintergrund. Hier waren die beiden Autoren Lehár und Léon ganz vorn dran. Sie haben den totalen Wechsel auf die Spitze getrieben: eine mittellose Frau wird plötzlich zum Kultobjekt, weil sie die Bank hat. Es ist der ganze Kampf von Schein und Sein wie heute, und es ist dies bis zum unmoralischen Sich-Entblößen. Damit man an diesen Mammon rankommt, gibt man alle Werte auf. Das ist nach hundert Jahren noch unser Thema. Jetzt gerade bei Siemens, wenn es seine Handysparte verkauft an BenQ, wohl wissend, dass sie in kürzester Zeit bankrott geht und dreitausend Leute arbeitslos sind.
Dass echte Liebe nicht für Geld zu kaufen ist, ist ein Ur-Ding: dass das Beste, was wir im Leben haben, „kostenlos“ ist, die Lebenszeit, die Luft, das Wasser, das Feuer, die Liebe – diese elementaren Dinge. Aber gerade in den reichen Familien gibt es so viel Mord und Todschlag, soviel Gosse und extrem schlimme Abgründe, die vergleichbar sind mit der Kriminalität, die sich aus Armut und Hunger entwickelt.
Das ist eine zweite Linie, das Stück hat ja sehr viele Schichten, obwohl alles sehr leicht und ironisch verpackt ist. Valencienne, möglicherweise früher eine Grisette, von Zeta hochgeholt als seine junge Frau für die Repräsentation, versucht in anderer Weise den Luxus, wirklich das zu kriegen, was sie will, indem sie ihren Freund Camille de Rosillon mit der Witwe zu verkuppeln sucht. Sie unterläuft Zetas Bemühen, dass Hanna einen ponteverdrinischen Landsmann heiratet, damit das Geld im Lande bleibt. Für Valencienne ist Pontevedro keine Heimat. Sie will, dass Camille mit der Witwe eine Vernunftehe „nach Pariser Art“ – wie das hier heißt – eingeht. Und Valencienne selber könnte dann mit Camille sehr viel freier leben als mit dem verarmten Baron Zeta, der nichts mehr hat.
Im Danilo haben wir einen ganz modernen jungen Mann. Viele machen diese Geldtour nicht mit, steigen aus. Oder sie machen ihren Job – und leben dann im Wald. „Downshifting“ nennt sich die Bewegung heute ...
Es kommt immer darauf an, welche Energie du wohin leitest in dir: ob du dich bemühst, zart, klein und schwach zu sein, oder ob du dich bemühst, deinen Mann oder deine Frau zu stehen, und die Kraft in deine Handlungen steckst und das so vorbereitet planst, damit das dann auch funktioniert. Die männliche Kraft des strategischen Denkens gewinnen die Frauen in dem Stück immer mehr. Und Danilo hat sich dem ganz entzogen, lebt eigentlich seinen Gefühlen, obwohl er sehr genau beobachtet und leicht sarkastisch diese etwas borniert-leichtsinnige Party-Gesellschaft auch verachtet. Er guckt von der Seite, und er hat zurück gedrängt, dass er seine Liebe finden wird. Er versucht das in der Breite, indem er alle Frauen liebt und – das ist ein Wert – sich auch sehr gut zu den Frauen verhält. Er versucht zärtlich und verantwortungsvoll mit ihnen zu verkehren. Er will nicht einwirken auf sie, er partizipiert, macht sein Leben dadurch leicht und vernachlässigt jede Pflicht.
Es ist bei Lehár die Orchestrierung, die diese Vielschichtigkeit ausmacht. Er arbeitet so differenziert mit den Instrumentengruppen, dass man, wenn man genau zuhört, alles darin findet, um die Geschichte nicht oberflächlich sondern in ihren vielen Schichten zu erzählen.