In der Liebe wie in der Kunst kann es keine Demokratie geben - und auch nicht unbedingt Regeln. Auch deshalb sind wir, nach Martin Luther, mitten im Leben mit dem Tod umfangen. Der ist in Arila Siegerts Inszenierung von Georges Bizets "Carmen" an der Oper Chemnitz allgegenwärtig. Der Wirt Lillas Pastia (dunkel und geheimnisvoll: Sylvia Schramm-Heilfort) beobachtet das tragische Geschehen um die Roma Carmen und den vom Soldaten zum Schmuggler gewordenen Don José von Anfang an aus der Ferne und lässt nichts Gutes ahnen.
Dies ist einer der Regieeinfälle, die Siegerts Interpretation prägen, ebenso wie der Gegensatz zwischen uniformiertem Militär, das Gesetz und Ordnung, wenn auch mit korrupten Kompromissen, verkörpert und dem seine Freiheit und Unabhängigkeit, auch oder gerade gegen bürgerliche Regeln beanspruchenden Volk, das sich immer mal von einem so revolutionär wie blutrotem Band vereint zeigt.
Dargestellt von den zahlreichen Damen und Herren der Chöre (hervorragend eingestellt von Stefan Bilz, Lorenz Höß), wirkt es in seinen Alltagskleidern (Kostüme und Requisiten von Marie-Luise Strandt) zwar eher kleinbürgerlich und etwas zu idealisiert. Zumal sich der Glücks- und Liebesanspruch der "kleinen Leute", wie es die beiden Roma Frasquita und Mercédès (verführerisch lebendig gesungen und gespielt von Daria Kalinina und Marlen Bieber) bei der Befragung der Karten formulieren, auch nur auf "jung, stark und schön" oder "alt und reich" beschränkt.
Da ist Carmen in ihrer konsequenten Inkonsequenz schon bestimmter. Wirkt es am Anfang noch fast unfreiwillig komisch, wenn sie zur Betonung von Erotik und ungestilltem Begehren den Rock etwas zu hoch zieht, überzeugt Sophia Maeno mit dem unbedingten, aber gar nicht unumstrittenen Anspruch auf die Freiheit ihrer Liebe. Wohlwissend, dass sie den möglicherweise nicht überleben wird. Ihre sängerische wie auch schauspielerische Leistung ist, wie auch die der anderen Solistinnen und Solisten, hervorragend. Sie singen verständlich und ausdrucksstark in französischer Sprache, die mitunter etwas kurz gehaltenen deutschen Übertitel sorgen für die nötigste Erklärung. Warum sie dem Torero Escamillo (stolz und selbstbewusst: Thomas Essl) verfällt, kann man sich nicht so recht vorstellen. In seinem golden glitzernden Kostüm wirkt er wie aus der Zeit gefallen. Dies beschert ihm aber zum Schluss noch einen starken Auftritt.
Dagegen kann einem Don José, der starken, ihre Freiheit liebenden, aber nie erklärenden Persönlichkeit Carmens ausgesetzt, in seiner verzweifelten Hilflosigkeit hervorragend interpretiert von Gustavo Peña, manchmal fast leidtun - obwohl er von "#MeToo" und "Nein heißt Nein" nie etwas gehört hat. Aber immerhin hat er doch für Carmen, "eine Dame aus der Zigarettenindustrie mit zweifelhaftem Ruf und häufigem Partnerwechsel", "militärische Karriere und gesicherten Pensionsanspruch" geopfert hat, wie das Loriot lakonisch beschrieb. Und er bemüht sich mit sehr vielen Schmugglern um sehr wenig Schmuggelgut, das durch eine sehr enge Schlucht zu transportieren ist. In die wagt sich auch Micaëla (Tatiana Larina als im wahrsten Sinne des Wortes "graue Maus") die Don José anfangs liebte, ihn sich aber von Carmen ausspannen lassen muss. Sie ist die bürgerliche Verliererin, Opfer von Carmens Freiheits- wie Josés Besitzdrang: Beide wissen jedoch um die Ausweglosigkeit ihrer Ansprüche.
