Nichts da mit ältlicher Jägerromantik zwischen Wald und Schießscheibe: Zwischen riesigen Holzstapeln werden Zweige, Reh und Wildsau herumgetragen. Die Schützen lassen auf Hochsitzen Büchs und Bügelflaschenbier knallen. Man trägt Gewehr: Der Freischütz, die deutscheste aller Opern, ist wieder in Chemnitz - feuchtfröhlichspannend inszeniert von Arila Siegert auf einer imponierenden Bühne von Hans Dieter Schaal.
Regisseurin Siegert hat Webers Flintenoper kräftig gelüftet. Natürlich wird der Jungfernkranz gewunden, natürlich muss Max noch seine Schießkünste zeigen, um Oberförsters Töchterlein Agathe sexuell zu erlegen, natürlich fällt er auf den bösen Kaspar herein, natürlich probiert er die Freikugeln, um seinem Glück etwas nachzuhelfen, und natürlich geht diese Bescheißerei nach hinten los: Arila Siegert, dem Ballett sehr verbunden, bringt Bewegung in die kleinste Szene, lässt Choristen und Statisten krabbeln und robben, Brautjungfern drollig hopsen und trifft auch sonst mit witzigen Einfällen und ernsten Anspielungen ins Schwarze: Der gespenstische Jäger wird per Feldtelefon geordert, der Braut wird vor der ersten Nacht die Beinbehaarung rasiert, und in der Erbförsterei liegt eine tote Ratte herum.
Ein opernleichtes Schützenfest mit unheimlich raunender und rauschender Musik und schönen Stimmen. Das Premierenpublikum klatschte am Sonnabendabend zwischendurch und zum Schluss Salut: für die Robert-Schumann-Philharmonie unter der Leitung von Niksa Bareza, für Jana Büchner (das kecke Ännchen), Jürgen Freier (Kaspar), Nancy Gibson (Agathe), Edward Randall (Max), Matthias Otte (Samiel) und das gesamte Ensemble.
Bei der so oft inszenierten deutschen Nationaloper schlechthin mit originellen Einsichten aufzuwarten, ist an sich schon eine Leistung. Wenn sich das aber dann noch zu einem stilistischen Ganzen aus sinnstiftendem Bühnenraum und akribisch durchgeformter Metaphorik rundet wie jetzt bei Arila Siegert in Chemnitz, dann gehört das zu den beglückenden Inszenierungstaten. Da die drittgrößte sächsische Oper in ihrer kontinuierlichen Kunstanstrengung auch ein bestimmtes musikalisches Niveau garantiert, kann dies Haus nunmehr mit einem Freischütz aufwarten, der sich nicht nur regional hören und überregional sehen lassen kann.
Bei Arila Siegert wird diese Nachkriegsoper über Versagensangst und Waldspuk, die mit dem Sieg über die finstren Mächte und der Einführung der Bewährungsstrafe ins Rechtssystem endet, von einem am Ende offenen Kampf der Prinzipien - oder auch Zeitalter - eingerahmt. Samiel und der Eremit kennen sich, liefern sich ein Dauerduell und bleiben gegenseitig als dialektisch Aneinandergekettete erhalten. Der eine agiert von der linken und der andere von der rechten Bühnenportaltür aus.
Der junge, Sexappeal versprühende Samiel mit pechschwarzen, zum modischen Zopf gebundenen Haaren und im dunklen Overall hat beim ersten Auftritt seine waldkillende rote Kettensäge noch n der Hand. Er umgarnt nicht nur unsichtbar seine "Opfer", sondern hat auch den "öko-alternativen" und konzentriert wachenden Eremiten stets im Auge. Die von Arila Siegert eingeführten dunklen Gestalten, die wie schwarze Lemuren Samiels Winken folgen, haben am Ende die Hochsitze der Jäger unbemerkt erklommen und sondieren ihre Chancen.
Den deutschen Wald hat Hans Dieter Schaal - wohl mit Hilfe Samiels - radikal abgeholzt. Die Bäume sind gefällt, und die Ordnung einer industriellen Mechanik hat längst über das romantisch untergründige Waldweben triumphiert. Nur das Seelenunterholz geistert noch personifiziert herum. Wie auf den Stämmen, die mächtig geschichtet sind und höchst bühnenpraktisch zur Wolfsschlucht und zu Agathes Haus werden können. Oder dunkel stumme Gestalten, die als Walderinnerung mit Zweige und ausgestopften Wildschweinen durchs Bild schreiten. Einmal schieben sie sich sogar dazwischen, wenn die zwei Liebenden vorerst nicht zusammenkommen sollen. Beim Wolfsschluchtalptraum werden sie zu Schützen, als das System hinter den Holzstapeln in der gleißenden Helligkeit der Mitternacht sichtbar wird. Da geben die Riesenstapel im Hintergrund den Blick auf eine hochmoderne Chefetage und Samiels Drehsessel-Platz am Telefon frei. Bei den vielen schon gefangenen Jungfrauen in Samiels stilisiertem Bau mit seinen geschlossenen, gleichwohl durchsichtigen Zellen scheint noch ein Platz für Agathe frei.
