Wir sind auf der Suche, sagt sie im Schlusswort
des Buches. So schlicht wie weise bündelt Arila Siegert da, was
leitmotivisch über ihrem ganzen bisherigen Leben stehen könnte.
Einfach hat sie es sich nicht gemacht, die 1953 bei Dresden
Geborene, der das Tanzen schon im Kinderblut lag und die eine
Ausbildung an der Palucca Schule Dresden absolvierte. Zwar hatten
das die Eltern arrangiert, doch ohne töchterliche Zustimmung wäre
wohl schon damals nichts gegangen. Denn Arila entwickelte rasch die
starke Persönlichkeit, die sie stets auszeichnen sollte, die sie
lenkte und sie zwang, Dinge zu tun, von denen sie restlos überzeugt
war. Die Improvisationen bei Palucca wurden zum Glücksumstand ihres
Lebens. In diesen Stunden lernte sie, zu sich zu finden,
herauszulassen, was in ihr steckte, sich von dem Korsett zu
befreien, als das sie den Klassischen Tanz empfand, wie er auch in
Dresden zum Unterrichtskanon gehörte. Es war Palucca, die sie
frühzeitig als „ganz moderne Tänzerin“ erkannte und sie, wie alle
Schüler, zu eigener Choreografie ermunterte. Ihr erster Versuch um
die Verletzbarkeit des Individuums, politisch missliebiges Thema im
Kollektivstaat DDR, durfte nicht aufgeführt werden. Eine prägende
Erfahrung.
Dann beginnt der lange Umweg der Arila Siegert,
der letztlich doch der richtige Weg zum Ziel war. Tom Schilling
nimmt die als begabt geltende Absolventin 1971 in sein Tanztheater
der Komischen Oper. Gruppenaufgaben folgen nach Jahren des Wartens
solistische Parts, auch die Odette in „Schwanensee“. Wer sie als
Odette, später auch als Odile erlebt hat, erinnert sich an die
passable Leistung einer für die Rolle sehr hochgewachsenen Tänzerin.
Voller Elan wechselt sie 1979 mit Kollegen an die Semperoper
Dresden, wo einer von ihnen, Harald Wandtke, neuer Ballettchef wird.
Neben ein klassisches Repertoire treten dort auch moderne Programme
und Improvisationsabende. Arila Siegert darf choreografieren, holt
beim DDR-Ballettwettbewerb den 1. Preis. Als die Hoffnungen auf ein
Modern-Tanzstudio scheitern, wagt sie 1987 den Befreiungsschlag:
Intendant Gerhard Wolfram holt sie ans Staatsschauspiel, wo sie ein
Tanztheater mit sich als einziger Tänzerin gründet. Dort lässt man
eine Kreativität zu, die sich in vier bald auch international
umjubelten Solo-Programmen Bahn bricht. Siegert ringt um
individuelle Aussagen zu ihrer Zeit und die letztgültige Form dafür.
Außerdem belebt sie Meisterwerke der Ausdruckstanzära neu: Wigmans
„Hexentanz“ und „Abschied und Dank“, Hoyers „Afectos humanos“,
Vogelsangs Bach-“Präludien“. Sie gestaltet Stücke nach Texten von
Christa Wolf und Heiner Müller, holt sich als Partner Jazzmusiker
und Bildende Künstler. Siegerts erfüllte Zeit endet nach der Wende
mit der Nichtverlängerung ihres Vertrages.
Für die
umgetriebene Künstlerin beginnt eine schwierige Phase. Hatte sie
1988 mit „Othello und Desdemona“ in einer brillanten
choreografischen Neusicht an der Komischen Oper reüssiert, so
stießen „Undine“ 1991 und „Circe und Odysseus“ 1993 ebenfalls an der
Komischen Oper sowie „Medea-Landschaften“ 1992 an der Oper Leipzig
auf weniger einhellige Zustimmung. Dem Versuch, am Anhaltischen
Theater Dessau ein Tanztheater zu etablieren, war kein dauerhafter
Erfolg beschieden. Als Siegert 1997 nach fünf Spielzeiten nebst
Bemühungen um Tanz im Bauhaus Dessau den Dienst quittierte, leitete
dieser zweite Befreiungsschlag auch die zweite, bis heute
ungebrochen aufwärts verlaufende Karriere der Arila Siegert ein.
Seit sie 1998 im Theater Ulm Verdis Oper
„Macbeth“ inszenierte, reißen die Angebote nicht mehr ab. Eine
„Zauberin der Bewegungsregie der Oper“ nennt sie Filmemacher
Alexander Kluge. In der Summierungskunst Oper hat sie endlich eine
Heimat gefunden, im Zusammenspiel der Künste und Künstler und im
gemeinsamen Streben nach dem Wesentlichen, ohne, wie sie sagt, ein
äußerliches Interessant-Machen und dem Werk eine dramaturgische Idee
überzustülpen. Um die 45 Werke, darunter Operette und
Musical, hat sie inzwischen nach jeweils sehr gründlicher
Vorbereitung im In- und Ausland auf die Bühne gestellt, wird schon
mit Ruth Berghaus, einer ihrer verehrten Mentorinnen, verglichen und
selbst für den „Reichtum ihrer szenischen Handschriften“ bewundert.
Eine Künstlerin scheint bei sich angekommen, marschiert vehement
vorwärts – und denkt über einen choreografischen Ausflug in den Tanz
nach. All das kann man detailgetreu, tiefschürfend und berührend
ehrlich in einem umfangreichen Buch nachvollziehen, den die Akademie
der Künste für ihr Akademiemitglied ediert hat. Tagebucheinträge,
die Korrespondenz mit Palucca und späteren engen Mitarbeitern,
Auszüge aus Kritiken sowie zahlreiche Fotos ergänzen die Texte im
chronologisch gegliederten Broschurband; ein akribisches
Werkverzeichnis rundet eine so liebevolle wie
notwendige Publikation ab: Berichtet sie doch exemplarisch vom Weg
einer Künstlerin durch die Zeiten, der widrige Umstände in Ost wie
West ihre Geradlinigkeit nicht nehmen konnten.