Carmen legt sich die Karten, "Karo, Pik", die ihren Tod bedeuten. Doch die Liebe ist ihr diesen Tod wert, was sie ausgiebig wiederholt. Das sparsame, aber sehr variable Bühnenbild von Hans Dieter Schaal, das mit wenigen Drehungen von der Stierkampfarena zum Markt zur Kaserne zur Schlucht wird, umgibt die Szenerie wie ein Gefängnis, dem die Handelnden nicht entfliehen können.
Jakob Brenner, musikalischer Leiter der Premiere, unterstreicht dies mit seiner Führung der bestens aufgelegten Robert-Schumann-Philharmonie, deren Interpretation genau dem entspricht, was schon Friedrich Nietzsche an dieser Oper mochte: "Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. Diese Musik ist böse, raffiniert, fatalistisch: sie bleibt dabei populär."
So nimmt das Verhängnis zu den wie Gassenhauer bekannten Melodien seinen Lauf: die Liebe als "in die Natur zurückübersetzte Liebe" (Nietzsche), die so unschuldig wie grausam und rücksichtslos ist und jeden Besitzanspruch ablehnt. "Liebe ist bedingungslos", hat André Heller einmal gesungen - doch das hält im Grunde Carmen nicht und schon gar nicht Don José aus. Was in einem starken Schlussbild, dem stärksten der Inszenierung von Arila Siegert, sein Ende findet: die ermordete Carmen vor dem überdimensional großen Kopf des von Escamillo getöteten Stiers. Zwei sinnlose Opfer einer faszinierenden wie archaischen Auffassung von Leben und Liebe, der dunklen Macht eines Mysteriums, das Menschen zu allem fähig macht - zum Besten, aber auch zum Schlimmsten.
Es gab langen, begeisterten Applaus für die rasante, bunte Inszenierung, die auch Fragen offenließ. Sodass sich in den Beifall vielleicht ein wenig Verunsicherung mischte.
Sophia Maeno ist Carmen. Mit einer beeindruckenden gesanglichen und darstellerischen Leistung war die Sopranistin prägende Figur der gefeierten Premiere… An Maenos Seite glänzte Gustavo Peña mit klarem, scheinbar ermüdungsfreiem Tenor… Die Inszenierung ist eine „typische Arila Siegert“… [Es] entstehen immer wieder Choreografien und malerische Bilder. Diese geben der Inszenierung großen Schauwert und zwingenden Rhythmus… „Carmen“ in Chemnitz wird nicht nur vom Premierenpublikum mit stürmischem Beifall gefeiert werden.
Coronabedingt mit zweieinhalb Jahren Verspätung und im dritten Anlauf hatte in Chemnitz die Oper "Carmen" Premiere. Das Publikum jubelte. Wie erlebten unsere Hörer den Abend? Das Fazit: "Grandiose Inszenierung."
MDR Sachsen, Mo 26.09.2022, 22:10 Uhr, 04:03 min (mp3; 3,8mb)
Am Abend der Generalprobe von Georges Bizets „Carmen“ gab man sich noch zuversichtlich. Die Absage des kompletten Spielbetriebs bis zum 13. April erfolgte am Theater Chemnitz genau 19 Stunden nach deren Ende. Dabei deuteten alle Zeichen auf einen intensiven Abend, dessen Premiere jetzt wegen der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus verschoben wurde. Attackierender Motor der Generalprobe war der Tenor Gustavo Peña.
Der schonungslos seine Reserven nutzende Gustavo Peña riss alles mit, so dass dieser Wellensturm der Leidenschaft wie in einer ‚richtigen‘ Vorstellung kleine Irregularitäten verschlang. Das erste Bild der Chemnitzer „Carmen“-Generalprobe gelang perfekt, während des zweiten und dritten arbeitete man noch an Farben und Feinschliff. Beeindruckend geriet die Leistung des Opernchores unter Stefan Bilz, der in dieser Spielzeit mit „Mefistofele“, „Lohengrin“ und jetzt „Carmen“ einen imposanten Arbeitsrekord aufstellt, sowie des Kinderchors mit dezenter Überalterung. Da wird in Sevilla eine frische Generation von Soldatenliebchen alsbald flügge (Dovilė Šiupėnytė).