Das sind starke Bilder. Aber auch die subtilen Gesten stimmen - wie bei jenen, die Agathes innere Beziehung zum Prinzip des Eremiten persönlich werden lassen. Ihre Sehnsucht weitet sich dann für einen Traummoment unversehens in eine kosmische Dimension unterm Sternenzelt. Dass der Jungfernkranz zum dezent komischen Kabinettsstück einer recht selbstbewussten jungen Frau im Clinch mit einer spitzzüngig (höchst stimmig kostümierten) biedermeierlichen Klatschbasenkamarilla wird, versteht sich fast von selbst. Der Jägerchor schließlich wird zum weißen Hochsitzarrangement einer Jagdgesellschaft vor teuflisch blauem Himmel. Dialektischer Scharfsinn, szenische Fantasie und sorgfältige Personenführung (bis hin zu tadellos gesprochenen Texten) rücken diese Inszenierung - man traut sich's kaum zu sagen - in Berghaus-Nähe.
Der neue Chemnitzer GMD Niksa Bareza setzt mit der Robert Schumann Philharmonie in satter symphonischer Fülle und in der zarten Poesie etwa in Agathes Arien vor allem auf das bei Weber hörbare Verhaftetsein in der Romantik und auf den Ausbruch ins Populäre. Ohne allzu pointierte Zuspitzung oder militante Schärfung, doch in der Sinnlichkeit von großer Überzeugungskraft. Das stimmliche Niveau war dann allerdings den Realitäten des Opernalltags doch etwas näher. Überzeugen konnte vor allem Jürgen Freiers Bösewicht-Vehemenz als Kaspar und Jana Büchners erfrischend klare Ännchen-Unbefangenheit. Nancy Gibson setzte als Agathe - von Bareza einfühlsam getragen - besonders in ihren großen Arien wirkungsvoll auf ihre lyrische Geschmeidigkeit. Und wenn auch Edward Randalls redlicher Max einiges an Bedrängungs-Strahlkraft schuldig blieb und sich der sonst wache Chor ausgerechnet beim Jägervergnügen seltsam zurückhielt, wurden am Ende alle vom höchst berechtigten Jubel des Publikums umarmt.
Man glaubte zwar, dass zu dieser deutschen Nationaloper nach Konwitschnys großartiger Deutung von Altenburg und Hamburg, nach Ruth Berghaus’ Ironisierungen, nach den Antikriegs-Stücken von Joachim Herz und Günter Krämer, nach dem psychoanalytischen Alptraum von Christoph Nel an der Berliner Komischen Oper nun wirklich alles gesagt sei. Aber nein, dieses unergründliche Werk bot noch einmal Raum für einen neuen Denkansatz. Das Unerwartete der Chemnitzer Inszenierung bestand in ihrer Grundhaltung zu allen auftretenden Opernfiguren, den Guten wie den Bösen, den Starken wie den Schwachen. Allen gegenüber war eine Sympathie zu spüren, ein, fast könnte man sagen freundschaftliches, Verständnis für Handlungen und Beweggründe, unterfüttert von feinem, mal mehr, mal weniger verstecktem Humor: ein Auf-die-Schippe-nehmen, als hätte man es mit guten Bekannten zu tun.
Diese Haltung resultierte daraus, und das war bisher noch in keiner Inszenierung zu sehen, dass Arila Siegert das Gute und das Böse als gleichberechtigte Kräfte in der Welt ansieht. Sie halten die Welt im Gleichgewicht als Versuchung und Widerstehen, als Retter des Liebespaares und Vernichter des Verderbers ihres Glücks. Der Eremit und Samiel: Sie kennen und respektieren einander. Am Schluss geht es nicht darum, dass die Frömmigkeit siegt, oder ob das Happy End verlogene Bigotterie ist, sondern darum, wie es weitergeht mit dem Liebespaar, das jetzt noch ein Jahr aufeinander warten muss. Es bleibt fraglich, ob "das Ganze" tatsächlich "freudig" schließt, wie Friedrich Kind und Carl Maria von Weber notierten, aber möglich ist es immerhin.
