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Diana lebt hier nicht mehr

Arila Siegert inszeniert «Iphigenie auf Tauris» von Christoph Willibald Gluck am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Die Tänzerin, Choreografin und Regisseurin Arila Siegert erfindet in Glucks später Reformoper eine ganz eigene Ausdrucks- und Bildsprache, die dieses Opfer- und Flüchtlingsdrama zeitlos aktuell erscheinen lässt.

Kritik Iphigenie NZZLotte Thaler, in: Neue Zürcher Zeitung, 18.06.2015

Wo liegt eigentlich Tauris? Wahrscheinlich ist dieser antike Opern-Schauplatz identisch mit der heutigen Krim, die einst Chersonesus Taurica hiess und von Skythen bewohnt wurde. Ihr Herrscher Thoas (verkörpert von der Bariton-Sängerin Lucia Lukas) leidet unter Verfolgungswahn und opfert jeden Fremden, der seine Insel betritt, den Göttern. Die Priesterin Iphigenie (Katharine Tier mit entsprechend durchdringendem Mezzo-Sopran) ist zur Ausführung dieser Menschenopfer verdammt, will aber aus dem Kreislauf des Tötens ausbrechen.

Archaik und Moderne

Die Oper «Iphigenie auf Tauris» von Christoph Willibald Gluck schliesst zwar mit der befreiten Feststellung: «Ein tiefer Friede herrscht.» Doch wie viele Traumata bis dahin überwunden werden müssen, wie viele Erinnerungen bewältigt, wie viel Selbsterkenntnis dazu notwendig wird – davon erzählt Glucks Oper in Karlsruhe mit frappierender Aktualität. Hinzu tritt eine dramatisch komprimierte Musik unter der animierenden und alle emotionalen Verstrickungen aufdeckenden Leitung von Christoph Gedschold.

Die Regisseurin Arila Siegert verbindet in ihrer Inszenierung Archaik und Moderne mit ebenso behutsamer wie psychologisch fundierter Personenführung, wobei der Opernchor als Priesterinnen, Krieger und Eumeniden in seinen choreografierten Aktionen im Liegen, Stehen und Gehen besonders gefordert war. Arila Siegert hat sich ihre eigene, unverkennbare Theatersprache mit individuellen Chiffren für das Dargestellte erschaffen.

Diese erfrischende Unabhängigkeit von allen Theater-Moden lernte sie schon als Kind bei der Tänzerin Gret Palucca, in deren Schule in Dresden sie mit sechs Jahren aufgenommen wurde. Was diese Schule vermittelte, lässt sich jetzt in einem mit vielen attraktiven Fotos ausgestatteten Band über die Tänzerin, Choreografin und Regisseurin Siegert nachlesen, den Regine Hermann im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin, herausgegeben hat: den «Geschmack und den Willen, etwas Eigenes zu finden, unverwechselbar, nicht angepasst oder abgeguckt».

In Karlsruhe verzichtet Siegert auf alle naheliegende Blutrünstigkeit und verlegt den tragischen Ausdruck vor allem in die Protagonisten selbst und ihre unmittelbar sinnfällige Körpersprache: Wenn sich etwa Iphigenie in ihrem Traum an ihre Familie erinnert, geht sie in sich selbst versunken ein paar Schritte rückwärts, bis sie hart an eine Wand stösst und so wieder auf dem Boden der Realität landet.

Zudem schafft Siegert über den abstrakt gehaltenen Bühnenraum aus groben Tempelmauern (Bühnenbild: Thilo Reuther) weitere Assoziationsräume, mit durchaus rituellem Hintergrund wie asiatische Stockspiele für die skythischen Krieger oder auch mit Bild-Allusionen an Michelangelo für die Freundschaft zwischen Orest (wunderbar «abgerissen» in seinem Wahn: Armin Kolarczyk) und Pylades (der einzige Tenor der Oper auch als menschliche Lichtgestalt: Steven Ebel). Ferner bildet ein über die gesamte Bühnenbreite ausgerolltes weisses Leichentuch ein weiteres charakteristisches Stilmittel von Siegerts Bühnenarbeiten.