Stier- und Geschlechterkampf: Gleich im Vorspiel des 1875 an der Pariser Opéra comique uraufgeführten Beziehungsthrillers drängt die Menge in die Arena. Dahinter steht die Schänke des Todesboten Lillas Pastia (Sylvia Schramm-Heilfort). Durch eine schmale Gasse tritt Carmen vor. Mit einem riesigen roten Tuch umgarnt sie den Sergeanten José. Später umschlingt er sie mit diesem, bevor sein Messer in ihrem Unterleib wühlt.
Hier ist Carmen, der Sturmvogel freier Sinnlichkeit, allerdings keine Emanze, die sich auf dem Altar der Gleichberechtigung opfert. Und die Inszenierung will keine Kritik an den Geschlechterfronten hinter den romantischen und folkloristischen Motiven aus Prosper Mérimées Novelle. Angesichts der mit Joppe und gestricktem Wollschal auftretenden Micaela (Maraike Schröter) versteht man sofort, dass gesunder Alltag chancenlos bleiben muss gegen Verheißungen der Andersartigkeit – ob in Andalusien oder im Erzgebirge.
Zur erotischen Betäubung des durch ein Scharmützel von der katholischen Kleriker-Laufbahn zum Militär abgedrängten José bedarf demzufolge auch keines ‘Zigeunerzaubers’. Arila Siegert (Regie), Marie-Luise Strandt (Kostüme) und Hans Dieter Schaal (Bühne) übertreffen sich nach ihrem Chemnitzer „Ballo in maschera“ mit Bernd Feuchtner (Dramaturgie) selbst. Jedes szenische Detail sitzt messerscharf, die Dialoge (Sprachcoach: Vincent Borrits) haben nachdrückliche Dynamik.
Vor allem funktionieren die akuten Brüche und Sprünge in Bizets Partitur und der nach dem Deutsch-Französischen Krieg zu ihm übergelaufenen Offenbach-Textdichter Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Das Skandalon dieses dereinst neuartigen Panoramas von Unterschicht und Amoralität ist zwar passé, nicht aber der Zündstoff einer auch ohne Viren oder Druck von außen selbstzerstörerischen Paar-Dynamik.
Im immer eine Spur übersteuerten José steckt der Teufel Eifersucht und auch dank der Edition von Michael Didion ist Carmens erotische Lebhaftigkeit schon vor ihrem ersten Ton kein Geheimnis. Geöffnete Striche wie die Hahnrei-Couplets von Morales (Max Dollinger), der Männer-Chor beim Auftritt der Zigarettenarbeiterinnen und kleine Zwischenspiele befeuern den Abend. Konsequenterweise wird der Torero Escamillo zum Beau, der Carmen mit Dolce Vita beglückt (Andreas Beinhauer).
Guillermo García Calvo und die Robert-Schumann-Philharmonie machen alles mit und treiben an. Rasant die Verve und Brillanz des ganzen Ensembles und der Musiker*innen bei Sprüngen wie denen von echter Frivolität zur falschen Walpurgisnacht im Schmugglerbild. „Carmen“ wird serviert als auf Wespentaille verschlanktes Kunstwerk der Zukunft und enervierendes Potenzmittel. Am Teatro de la Zarzuela weiß man genau, was für ein Glücksfang der neue Musikdirektor ist. Wie beim Chemnitzer „Ring des Nibelungen“ versteht Guillermo García Calvo unter Dramatik koloristisch betörende, situativ punktgenaue und sängerfreundliche Zuspitzungen.
Im diffizilen Schmugglerquintett kommt’s zum Geschwindigkeitsrausch, den Sylvia Rena Ziegler als Carmen abbremst. Nicht im Tempo, sondern durch starke Persönlichkeit. Sie gestaltet die Partie mit magnetischer Präsenz und verführender Simplizität. Diese Hexe kokettiert nicht, lamentiert nicht und wird dadurch erst recht unwiderstehlich. Carmen weiß auch ohne Todesboten, mit dem sie ausgelassen zur Corrida tanzt, was Sache ist und wie diese für sie ausgehen wird. Im Gegensatz zu Don José, einer an beiden Enden brennenden Kerze.