Hans Dieter Schaal hat die Geschichte natürlich im Wald angesiedelt, wo sonst, aber: Es ist ein gleichzeitig toter, aber auch beschützender Wald, ein Holzlager, in dem es nichts als abgeschälte Baumstämme gibt. Eine bühnenhohe Stapelwand schafft einen schützenden Raum im Vordergrund. Rechts und links liegen aufgestapelte Berge von Holzstämmen, die eng zusammen geschoben die Wolfsschlucht bilden, weiter voneinander entfernt geben sie den Blick zum Nachthimmel frei; aus ihnen setzt sich auch das Försterhaus zusammen. Marie-Luise Strandts Kostüme orientieren sich an Waldarbeitertracht, grobes Leinen, an alte Bergfilme erinnernd. Für Fürsten und Erbförster feineres Loden, für die Frauen dunkle Bauernkleider und die bürgerliche Gesellschaft der Braut trägt taillierte Kostüme aus Taft. Alles sehr genau ins Bild passend. Nichts, gar nichts Folklorebuntes!
Sympathie für die Figuren: zum Beispiel Max. Er ist ein Mann der nicht in die biedere Umgebung passt, der wie ein Fremdkörper dasteht, sensibel ist, leidet, aber immerhin entschlossen genug ist, für Agathe einiges zu wagen. Die Brautjungfern: späte Mädchen, aber keine ironisiert lächerlichen Figuren, sondern wie sie eben sind, die Leute. Die eine ist freundschaftlich, die andere neidisch auf Agathe usw. Samiel und der Eremit: sie führen synchrone Bewegungen aus, kommen sichtbar aus denselben fernöstlichen Gegenden, der Eremit macht yogamäßige Atemübungen, Samiel raucht.
Schwierigster Fall: Agathe. Kein sentimentaler Trauerkloß, sondern eine stille Person, die sich ihr eigenes Urteil bildet, nachsichtig über Ännchens Späße lacht. Das schönste Bild der Inszenierung gehört ihr: während der Kavatine „Und wenn die Wolke sie verhülle“ öffnet sich die Bühne in geradezu kosmische Weiten unter dem poetischen Nachthimmel. Hier sitzt der Solocellist neben ihr auf der Bühne und spielt seine Kantilenen. Bei Peter Konwitschny war es die Teufelsbratscherin mit ihren Trillern beim "Kettenhund" - damit ist die unterschiedliche Sicht am besten versinnbildlicht.
Arila Siegert wäre nicht Arila Siegert, wenn es ganz ohne Choreografiertes abgegangen wäre. Es gibt schwarze Gestalten, die immer wieder symbolträchtige Dinge auf der Bühne sichtbar machen, sehr dezent, sehr passend. Grüne Zweige sind der lebendige Wald, aber auch anderes wird herbeigebracht: Sieben riesige Freikugeln oder bei Max’ "Nein länger trag ich nicht die Qualen" erlegtes Wild, das Glück von "des sichern Rohrs Gewinn" konterkarierend. Die Dialoge, oft ein Problem - sie waren ausgezeichnet bearbeitet, sehr dezent aktualisiert, ohne plumpe Neuzeitlichkeiten, und sie wurden gut gespielt.
Niksa Bareza leitete die Robert-Schumann-Philharmonie. Sie klang bei der Ouvertüre satt, sinfonisch. Bareza und das Orchester haben sich am Hörnergebraus, am Streichertremolo, an den immer wieder daraus emporsteigenden Holzbläserkantilenen geradezu berauscht. Alles, was man von Weber und Romantik erwartet, klang auf. Es war nicht übermäßig akzentuiert, analytisch, leitmotivisch gearbeitet worden, sondern auf schönen, immer neu aufblühenden Mischklang und langsame Entwicklungen gezielt. In dem relativ kleinen Haus mit seiner guten Akustik hatte der Klang beste Entfaltungsmöglichkeiten, zumal Hörner, Holzbläser und Streichersolisten in bester Form waren.
Genauso viel Lob verdienen die Sänger. Edward Randall sang, wie man es vom Tenor in einer deutschen romantischen Oper erwartet: nicht im Lyrischen verharrend und mit Anstrengung dann auf die großen Szenen zusteuernd, nicht mit italienischer Überspannung oder schluchziger Tenormanier, nicht mit der Unbeweglichkeit der schweren Heldentenöre, sonder er hatte von allen Tugenden dieser Fächer etwas, schönes Timbre, Kraft in den dramatischen Ausbrüchen und Spannung für die Gestaltung der psychischen Untergründe seiner Figur.
