Auf irritierende Weise herausgefordert als „Mit-Wirkende“ in einer eigenwilligen Aufführung. So mag sich das sorgfältig platzierte Publikum am Wochenende im Großen Saal vom Festspielhaus Hellerau gefühlt haben, konfrontiert mit der szenischen Produktion „Über die Mauer“ unter der künstlerischen Leitung von Arila Siegert in Zusammenarbeit mit der Künstlergruppe Violett. Wer anfänglich vielleicht noch versuchte, in der geballten Konfrontation mit Worten, Gedanken, Situationen – im Gedächtnis blieb immerhin das assoziierte Bild vom grünen Apfel auf dem gelben Tisch – das Geschehen analysieren und begreifen zu wollen, hat es wohl bald schon mehr oder weniger aufgegeben.
Farbspektakel durch Verwandlung
Wirklich
spannend
wird es erst dann, wenn sich der komplett weiß gehaltene Bühnenraum
höchst geheimnisvoll mit Linien, Farben, Figuren belebt und die
engagiert agierenden Performer (Kerstin Schweers, Jörg Thieme und mit
Tanz und Gesang Isabel Wamig) quasi eingefangen, verlockt wie auch in
sichtbare Beziehung gesetzt sind zu dem Figuren-, Farb- und
Formenspektrum jener sinnlich-geheimnisvollen Malerei, wie sie Helge
Leiberg über den Overheadprojektor live in den Raum projiziert. Das ist
immer wieder eine Art Wunder und derart sinnlich erfahrbar, dass man nur
staunen kann über solche Möglichkeiten der Verwandlung. Und insgesamt
ein Geschehen, in das mit seinen Kompositionen und der Live-Musik auch
Ali N. Askin besondere Klangfarben mit ins Spiel bringt. Von ihm stammte
übrigens auch bereits 2019 die Komposition für Kandinskys Violett in der
Regie von Arila Siegert...
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...Aus aufführungsanalytischer Perspektive entfaltet das Projekt gleichzeitig einen narrativen wie sinnlich-abstrakten Rahmen, in welchem nicht nur der Text sondern die audio-visuellen Wirkungen des Materials im Zentrum stehen...
Als choreografisches Gesamtkunstwerk entfaltet die Inszenierung einen synästhetischen Raum, in dem Farben und Bewegungen sich mit Tönen, Wörtern und Gesang vermischen und dabei eine ästhetische Synthese bilden. Besonders faszinierend ist das Wechselspiel zwischen Tanz, Live-Malerei und Klavierspiel, wodurch der Eindruck entsteht, die Bewegungen der tanzenden Körper würden materiell-farbige und akustische Spuren im Raum hinterlassen und der tanzende Körper wäre im Zustand seiner intensiven Bildhaftigkeit sicht- und hörbar. Die Konstellation zwischen choreografischer Arbeit, Bildproduktion und akustischer Performance erzeugt ein komplexes Wahrnehmungsfeld ohne stabile Grenzziehungen zwischen den Elementen. Aus der Perspektive der Zuschauenden resultiert dieses intermediale Verfahren in eine oszillierende Wahrnehmung simultaner Ereignisse.
Die von der Bühnenkomposition verursachten Schwingungen breiten sich in der Betrachtung der Zuschauer*innen aus und regen dadurch ihre Phantasie an... Mit assoziativen Blick auf die wuchernden Mauern im Kontext der globalen Migrationskrisen wird mit der Inszenierung allerdings nicht nur ein ästhetisch-metaphysisches Programm ausgeführt und suggeriert, sondern auch ein ethisches. Die innere Notwendigkeit, Bewegungen jenseits von Mauern zu initiieren, die Siegert und die Künstlergruppe Violett vollziehen, ist somit ein Plädoyer für einen Tanz in das Freie und Offene der Imaginationskraft, als jene Schlüsselkategorie progressiver politischer Gesten.