Fast beängstigend verkörpert Gustavo Peña einen Choleriker, dessen gute Vorsätze am Gewaltpotenzial zerschellen. In zupackender Verausgabung seines klaren Tenor-Materials und erstaunlicherweise ohne Überdruck ist Gustavo Peña mehr Raubkatze als Stier mit einer Neil Shicoff und Fabio Armiliato gleichkommenden Eindringlichkeit bis zur Selbstzerfleischung: Ein solcher Liebesterrorist wäre der ideale Mann für alle von der Macht des Schicksals Getriebenen im mediterranen Repertoire.
Vorhang zu und keine Fragen offen. Die Chemnitzer „Carmen“ verdient nach der Schließzeit ein volles Haus.
Generalproben ohne absehbare Premiere gab es vor dem Wochenende ... [u.a.] an der Oper Chemnitz mit Bizets „Carmen“. … Durch Zufall war der Rezensent in der Chemnitzer „Carmen“-Generalprobe und erhielt die Genehmigung der Theaterleitung zum Bericht.
Bereits das erste Bild ist so stark, dass man sich die Premiere dringlich herbeisehnt. Auch dem Theater-Aberglauben, dass eine Produktion nur gelingt, wenn es in der Generalprobe eine zünftige Panne gibt, trägt Chemnitz Rechnung: Während des zweiten und dritten Akts arbeitet man noch fieberhaft an Farben und Bühnen-Feinschliff.
Schon im Vorspiel des Beziehungskrimis drängt die Menge in die Arena. Mit einem riesigen roten Tuch umgarnt Carmen den Sergeanten José. Später umschlingt er sie damit, bevor sein Messer in ihren Unterleib fährt: Tod, Schicksal, Ekstase. Angesichts der mit gestricktem Wollschal auftretenden Micaëla (Maraike Schröter) versteht man sofort, dass sie chancenlos bleibt gegen die Verheißungen des Fremden. Zur erotischen Betäubung Josés bedarf es demzufolge auch keines Zigeunerzaubers. Arila Siegert (Regie), Marie-Luise Strandt und Hans Dieter Schaal (Ausstattung) übertreffen sich hier selbst. Jedes szenische Detail sitzt, die Dialoge haben nachdrückliche Dynamik.
Im immer eine Spur übersteuerten José steckt der Teufel Eifersucht, und Carmens erotische Sprunghaftigkeit ist schon vor ihrem ersten Ton kein Geheimnis. Geöffnete Striche wie die Hahnrei-Couplets von Moralès (HMT-Student Max Dollinger) befeuern den Abend. Konsequenterweise wird der Torero Escamillo zum Beau, der Carmen mit Dolce Vita beglückt (Andreas Beinhauer).
Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo, seine Robert-Schumann-Philharmonie und das ganze Ensemble machen alles mit. Wie bei seinem „Ring“ versteht Calvo unter Dramatik koloristisch betörende punktgenaue und sängerfreundliche Zuspitzungen.
Im Schmugglerquintett bremst Sylvia Rena Ziegler als Carmen den Geschwindigkeitsrausch. Nicht im Tempo, sondern durch Persönlichkeit. Sie singt mit großartiger Präsenz und gestaltet mit verführender Simplizität. Carmen weiß auch ohne Todesboten, wie die Sache für sie ausgeht.
Beängstigend intensiv verkörpert Gustavo Peña den Choleriker José, dessen gute Vorsätze am eigenen Gewaltpotenzial zerschellen. Mit voller Verausgabung seines Tenor-Materials, doch ohne Überdruck ist Peña mehr Raubkatze als Stier. Vorhang zu und keine Fragen offen. Die Chemnitzer „Carmen“ verdient nach der Schließzeit ein volles Haus.