Nancy Gibson hat einen weichen, leuchtenden Sopran, dazu ist sie jung und schön, aber auch nicht mehr kindlich, gerade die richtige Agathe, eine sängerisch und darstellerisch vollkommen in sich abgerundete Bühnengestalt. Der Kaspar dürfte für Jürgen Freier nach dem Wotan ein genussvoller Spaziergang gewesen sein. Ännchen ist immer Publikumsliebling, und die zierliche Jana Büchner hatte sich das Prädikat mit schöner Stimme und freundlicher Keckheit auch verdient.
In Chemnitz geht's zur deutschen Alptraumhölle geradewegs durch eine Tür im Bühnenportal vorne links. Von da betritt Samiel meistens die Szene. Er ist ziemlich jung, schlank, die pechschwarzen Haare sind zum modischen Zopf gebunden. Bei seinem ersten Auftritt im dunklen Overall hat er sogar seine waldkillende rote Kettensäge noch in der Hand. Dieser Teufel hat jede Menge Sexappeal. Matthias Otte ist diese teuflische Dauerpräsenz, und für den ist am Ende nichts entschieden. Hier ging diesmal nur eine Runde im Dauer-Duell (der Prinzipien oder gar der Zeiten) mit dem respektvoll angefeindeten, ebenso von Anfang an gegenwärtigen "öko-alternativen" und konzentriert wachenden Eremiten (Yue Liu) verloren. Kaspar immerhin bleibt der Beutebrocken, dessen Seele Samiel am Boden hinter sich her robben lässt, während das empörte Volk die Leiche des ausdrucksstarken Bösewichtes noch in die Wolfsschlucht entsorgen will. Aber die dunklen Gestalten, schwarze Lemuren, die nur Samiels Winken folgen, die haben die Hochsitze längst unbemerkt erklommen und sondieren die Lage für die nächsten Runde, während die anderen noch ganz zufrieden sind mit der Einführung der Bewährungsstrafe in die fürstliche Rechtssprechung. Ein Jahr sollen Max und Agathe noch warten.
Carl Maria von Webers Freischütz hat in seiner Mischung aus dräuendem Seelenkräuseln und den immer wieder aufsteigenden Opernhits nun mal den Ruf der deutschen Nationaloper schlechthin weg. Auskomponierte Versagensängste in Schwarzrotgold, lange bevor sich die Nation in Geist und Wirklichkeit zusammenfand. Ganz erschrocken, unter Napoleons Fuchtel und im Aufmucken dagegen. Vor allem, was bei Weber da das Verhaftetsein in der Romatik und an Ausbruch ins Populäre komponiert ist, bringen der neue Chemnitzer GMD Niksa Bareza und die Robert Schumann Philharmonie in satter sinfonischer Fülle und in der zarten Poesie etwa in Agathes Arien zum Klingen. Ohne allzu pointierte Zuspitzung oder militante Schärfung, doch in seiner Sinnlichkeit von großer Überzeugungskraft.
Ein Märchen über den Sieg des Guten, wenn man nur recht daran glaubt, das sieht und hört man jedenfalls bei Arila Siegert und Niksa Bareza nicht. Den deutschen Wald, den hat ihr der Bühnenbildner Hans Dieter Schaal (wohl mit Samiels Hilfe) längst abgeholzt. Die Stämme sind geschnitten und geschichtet, die Ordnung einer industriellen Mechanik hat da längst triumphiert über das romantische Waldwuchern. Aber das Seelenunterholz geistert noch personifiziert herum. Auf den Stämmen, die mächtig geschichtet sind und höchst bühnenpraktisch zur Schlucht oder zum Haus werden können. Oder dunkel stumme Gestalten schreiten als Walderinnerung durchs Bild. Mit Zweigen und ausgestopften Wildschweinen. Einmal schieben sie sich sogar dazwischen, wenn die zwei Liebenden vorerst nicht zusammenkommen sollen. Sie werden im Wolfschluchtalptraum aber auch zu Schützen mit dem Gewehr im Anschlag, als das System hinter den Holzstapeln sichtbar wird in der gleißenden Helligkeit der dunklen Mitternacht. Da geben die Riesenstapel im Hintergrund den Blick auf eine tatsächliche hochmoderne Chefetage und Samiels Drehsessel-Platz am Telefon frei. Das Böse telefoniert immer und überall...