Weltliche Friedensstifterin

In Karlsruhe durchsetzen zwei Abweichungen den «werktreuen» Ansatz Siegerts bei Gluck: Die Göttin Diana, die Iphigenie im ersten Akt noch herzerweichend um Hilfe anfleht, existiert nicht mehr. Nicht die Göttin stoppt den Kreislauf des Tötens, sondern der Mensch Iphigenie selbst in endlich errungener Selbstbestimmung: als weltliche Friedensstifterin hüllt sich Iphigenie königlich in Dianas Gold-Gewand. Die zweite Abweichung ist theaterpolitisch motiviert. Die vielen Gestrandeten, die hier an Tauris' Küste gespült werden und sich in ihren Alltags-Klamotten unter den Chor mischen, sind auch im echten Leben Flüchtlinge aus Afrika und den arabischen Krisenländern. Auch sie haben sich vielleicht mit Arila Siegert gefragt: «Wer sind wir, wozu sind wir fähig?» Und man kann nur hoffen, dass sie, wie Siegert, eine Antwort in der Kunst gefunden haben.

Regine Herrmann (Hg.): Arila Siegert. Tänzerin Choreografin Regisseurin. Akademie der Künste, Berlin 2014. 240 S., Fr. 31.90.

Kritik Iphigenie" Bad.Neueste NachrichtenDas öffnet Herz und Augen

Alt und aktuell: Karlsruhe zeigt wunderschöne Reformoper von Gluck

Isabel Steppeler, in:
Badische Neueste Nachrichten, 15.06.2015

Wagner, die Spätromantik, politische Oper, die Gegenwart … alles schön und gut. Für diesen Premierenabend und seine Wiederholungen vergessen wir aber gerne die thematischen und zeitlichen Säulen, auf die der Karlsruher Opernspielplan hauptsächlich baut. Das 18. Jahrhundert erklingt, und das außerhalb der Händelfestspiele. Zu verdanken ist das der französischen Linie, die das Haus ebenfalls pflegt. Danke an das Staatstheater dafür, eine der schönsten Zeugnisse für den Übergang vom Barock zur Klassik ins Repertoire genommen zu haben! Es wurde Zeit. Und wie diese „Iphigenie auf Tauris" in der einfühlsamen Deutung von Arila Siegert und der knisternd feinfühligen musikalischen Leitung von Christoph Gedschold das Publikum rührt und zudem auch noch auf unaufdringliche Weise 19 Flüchtlinge und damit ein aktuell brisantes Thema im wahrsten Wortsinn an Bord nimmt: Kniefall. Der Jubel ist einhellig.
 
Seufzerthemen um Seufzerthemen bestimmen diese Reformoper von Christoph Willibald Gluck (1714 bis 1787), eine Adaption des berühmten antiken Mythos um die Priesterin Iphigenie nach einem Text von Nicolas-François Guillard. Wunderschöne Reminiszenzen an barocke Kompositionsweisen verschmelzen mit der fesselnden Ausdruckskraft der folgenden musikalischen Epoche der Klassik. Da stehen triumphal rhythmische Themen neben brausend dramatischen. Den meisten Raum aber nehmen zarte, melancholische und leidvoll abwärtsgerichtete, seufzende chromatische Linien ein. Gluck schuf damals Neuartiges, indem er gewohnte Formen der italienischen Oper zugunsten eines natürlichen Ausdrucks aufbrach. Ein musikalischer Sturm etwa spiegelt die innere Unruhe Iphigenies, die Musik der Rachegöttin der Rachegöttinnen symbolisiert fiebrige Seelenqualen ihres Bruders Orest. Der Frauenchor verkörpert die sensiblen Priesterinnen, der Männerchor kontrastreich die kämpferischen Skythen. Akteure hadern mit sich, um am Ende ihre inneren Werte, das rein Menschliche, die Gefühle und die Leidenschaft gegen äußere Zwänge zu stellen. Allen voran Iphigenie, die das schwierige Los hat, sich dem Willen des Barbarenfürsten Thoas zu fügen und zwei Gestrandete, darunter ihren unerkannten Bruder, zu opfern, oder ihrer inneren Überzeugung zu folgen und sie freizulassen. Am Ende wird sie das Patriarchat aufbrechen.
 
