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Mythische Reise in die Tiefen des Ichs

Höhepunkt der Rostocker Oper: Orfeo ed Euridice
Vier Glücksfälle trafen zum Saisonhöhepunkt der Rostocker Oper zusammen.

Heinz-Jürgen Staszak, in:
Norddeutsche Neueste Nachrichten (SVZ), Montag, 7. Juni 2004

...Arila Siegert macht aus dem antiken Mythos eine hochsymbolische Zeichenveranstaltung von der Macht und Ohnmacht des Ausdrucks, gleichsam eine mythisch-psychologische Forschungsreise in die unerforschten Tiefen des Ich, wenn das Leid übermächtig wird. Wie nach dem Goethe-Wort: "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt. / Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide". Wendet der Ausdruck des Leids auch nicht das Leid - dies die Ohnmacht des Ausdrucks, so ist er doch "eingeschrieben in die Welt" (wie die Regisseurin so erhellend im Programmheft schreibt) - dies die Macht des Ausdrucks.

Dieses moderne wie gleichermaßen werktreue Konzept realisiert das Inszenierungsteam in klar gegliederten und poetischen Bildern, deren Choreografie etwas von der strengen Schönheit des Schachspiels, aber auch von irrationaler Traumlogik hat, von symbolträchtiger Kraft, wie etwa in dem eindrucksvollen Elysiumbild, in dem die Seligen nur selig sind, weil sie unerlässlich das Wasser des Vergessens aus dem Lethe-Fluss schöpfen, oder in den stets sichtbaren Felsblöcken, bedrohlich und bedrängend, gleichsam die ungestalten Fossilien der Seele, oder dunkel-geheimnisvoll, wie mit der neueingeführten stummen Figur der Persephone, von der man nie genau weiß, ist sie Verführerin, Beschützerin oder Orfeos alter ego oder gar Regisseurin (Arila Siegert spielt sie selbst). Und völlig folgerichtig wird hier das glückliche Ende, mit dem Gluck sich wohl nur der barocken Konvention beugte, durch den Tod Orfeos als Illusion konterkariert.

Spätestens hier zeigt sich - verstörend und produktiv - die dargestellte Geschichte als Imagination Orfeos...


Ausweitung der Vorhölle in „Orpheus und Eurydike“

Dietrich Pätzold, in Ostsee-Zeitung, 07.06.2004

...Die Handlung jedoch ist mit ihrer Einfachheit und der angehängten Lobpreisung des Eheglücks für moderne Ohren allzu schlicht. Regisseurin Arila Siegert, die in Rostock u.a. die Oper „Der Meister und Margarita“ als faszinierenden Beitrag zur Expo 2000 inszeniert hat, entdeckte gerade hierin Freiräume für Neuinterpretationen. Ihre ganze Inszenierung ist ein gemessenes Schreiten – der Akteure wie des Opernchores – im Gestus, zuweilen im Kontrast zur Musik.

Die blinde Sängerin Gerlinde Sämann als Eurydike bringt neben einem schönen Sopran bis ins Sterbelied einen bemerkenswerten Gegenakzent zu jenem Orpheus mit, der nicht schauen darf. Die junge Sopranistin Andrea Stadel zieht als erfrischend kecker Amor die Strippen. Als neu in die Oper eingefügte stumme Persephone wandelt Regisseurin Arila Siegert zwischen den Welten der Lebenden und der Toten. Ein Glücksfall der Orpheus des Countertenors Martin Wölfel, der besonders in hohen Lagen mit klarem Ton das Orchester überstrahlt.

Für diesen Orpheus wird der Weg ins Totenreich ein Gang in eine recht heutige Hölle. Seine Lyra muss durch mehrere Sicherheitskontrollen, bevor er damit die Furien erweichen kann. In den Auen des Elysiums dann, in denen er Eurydike findet, bewegen sich die „Seligen“, ganz in Weiß gekleidet, mit dem gleichförmigen Ausdruck einer steril wirkenden Paradies-Welt. In dieser Interpretation gehören auch die Räume des Ehelebens – links ein Ehebett, rechts die Küche – zum Bereich der Vorhölle (Bühnenbild Hans Dieter Schaal).

Glucks Happy End wird als Kaffekränzchen persifliert. Anschließend gelangt, mit einer angefügten Ballettmusik zu Don Juans Höllenfahrt, der tragische Mythos wieder zu seinem Recht: Orpheus treibt einsam dahin. Frauen werden ihn in Stücke reißen.


Gefeierte Inszenierung am Volkstheater: Orpheus und Eurydike

Sehenswert, Hörenswert, Großartig

in: Ostsee-Anzeiger, Rostock, 9.Juni 2004

...Die Nebenrolle der Persephone, in der antiken Mythologie die Todes- und Fruchtbarkeitsgöttin, kommt im Original nicht vor: Palucca-Schülerin Arila Siegert, die auch für die Inszenierung und Choreografie verantwortlich war, hat die Rolle vordergründig geschaffen, um die blinde Gerlinde Sämann auf der Bühne unterstützen zu können. Doch wie sie die stumme Rolle ausfüllt – das ist ein großer Wurf: eine Figur mit philosophischem und psychologischem Tiefgang, eine Wanderin zwischen dem Hades und der Welt, die gleichzeitig unerbittliches Schicksal und Trösterin ist. Dem entsprach ein nicht überladenes, durch viele Licht-Ideen sehr variables Bühnenbild, das die Ideen der Inszenierung fassbar und schlüssig übersetzte. Und auch dann nicht banal wurde, als vier Barock-Engelchen-Kinderstatisten ein Lächeln in die Zuschauerreihen zauberten: Wenn Kinder auch kein Ausweg aus der Tragik der Witwerschaft sind, so sind sie doch ein guter Grund, sie zu ertragen.

Die Leistung der Norddeutschen Philharmonie möchte man am liebsten in Karat angeben – der Juwelier Wolf-Dieter Hauschild hat mit seiner vorletzten Arbeit am Volkstheater noch einmal deutlich gemacht, welchen Diamanten er in die Hände seines Nachfolgers legt...


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