Die zweite Opernregie der ausgewiesenen Choreographin Arila Siegert im kleineren der großen sächsischen Opernhäuser ist schlichtweg ein Wurf! Sie leuchtet den bekannten Stoff spannend und plausibel aus, findet mit dem kongenialen Bühnenbild zu einer bestechenden stilistischen Geschlossenheit. Sie verleugnet die Choreographin nicht, setzt sie in einer bewundernswerten geschmacklichen Dosierung ein und hält ihre Metaphorik konsequent und im Detail durch. Da ist bei den vielen schon weggefangenen Jungfrauen in Samiels stilisiertem Bau mit seinen geschlossenen, gleichwohl durchsichtigen Zellen ein Platz für Agathe freigehalten. Da verselbstständigen sich die ominösen Kugeln zu weißen Riesenmonstern. Da wird die innere Beziehung Agathes zum Prinzip des Eremiten in subtilen Gesten persönlich. Und da erlangt ihre Sehnsucht für einen Traummoment unversehens eine kosmische Dimension unterm Sternenzelt. Aber auch der Jungfernkranz wird zu einem dezent komischen Kabinettstück einer spitzzüngig (von Marie-Luise Strandt höchst stimmig kostümierten) biedermeierlichen Klatschbasenkamarilla. Der Jägerchor schließlich wird zum weißen Hochsitzarrangement einer Jagdgesellschaft vorm teuflisch blauen Himmel...
Starke Bilder durchweg. An diesem Abend muss man öfter an Ruth Berghaus denken. Oder besser, man wird an sie erinnert. Und was kann eine Regisseurin mehr adeln? Das stimmliche Niveau war dann allerdings doch etwas näher an den Realitäten des Opernalltags eines mittleren und auch von der Einsparkeule - nur vergleichsweise maßvoll - gebeutelten Hauses. Überzeugen konnten da vor allem Jürgen Freiers Bösewichtvehemenz als Kaspar und Jana Büchners erfrischend klare Ännchen-Unbefangenheit. Konnte Nancy Gibson als selbstbewusste Agathe noch ihre lyrische Geschmeidigkeit von Bareza einfühlsam getragen - besonders in ihren großen Arien wirkungsvoll ummünzen, so blieb Edward Randalls Max einiges an Bedrängungs-Strahlkraft schuldig. Und auch der wache Chor hielt sich diesmal ausgerechnet beim Jägervergnügen seltsam zurück. Zum gleichwohl respektablen Ensembleniveau trug nicht zuletzt auch bei, dass es der Regisseurin beispielhaft gelungen ist, jede Peinlichkeit in den gesprochenen Passagen zu vermeiden - und zwar durchweg. Man weiß zwar nicht, wie es ohne die Dresdner Zwangspause wäre, aber bislang jedenfalls hat Chemnitz in dieser Saison in Sachsen die Nase vorn. Nach diesem Freischütz sowieso.
Es gibt einen reizenden nassen Grund in der Nähe von Schloss Pillnitz, in dem Carl Maria von Weber die klangmalerischen Töne zur gruseligen Wolfsschlucht seines "Freischützen" zugefallen sein sollen. Der düstre Wald und seine Gestalten - das sind die Zutaten für Webers musikalischen Meisterschuss. Sie begründen gleichzeitig die vielen Vereinnahmungen: Volks-, National-, Revolutions-, Kriegsoper sollte es sein, immer den Sinn aufs große Halali gerichtet, das zwischen hochromantischer Waldesverehrung und biedermeierischer Konvention das bleierne Heldentum mit der unschuldigsten Liebe konkurrieren lässt.
Vor der Chemnitzer Opernbühne, wo am Samstag Premiere war, ließ sich Arila Siegert von Aufführungshistorie nicht beeindrucken. Sie machte das, was sie am besten kann: eine Geschichte erzählen. Und dafür brauchte die Regisseurin Figuren, die sich von ihren Stereotypen befreien. Max ist bei ihr nicht das arme, verschüchterte Würstchen. Vielmehr nutzt dieser ängstliche Intellektuelle seine Kraft nicht, aus dem barbarischen Spiel um die Trophäe Agathe auszusteigen, die für den besten Schützen ausgeschrieben ist. Agathe bleibt nicht das in sich gekehrte "weibische" Wesen, das naiv an das Glück glaubt, sondern die Gefahr ahnt, in die sich Max begibt. Sie ist sich ihrer Rolle als Objekt der Jagdgier, des "männlich Verlangens", bewusst: als Garnierung der Försterei, die ausgelost wird. Kaspar schließlich mimt nicht etwa das Scheusal schlechthin, sondern einen höllenvertrauten Zweifler, der die Menschen hasst, seit ihn Max als Nebenbuhler ausgestochen hat.