Arila Siegert, die schon mit „Romeo und Julia auf dem Dorfe" (2011/12) eine sehr bildhafte und überzeugende Inszenierung ans Staatstheater gebracht hatte, setzt auch diesmal wieder im ansprechenden Bühnenbild von Thilo Reuter auf wenige, ästhetisch schöne und wirkungsvolle Zeichen. So lässt sie Katharine Tier als Iphigenie oft einige Schritte vorwärts und mehrere wieder zurückschreiten, um ihr inneres Wanken zu zeigen. Ein großes Gatter aus Holz schwebt über den vier Akten oder fährt bedrückend herab und symbolisiert die widrigen Umstände, unter denen die Protagonisten Menschlichkeit bewahren. Die Solisten transportieren ihre Charaktere in diesem atmosphärisch dichten Spiel extrem einnehmend. Spätestens ab dem zweiten Akt bleibt dem Zuhörer die Luft weg. Unvergesslich jene Szene, in der Pylades Orest seine treue Freundschaft bis in den Tod zusichert und mit den Worten „La mort même est une faveur, puisque le tombeau nous rassemble" so leise wird, dass man außer ihm und der zarten Orchesterbegleitung nur noch sein eigenes Herz pochen hört, das in diesem Moment übrigens überläuft. Die Staatskapelle ist kein Orchester der frühen Klassik, manche Nuancen könnten dynamisch federnder gespielt werden. Es ist aber eine Freude, wie einfühlsam und sängerfreundlich Christoph Gedschold das Orchester leitet.
 
Armin Kolarczyk mit heldischer Kraft und Steven Ebel mit lyrischem Schmelz sind Idealbesetzungen für die Rollen des Orest und des Pylades. Katherine Tier findet erst spät zu jenem Mittelweg zwischen dramatischer Durchschlagskraft und lyrischer Sanglichkeit, die eine gute Iphigenie ausmacht.  Ihr Vibrato ist anfangs sehr unruhig und erdrückt leider viele melodiöse Linien. Lucia Lucas ist ein vehementer Thoas mit leichten Intonations-Schwierigkeiten, aber sonorem und angemessen wütendem Timbre. Der Chor (Einstudierung: Stefan Neubert) geriet nur im ersten Akt leicht aus dem Metrum, war aber insgesamt ein beispielhaftes Instrument für Stimmungen und Kontraste.
 
Eine besondere Rolle spielen in Siegerts Inszenierung 19 Flüchtlinge aus dem Karlsruher Umland, die dem Geschehen um Schiffbruch und der Sehnsucht nach Heimat als „Gestrandete" eine triftige Wirkung verleihen. Ihnen auf diesem Weg die Hand zu reichen, ist ein beachtliches politisches Ausrufezeichen. Wenn dann noch die Priesterinnen singend die verlorene Heimat beweinen („Patrie infortunée ... ") und sich mit den Händen die Augen verschließen, öffnet das unser aller Augen. Nicht von Liebe handelt diese Oper, sondern von Nächstenliebe. Und das ist absolut sehenswert.


Töten wie am Fließband

Arila Siegert inszeniert Gluck-Oper "Iphigenie en Tauride" als Flüchtlingsdrama in Karlsruhe mit streng-eleganten Aufmärschen

Nike Luber, in: Badisches Tagblatt 15.06.2015

Was für eine Familie! Um sich und seinem Heer eine gute Reise zu sichern, ist der Vater bereit, die Tochter zu opfern. Nach der Rückkehr aus einem langen Krieg wird er von seiner Frau ermordet, die inzwischen anderweitig liiert ist. Daraufhin tötet der Sohn die Mutter. Getrieben von der Erinnerung an die schreckliche Tat, irrt der Sohn danach umher. Die Mythologie der griechischen Antike lässt keinen Schrecken aus und lieferte Opernkomponisten eine Fülle an Themen. Christoph Willibald Gluck wählte Iphigenie aus, die beinahe geopferte Tochter der berüchtigten Atridensippe. Für das Badische Staatstheater Karlsruhe übernahm Arila Siegert die Inszenierung von "Iphigenie en Tauride".

Vor der Opferung wurde Iphigenie zwar bewahrt, aber seitdem dient sie der Göttin Diana als Priesterin in einem Tempel, der sich nicht in ihrer Heimat befindet, sondern im Reich des Skythenherrschers Thoas. Weder mit dem Ort noch mit ihrem Beruf ist Iphigenie glücklich. Bühnenbildner Thilo Reuter schuf dafür eine düstere Umgebung in Grau und Schwarz. Wie eingemauert wirkt die Priesterin in ihrem Tempel. Der geometrisch gestaltete Boden steckt voller Unebenheiten, gitterförmige Schächte sollen die Menschenopfer aufnehmen, die König Thoas fordert. Die Kunst, würdevoll einher zu schreiten, ohne irgendwo zu stolpern oder hängenzubleiben, wird von den Solisten und Choristen erstaunlich gut bewältigt.