Arila Siegert hat hinter das waldhornselige Hallodri, das der Volksseele stets unabänderlich richtig erschien, große Fragezeichen gesetzt. Sie will zeigen, dass das Böse immer und überall ist, lässt Luzifer Samiel und seine dunklen Gestalten sich unter die Volksmassen mischen. Damit droht sie zwar oft mit dem Holzhammer des Plakativen, folgt aber - selten genug - einer Logik. Der folgend baute Hans Dieter Schaal den Wald zu fahrbaren Holzstößen um, der in der Wolfsschlucht derselbe ist wie in Agathens Kammer: ein düsterer Rahmen für die Ängste der Charaktere. Kriecht hier das Gewürm der Geister über den Boden, beobachtet es dort, wie Ännchen in Vorbereitung der Hochzeit Agathe die Beine rasiert. Friedrich Kinds waldtümelndes Libretto wurde beherzt aufs Wesentliche gekürzt. Dennoch gibt es besonders für Max und Agathe (Edward Randall und Nancy Gibson) manchen Stolperstein zu überwinden. Anders ist das beim Singen. Gibsons schroffer Einschlag gibt der Agathe das rechte aufgeraute Timbre, das mit der Auffassung ihres Charakters korrespondiert. In der Höhe angestrengt und übertrieben heldisch wirkt zwar Randalls Tenor, tönt aber immer noch warm genug, auch wenn sein Spiel manchmal hölzern wirkt. Jürgen Freiers wutschnaubender Kaspar, der dafür mit dem Notentext zuweilen sehr großzügig umgeht, das frivole Ännchen (bei Jana Büchner klemmt’s nur in den tiefen Tonlagen) und die vier köstlichen alten Brautjungfern (Donna Morein schießt hier den komischen Vogel ab) danken auch Siegerts Führung ihre feurigen Bravos.
Daran hat freilich Niksa Bareza am Pult der Robert-Schumann-Philharmonie den größten Anteil. Der Dirigent hat genau gearbeitet, um dem Volksepos seine Tiefe zurückzugeben. Kein Pathos, dafür umso mehr Farben; kaum verirrte Einzelgänger, dafür viele schöne Momente im Blech (die Hörner sind einzigartig!) und im Streicherblock, auch wenn einige Akkordnachschläge so manche schöne Linie zerhacken. Der sehr ordentliche Chor pariert ebenso wie das Orchester, das jeden noch so kleinen Wink mit großer Geste ausmalt. Bareza schöpft nur aus der Partitur, nicht aus den zahlreichen Attributen, die ihr angedichtet worden sind. Sein Weber klingt einfach so, wie er dasteht: ohne wagnernde Schwere, ohne folkloristische Allüren, naturverliebt und doch manchmal selbstironisch. Die Musik ist eben immer noch der wahre Held dieser Oper, und der allein lohnt den Besuch in Chemnitz allemal.
Das Fazit am Anfang: Der neue Freischütz nach Carl Maria von Weber, der am Sonnabend im Chemnitzer Opernhaus heraus kam, fand begeisterte Aufnahme. Versuche "Buhs" zu landen, erstickten im Ansatz. Aber es war eine ungewöhnliche Auffassung der berühmt-beliebten Oper, die in Dresden noch im "Großen Haus", unter Erhard Fischer die Sächsische Schweiz nationalopernhaft als Background nutzte. Bei Joachim Herz in der Eröffnungspremiere der Semperoper standen Ruinen der Nachkriegszeit von 1813 als szenische Quelle Pate. Und Arila Siegert ließ die Welt Samiels mit seinem schwarzen Haufen und die seines Widerparts, des Eremiten, ständig präsent sein.
Der Wald ist abgeholzt. Kein Nadel- und Blätterrauschen erfüllt die Luft. Gehäufte Stämme, zersägt und gestapelt, prägen das Bühnenbild von Hans Dieter Schaal, dessen Liebe zu Sprungtürmen (Dresdner Elektra) hier die Jäger Kunos auf "jagdliche Einrichtungen" von Anständen emporhebt. Und Samiel, oft dampfend aus der Tiefe auftauchend, residiert in der Wolfsschlucht als Manager zwischen Holzstapeln erhaben in einem gläsernen Bürobau. Telefonisch korrespondieren Kaspar und Samiel. Und während die schwarzen Geister wie Gewürm den Boden bedecken und Mädchen, bräutlich weiß wie Agathe, in Glaskammern dieses Baus gleichsam als Schmetterlinge gefangen sind und von den schwarzen Jägern schließlich abgeschossen werden, entstehen die Freikugeln. Bei der siebenten fasst Samiel Max und wirft ihn nieder. Beim Probeschuss aus "Anstands"-Höhen aber trifft – wie bekannt – dennoch die Kugel nicht Agathen, sondern Samiels Kreatur Kaspar. Der "schwarze Jäger" schleift ihn in sein Reich, aber "die Schwarzen" bleiben. Samiel und Eremit verbeugen sich wie Duellanten höflich voreinander. Das Spiel geht weiter. Auf tatsächlich packende und überzeugende Weise wird dieser Grundkonflikt durchgespielt und gestaltet. Dass dabei die einstige Tänzerin choreographische Lösungen des geisterhaft-schwarzen, immer präsenten Haufens realisierte und die Führung der Protagonisten fest in der Hand hielt und die Darsteller zu hinreißend engagierten Leistungen animierte, beeindruckte zutiefst. Nur die etwas klamaukhafte Parodie der Brautjungfern fiel aus dem Rahmen.
Jürgen Freier als Kaspar war von umwerfend mephistophelischer Gewalt, Edward Randall als Max nicht gerade ideal, aber so engagiert, dass man ihn bewundern musste. Und Nancy Gibsons Agathe traf jenen Ton, der aus der biederen Braut eine an Selbstbewusstsein gewinnenden Frau zu machen schien. Jana Büchners Ännchen war quicklebendige Partnerin im Försterhaus zwischen den Holzbarrikaden. Ausstrahlungsstark und zentral waren Eremit (Yue Liu mit markantem Bass) und Samiel (Matthias Otte in pantomimischer Intensität) angelegt. Und die musikalische Gestaltung der Robert-Schumann-Philharmonie unter Niksa Bareza zeigte sich der dramatischen Lebendigkeit gemäß, prägte die Bilder der Liebestragödie mit, deren Ausgang doch ungewiss bleibt. Die Achse des Bösen ist noch nicht zerbrochen.
Ein Jugendlicher nach der Chemnitzer Freischütz-Premiere: "Hätte ich gewusst, dass nun auch die Oper Waldsterben zeigt, wäre ich nicht hin gegangen. Das kann ich schon in nächster Umgebung sehen." Der junge Mann hat nicht Unrecht. Wenn Bühnenbildner Hans Dieter Schaal im Programmheft erklärt, die große Holzstapelwand, vor der "fast das ganze Stück spielt", sei "Teil eines dunklen Waldkörpers", verkennt er wohl die Wirkung dieser auf Meterlänge zersägten Baumstämme. Die zudem erwähnten Gefahren und Ängste betont Regisseurin Arila Siegert: Da wird der auf seinen Rivalen Max eifersüchtige Kaspar als "Kriegs-Geschädigter" mit Golfkrieg, Massenmörder von Washington, Wozzeck in Beziehung gebracht. Was als kaum veränderter Bezug viel näher liegt, die Angst vor Prüfungen und Leistungsdruck, reflektiert sie kaum. Aber diese Angst treibt Max ja in Kaspars Fänge - und erweist sich als eine der Ursachen für Geschehnisse wie das Massaker von Erfurt. Doch Siegert führt ihre Fantasie vor, statt den Theaterbesuchern eigene zuzutrauen, unterliegt der Versuchung, möglichst viel zu bebildern. Im ersten Bild muss Agathe mit einem Hirschgeweih über die Bühne schreiten. In der Wolfsschlucht telefoniert Kaspar schnurlos mit Samuel. Zum Jägerchor sitzen die Sänger auf den Resten des verstorbenen Waldes - fein säuberlich zu Hochsizten verarbeitet. Lächerlich wird es, wenn im Schlussbild Samiel mit Fahrrad vorfährt. Musikalisch gibt es Beeindruckendes: Nancy Gibson singt die Agathe empfindungsstark und feinsinnig. Edward Randall besitzt für den Jägerburschen Max lyrische Qualitäten. Dagegen trumpft Jürgen Freier mit seinem kräftigen Bass auf. Gekonnt: Chor und Extrachor. Chefdirigent Niksa Barezas musiziert mit der Robert-Schumann-Philharmonie eindringlich und über weite Strecken auch differenziert. Doch im Zusammenwirken von Bühne und Orchester bleibt noch viel zu tun. Wie immer in Chemnitz gab es viel Jubel und etliche Buh-Rufe fürs Regie-Team.
Das Unerwartete der Chemnitzer Inszenierung: ihre Grundhaltung, ihre Sympathie gegenüber allen Figuren, ihr freundschaftliches, zuweilen ironisches Verständnis für Handlungen und Beweggründe. Am schwierigsten zu inszenieren Agathe: hier kein sentimentaler Trauerkloß sondern eine stille aber bestimmte Person. Das komischste Bild der Inszenierung und das schönste galten ihr. Seidenbänder trägt sie als Brautschmuck an einem Geweih auf dem Kopf. Bei der Kavatine "und wenn die Wolke sich verhülle" öffnet sich die Bühne in kosmische Weiten unter einem poetischen Nachthimmel. Der Solocellist sitzt neben ihr auf der Bühne.