Man spürt in der Personenführung die Herkunft der Regisseurin aus dem Tanztheater. Iphigenie und ihre Priesterinnen werden von Arila Siegert in streng-eleganten Aufmärschen und klaren Linien arrangiert, was zu den Kulthandlungen in einem Tempel passt. Den Klagegestus von Text und Musik spiegelt Siegert in den erhobenen Händen der Chorsängerinnen und Statisten. Eindrucksvoll gelingt ihr die Szene, in der sich Orest von Rachegeistern verfolgt wähnt: in rötlich glühendem Licht greifen die Hände der Choristinnen nach ihm, gleich, wohin er sich wendet.

Orest, der den Mord am Vater durch die Ermordung der Mutter rächte, ist durch einen Schiffbruch versehentlich bei den Skythen gelandet. Die freuen sich, für ihre Menschenopfer gleich neues Material bekommen zu haben. Iphigenie erkennt ihren Bruder nicht, und doch zögert sie. Katherine Tier singt eine leidenschaftliche Iphigenie. Die australische Mezzosopranistin führt ihre durchschlagsfähige Stimme in schönen Legatobögen und vermittelt die Verzweiflung der Priesterin wider Willen nicht nur im Forte-Aufschrei, sondern auch in klangvollen Piano-Passagen. Ebenso intensiv und ausdrucksstark gibt Armin Kolarczyk den Orest. Er ist dermaßen mit der eigenen Vergangenheit und Schuld beschäftigt, dass er seinerseits die Schwester nicht erkennt.

Steven Ebel singt Pylades, den Freund/Geliebten des Orest, etwas zu nasal im Ansatz, aber noch auf der klangschönen Seite. Anrührend zeichnet er die unverbrüchliche Liebe zum todessüchtigen Orest nach. Ebenfalls von einem Schuldkomplex getrieben ist der Anführer der Gegenseite, König Thoas. Lucia Lucas verleiht dieser Figur einen klar geführten Bariton und die Körpersprache eines Menschen, der kurz vor dem psychischen Zusammenbruch steht.

Marie-Luise Strandts Kostüme fügen sich perfekt in das dystopische Ambiente ein. Ob Skythen oder Priesterinnen, alle erscheinen in ärmlichen Kleidern. Vom legendären Skythengold haben sie alle nichts. Nur das Bildnis der Göttin ist in einen goldenen Mantel gehüllt. Als die verzweifelte Lage völlig außer Kontrolle zu geraten droht, hat Iphigenie die rettende Idee. Sie hüllt sich in den Mantel der Göttin und sorgt so, zumindest für den Moment, für Frieden und Freiheit. Im Textbuch ist es noch die Göttin selbst, aber es wirkt überzeugend, Iphigenie diesen Part übernehmen zu lassen.

Glucks expressive Vertonung der inneren wie äußeren Dramatik wird von den Solisten, den Chorsängern und der Badischen Staatskapelle hinreißend klangschön zur Geltung gebracht. Den martialisch auftrumpfenden Chorsängern stehen die ätherisch klingenden Priesterinnen-Chöre gegenüber. Kapellmeister Christoph Gedschold und das Orchester demonstrieren ein bemerkenswertes musikalisches Einfühlungsvermögen. Sie leuchten die melodische Eleganz und Farbenreichtum der Partitur aus, aber auch die Atemlosigkeit der Protagonisten, den äußeren Sturm wie den inneren Aufruhr. Die musikalische Seite gelingt rundum überzeugend.

Man könnte diese "Iphigenie" auch ohne Statisterie schlüssig inszenieren. Aber wenn man schon die Menschenopfer gleich zu Beginn als Töten wie am Fließband inszeniert, kann man statt der einheimischen Statisten Menschen einsetzen, die schon von weitem als Nicht-Europäer erkennbar sind. Arila Siegert hat überwiegend Schwarzafrikaner ausgewählt, die ihren Part als Bewegungschor souverän ausfüllen und bei der Premiere einen Extra-Willkommensapplaus erhielten.


Christiane Peterlein

in SWR 2 Cluster, 15.06.2015, 15:05 h

Ist skeptisch gegenüber der Einbindung von Flüchtlingen als Gestrandete. Auf Die Frage des Moderators Moritz Chelius, ob die Aufführung denn gut angekommen sei, antwortet sie:

[Peterlein:] Absolut, und das zu Recht. Arila Siegert führt hier Regie, sie ist auch Choreografin. Sie setzt die Figuren, den Chor ganz großartig ein auf diesem eindrucksvollen Bühnenbild. Das sind wahnsinnig tolle Bilder. Die musikalische Leistung ist großartig.
Für mich war der der Schwerpunkt dieser Inszenierung diese Emanzipation der Menschen, deren Schicksal bis dahin noch von Göttern bestimmt ist. Sie emanzipieren sich hier. Und das ist zum Schluss so, dass Iphigenie die Arie auch der Göttin Diana singt und somit selber das glückliche Ende der Oper einleitet.

Das ist wirklich ganz ganz großartig visuell wie musikalisch geleistet. Und die Inszenierung ist so reich. Sie hätte es nicht gebraucht, diese emotionale durch die Partizipation der Flüchtlinge, die meines Erachtens nicht ganz durchdacht war.


Bühne als Neuland

Arila Siegert inszeniert „Iphigenie auf Tauris“ in Kalrsruhe als Oper der Geflüchteten

kritik Iphigenie RheinpfalzRebekka Sambale, in: Rheinpfalz, 15. Juni 2015

Christoph Willibald Glucks Oper ist die Geschichte einer Sehnsucht. Nach einem Zuhause, in das die Rückkehr unmöglich scheint. Davon singt Katharine Tier als verzweifelte „Iphigenie auf Tauris“ am Staatstheater Karlsruhe. Neben ihr auf der Bühne: 18 Menschen, die dieses Gefühl kennen.
 
28 Rollendebüts, den Chor noch nicht mal mitgezählt. Doch während es für die neun routinierten Opernsänger normal ist, mit einer neuen Partie das erste Mal auf der Bühne zu stehen, blicken einem 19 Gesichter von Menschen entgegen, die eigentlich mal Bauarbeiter waren. Oder Schreiner oder Automechaniker. In Serbien, Eritrea, Gambia. Nun ist das Badische Staatstheater nicht das erste Haus mit der Idee, Asylbewerber auf die Bühne zu holen. Ein bisschen ist das in Mode gekommen, als integratives Projekt und künstlerische Idee. Was manchmal gewollt wirkt, passt jedoch bei „Iphigenie“. Aus der Heimat gezwungen wurde auch sie. In der neuen Rolle im neuen Land muss sie sich erst zurechtfinden, ist verzweifelt.
 
Sehr eindrücklich, poetisch gar, wirkt die Kombination aus Regie (Arila Siegert) und Bühnenbild (Thilo Reuther). Wie zu den ersten Klängen die Bühne in tiefes Blau taucht: Wasser, Meer, Angeschwemmte, Gestrandete, Suchende. Dann Menschen in wogender Bewegung hin und her schwappend, neue Ufer erreichend. Hier ist – im positiven Sinne – nicht zu übersehen, dass Siegert aus dem Tanztheater kommt. Auch sonst schafft das Bühnenbild eine bedrückende Atmosphäre. Dicke Steinwände, ein schweres Gitter. Das sich immer wieder senkt. In den kleinen Freiräumen, engen Parzellen: die Geflüchteten – in Karlsruhe wirklich Geflüchtete (die nicht singen, aber an vielen Stellen körperintensiv spielen). Auch Statisten und der Staatsopernchor sind dort eingepfercht. Der Chor hat großen Anteil an dieser kurzen Oper, singt mächtig.
 
Es ist ein einziges Jammern und Leiden, das Gluck in Musik packt. Würde man alle glücklichen Momente zusammenzählen, kämen höchstens zehn Minuten heraus. Der prächtigste davon: das Finale. In Karlsruhe ein schöner Abschluss, weil alle sich gerne haben. Ein kleines bisschen Völkerverständigung. Damit’s noch freundlicher wird, ändert Arila Siegert die Handlung: Thoas wird nicht ermordet, es erscheint keine Göttin, stattdessen darf Iphigenie Orest von seiner Schuld freisprechen. Das hätten wir jetzt nicht unbedingt gebraucht. Schadet aber auch nichts, weil der Rest der Bilder an diesem Abend stimmt.
 
Bleibt die Frage, warum sich die Aufführung trotzdem und trotz eines vital spielenden Orchesters (Leitung: Christoph Gedschold) an einigen Stellen zieht. Vielleicht liegt es an den teils verschleppenden Solisten, die manchmal arg weit zurückgelehnt singen. Einiges tragisch Klagende wird zu sehr gedehnt. Ansonsten tritt das Sänger-Ensemble überzeugend auf. Katharine Tier (Iphigenie) und Armin Kolarczyk (Orest) zeigen starke, durchschlagende Stimmen. Steven Ebel (als Pylades etwas eng gesungen) und Lucia Lucas (als Thoas nur in kleiner Partie) ergänzen das Haupt-Quartett. Das Premierenpublikum ist begeistert, möchte gar nicht mehr aufhören zu applaudieren. Besonders schön an diesem Abend aber: Neben den Neulingen auf der Bühne findet sich auch im Zuschauerraum der eine oder andere, der wohl zum ersten Mal eine Oper anschaut.



Iphigenie en tauriede in ONGAKUGENDAI

Im Rahmen einer Übersicht über Highlights in Deutschland berichtet Chihoko Nakatain in der japanischen Musikzeitschrift "Ongakugendai, Tokyo" ebenfalls über die Produktion. Die Rezensentin  beurteilt diese Aufführung als besonders eindrucksvoll im Bezug auf ihre aktuellen Aspekte und in der szenisch-choreographischen Gestaltung.




Strandgut und Hoffnung

Eckhard Britsch, in: Opernnetz.de [über die B-Premiere]

Wir reden so gerne von Strandgut, und unbedacht wird der Ausdruck auch auf Menschen angewandt. „Strandgut“: Menschen, die angespült werden, lebendig oder tot, die einer ungewissen Zukunft entgegenblicken und sich der Ungunst des Schicksals beugen müssen. Die Bilder sind aktuell und mächtig, bedrückend und beschämend.

Regisseurin Arila Siegert zeigt am Staatstheater Karlsruhe, dass die (Reform-)Oper Iphigenie auf Tauris von Christoph Willibald Gluck zwar einer uralten Mythologie entlehnt ist, dass jedoch deren Schemata von Bruder- oder Elternmord, von blutrünstigen Ritualen und seltsamen Verstrickungen ferne oder gar albern anmuten mögen, dennoch aktuelle Bezüge aufweisen. Frau Siegert holt aus dem nahen Flüchtlingsheim 19 Gestrandete auf die Bühne, die als Geworfene und Beteiligt-Unbeteiligte dem Geschehen um die meuchelnde Priesterin wider Willen, Iphigenie, die nachdenkliche Grundlage geben. Denn das Thema Nächstenliebe, in unserer materialistischen Welt ungeniert vernachlässigt, kristallisiert sich in dieser Opernsicht heraus.

Die Bühne von Thilo Reuther mit den individuellen Kostümen von Marie-Luise Strandt ist von dunkler Bedrohlichkeit; grauschwarze Quader als Opferaltäre, stufige Elemente suggerieren die Widrigkeiten der Lebenswege; die Halbschalen des Hintergrundes lassen sich öffnen, mittig erscheint dann das goldene Gewand der Diana, in welches am Ende Iphigenie schlüpft, um sich dessen als Akt der Selbstbefreiung wieder zu entledigen. Iphigenie hat sich selbst gefunden, hat Widerstand geleistet gegen die maßlosen Forderungen des Schicksals und dessen diktatorischen Vollstreckers Thoas.

Die Staatskapelle Karlsruhe musiziert unter Leitung von Christoph Gedschold geradezu aggressiv, zugespitzt und außerordentlich passgenau die Stimmungen und Emotionen der Figuren auslotend, zumal Frauen- und Männerchor regelrecht auftrumpfen. Sängerisch überwiegt das Positive, von kleineren Schwächen abgesehen. In der Titelfigur überzeugt Katharine Tier insgesamt durch die Gesamtdarstellung aus Stimme und Gestik. Dennoch, ihren leuchtenden Mezzo setzt sie gelegentlich übersteuert ein, da fehlen dann in den dramatischen Ausbrüchen ein wenig die Farben, auch die Kultur der Phrasen.

Glanzpunkt ist ohne Zweifel Bariton Andrew Finden als Orest, denn er lotet alle Facetten aus zwischen Kraft, Verzweiflung, Zuwendung und Lebenssehnsucht. Sein Männerfreund heißt Pylades, der hoch veranlagte Tenor Jesus Garcia verkörpert ihn. Allerdings etwas unentschlossen, ob er seine Stimme eher als jugendlicher Held oder als sensibler Lyriker profilieren soll. Er kann beides, aber die Synthese fehlt ein wenig an diesem Abend. Seung-Gi Jung singt einen abgründig-herrischen Thoas, und eine Entdeckung ist Yang Xu als Skythe: In der sehr kleinen Partie offenbart er einen frei strömenden, klaren Bass, den man öfter hören will. Die Priesterinnen Camelia Tarlea und Cornelia Gutsche, die Griechin Constanze Kirsch und der Tempeldiener Mehmet Altiparmak sind angemessen gut besetzt.

Das Publikum der B-Premiere applaudiert brav-zufrieden dem Drama um die Nächstenliebe.


Dramatischer Hochdruck

Karlsruher „Iphigenie“
als umbesetzte B-Première

rkr, in: BNN, 19.11.2015

...Von der A-Besetzung ist lediglich Katharine Tier in der Titelpartie geblieben. Ihr kräftiger Mezzo gibt der Figur betont heroische Statur, auch wenn die Stimme durch häufigen Überdruck zu kehliger Härte neigt und in der Höhe nicht ohne Mühe ist. In den wenigen Momenten verhaltenen Pianos und schlichter Melodik zeigt Tier jedoch eine eindringliche Sensibilität, in der der innere Konflikt der unglücklichen Iphigenie glaubwürdigen Ausdruck findet. Allerdings könnte und sollte die Sängerin an der Textverständlichkeit unbedingt arbeiten.

Das Freundespaar Orest/Pylades dagegen war neu besetzt. Hier konnte vor allem Jesus Garcia als Pylades durch sängerische Qualität und darstellerischen Ausdruck überzeugen. Sein mühelos geführter, leichter Tenor stiftete dem Abend durch klare Tongebung, gute Artikulation und stilistische Souveränität beeindruckende Höhepunkte. Garcia wird von der kommenden Spielzeit an dem Ensemble des Staatstheaters angehören – ein Gewinn. Andrew Finden, der das Haus im Herbst nach eher unauffälligen Einsätzen verlassen wird, lieferte als Orest seine wohl beste Leistung ab, auch wenn er in den großen Ausbrüchen wie der packenden Szene mit den Furien an die Grenzen seines betont lautstarken Baritons geriet.

Als barbarischer Skythenkönig fiel Seung-Gi Jung, der sich in den Jahren seines Karlsruher Engagements doch so erfreulich entwickelt hatte, leider in die Schwächen seiner Anfangszeit zurück. Seine voluminöse, nicht immer ganz sicher kontrollierte Stimme geriet unter dem dramatischen Nachdruck, zu dem die Partie des Wilden (und die Regie) ihn verführten, in ein störendes Tremolo mit unklarer Intonation, das sich im Laufe des Abends besserte. Christoph Gedschold am Pult der Badischen Staatskapelle leistete der betonten Hochspannung der Aufführung mit Verve prägenden Vorschub.

Helles Licht also und einige leichte Trübungen in einem Opernabend, dessen effektvolle Inszenierung (von Arila Siegert) namentlich in der Behandlung des Frauenchores und einer suggestiven Lichtregie ihre gewichtigen Pluspunkte hat...


aus dem GÄSTEBUCH-ARCHIV
des Staatstheaters Karlsruhe:

Wolfgang Weisbrod
schrieb am 15.07.2015:
Betreff: „Iphigénie en Tauride“

Was für ein beglückender Abend gestern Abend - es hat alles gestimmt, die zauberhafte Musik (Kompliment an den Dirigenten und den Chor!), die Solisten natürlich, allen voran Katharine Tier, Armin Kolarczyk und Steven Ebel, das archaisch einfache und großartige Bühnenbild, vor allem aber die ergreifende Inszenierung Arila Siegerts. Endlich einmal wieder eine Regie, die auf Mätzchen und Aktionismus und oft haarsträubenden Blödsinn (Hans Sachs als Mister-Minit-Schuster!!!) verzichtet, die das Stück ernst nimmt und den Sängern Raum und Zeit gibt, das zu tun, wofür sie eigentlich engagiert worden sind - in Ruhe zu singen.

Es ist auffallend, dass die stimmigsten Inszenierungen, die ich in den letzten Jahren gesehen habe - ob in Heidelberg Nanine Linning, in Darmstadt bis vor einem Jahr noch Mei Hong Lin oder eben in Karlsruhe Arila Siegert (deren "Romeo und Julia auf dem Dorfe" durch die Intensität und Schönheit mir bereits mehr als angenehm aufgefallen war) - inzwischen von Choreografinnen geleistet werden. Honny soit qui mal y pense - ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

"Kunst, sofern sie nicht miserabel ist, hat immer etwas Kulinarisches" hat Max Frisch in seinem Tagebuch geschrieben, und zu dieser "kuliarischen" Seite zählt für mich auch, dass nicht jeder "Klassiker" aktualisiert (und damit oft verunstaltet) werden muss. Und doch ist es Frau Siegert ganz vorzüglich und (wenn dieser Begriff in Zusammenhang mit der Atriden-Tragödie erlaubt ist) elegant gelungen, den antiken Stoff mit unserer Gegenwart zu verbinden, ohne ihn oder die Vorlage zu vergewaltigen, indem sie junge Flüchtlinge mit einbezogen hat. Eine ebenso grandiose wie stimmige Idee. Was muss es für diese jungen Menschen aus Afrika für ein Kulturschock gewesen sein, mit dieser so eminent europäischen Kunstform Oper konfrontiert zu werden, aber auch in sie mit einbezogen zu sein, um am Ende, wie alle Beteiligten, mit Beifall überschüttet zu werden.

Ein großer Abend und für mich einer der Höhepunkte, wenn nicht der Höhepunkt der zu Ende gehenden Spielzeit (in der ich viel gesehen habe - manches auch, was ich lieber nicht gesehen hätte!). Vielen Dank allen, die diesen Abend ermöglicht und mitgewirkt haben.


Asylbewerber auf der Bühne

Das Badische Staatstheater Karlsruhe engagiert sich in der Flüchtlingsarbeit. Asylbewerber spielen dort "Gestrandete" - in einer Gluck-Oper.

EPD | 18.03.2016 (Evang.Presse-Dienst)
in: Südwestpresse Ulm, 18.03.2016

Die zentralen Themen Flucht und Vertreibung in Christoph Willibald Glucks Oper "Iphigenie auf Tauris" werden im Badischen Staatstheater Karlsruhe in dieser Spielzeit besonders eindrucksvoll in Szene gesetzt. Die Mitglieder des Ensembles werden bei der Inszenierung von Regisseurin Arila Siegert von rund einem Dutzend Komparsen aus einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber unterstützt.

Als "Die Gestrandeten" symbolisieren die Männer aus Schwarzafrika und Serbien in mehreren Szenen ihre innere Zerrissenheit und regen damit gleich im mehrfachen Wortsinn zum Nachdenken an. Seit der Premiere der Oper im Sommer 2015 sind die Laiendarsteller aus einer Asylbewerberunterkunft im Landkreis Karlsruhe das weithin sichtbare Symbol der Flüchtlingsarbeit im Staatstheater. Ein Video mit Szenen aus der Probenphase sowie mit Interviews läuft seither in den Pausen von anderen Vorführungen auf den Monitoren im Theaterfoyer.

Die Arbeit mit Asylbewerbern begann am Badischen Staatstheater bereits ein Jahr zuvor. Die Operninszenierung ist aber nicht das einzige politische Projekt. "Bereits seit Sommer 2014 ist das Thema in unserem Haus virulent," sagt Jan Linders. Der Schauspieldirektor und stellvertretende Theaterintendant hat bereits mehrfach Akzente für eine freundliche Willkommenskultur sowie einen breiten gesellschaftlichen Diskurs zur Flüchtlingskrise gesetzt.

Mit dem 18-jährigen kurdischen Schauspielschüler Hadir Kheri Hando steht in dem Stück "Die Kinder des Musa Dagh" derzeit ein aus dem Irak geflüchteter Jeside auf der Bühne. Regelmäßig laden Linders und seine Mitstreiter nach den Aufführungen zu Diskussionsrunden mit dem Publikum ein. "Wir wollen den Menschen die Angst vor dem Unbekannten nehmen", betont Linders.

Ein internationales Theaterhaus ist für den Schauspieldirektor dabei der ideale Ort für ein Zusammenführen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Ein Theater sei immer auch ein "Mikrokosmos der Gesellschaft", sagt Linders. Das gelte auch für den Betrieb hinter den Kulissen, denn in Karlsruhe sind rund 800 Mitarbeiter aus 40 Herkunftsländern beschäftigt.