Arila Siegert sieht das Gute und das Böse als gleichberechtigte Kräfte, die die Welt im Gleichgewicht halten. Der Eremit und Samiel kennen und respektieren einander. Am Schluss dann die offene Frage, wie es weitergeht mit dem Liebespaar, das ein Jahr aufeinander warten muss. War es ein Happyend, war es keines? Hans Dieter Schaal hat die romantische Geschichte vom deutschen Wald natürlich im Wald angesiedelt, es ist aber ein gleichzeitig toter und beschützender Wald, ein Holzlager. Marie-Luise Strandts Kostüme haben nichts aber auch gar nichts Folklorebuntes, es ist Arbeitskleidung.
GMD Niksa Bareza und seine Robert-Schumann-Philharmonie haben sich am Hörner-Gebraus, am Streichertremolo, an den immer wieder daraus emporsteigenden Holzbläserkantilenen geradezu berauscht. Intensiver Wohlklang in der vorzüglichen Chemnitzer Akustik.
[...Arila Siegert] stellt Figuren auf die Bühne, die uns ganz nahe sind in ihrem
Hoffen und ihren Ängsten. Aus in jeder Operngala gern gehörten Arien macht
sie Szenen, die wahrhaftigen Einblick in die Seelenzustände dieser Menschen
geben. Und setzt auch mal den Solocellisten der Philharmonie (grandios
Thomas Bruder) neben die Agathe Nancy Gibsons auf die Bühne, um
uns im Duett von Instrument und Stimme klar zu machen, wie schmerzhaft sich
das Mädchen an die Hoffnung auf ihr Lebensglück zu klammern sucht, die doch
ganz überschattet ist von düstrem Ahnen. Arila Siegert setzt auf Darstellung
- gesanglich ist es um die Chemnitzer Opernsolisten eh sehr gut bestellt, in
deren Stimmen, wie stellvertretend der von Jana Büchner als Ännchen,
man wieder über weite Strecken baden kann. Und so springt auch Max nicht
frohgemut durch die Wälder und die Auen, sondern Ted Randall spielt
den Konflikt des allein durch die Liebe zum blutigen Jägerhandwerk und dem
Zukunft sichernden Zwangs-Probeschuss getriebenen Schöngeists in allen
Facetten der Verzweiflung glaubwürdig. Die Krone gebührt wohl Jürgen
Freier, der den "bösen" Kaspar zu einem einsamen Menschen werden lässt,
der als verschmähter und weggestoßener Außenseiter zwangsläufig auf den
falschen Weg gerät.
Verantwortung der Gesellschaft? Da greift Arila Siegerts bildhafte
Choreografie, die den Chemnitzer Opern- nebst Extrachor zu darstellerischem
wie sängerischem Höchstengagement animierte. Wir dürfen ein graues Volk
angucken, das allzu gern marschiert und schießt und - zwar bis auf wenige
Tapfere ordentlich geduckt unterm Fürsten - Inhaber der gültigen Moral ist,
die mal so ganz nebenbei das Leben der anderen zerstören kann. Denn pfui,
wir huldigen zwar den Werten wie Manneskraft und Schießvermögen, aber wer
wird sich denn auf seinen verschlungenen Pfaden zur Sicherung des Erfolgs
erwischen lassen und gar beim Handel mit dem Teufel? Und der ist
allgegenwärtig. Matthias Ottes Samiel darf im ganzen Stück nach denen
suchen, die ihm zum Opfer fallen könnten. Und er gibt auch Max in der
Wolfsschlucht persönlich den wollüstigen Vertragskuss. In jener
Wolfsschlucht, die zu einem der beeindruckendsten
Bilder des Abends wird, wenn sich dort Gewürm auf meterhohen
Holzstapeln und dem Boden windet und weiße Seelen von schwarzen Jägern
hingerichtet werden vor einer Bürohauskulisse, in der Samiel auf dem
Lederchefsessel per Telefon regiert. Eine der vielen Szenen, die den Abend zum
Gesamtkunstwerk schmieden: von der Regie, die dem Zuschauer selbst
das positive Ende als ein sehr fragwürdiges anbietet, dem unglaublich
erzählende Räume schaffenden Bühnenbild von Hans-Dieter Schaal und
der psychologisierenden musikalischen Werkinterpretation von GMD Niksa
Bareza, der mit der Robert-Schumann-Philharmonie mit Höhenflügen von
Streichern und Blech in Chemnitz seine Oper gefunden zu haben scheint.
Ein Abend aus einem Guss, selbst Komik (nie einen so
witzigen "Jungfernkranz" gesehen) wird nicht zum Selbstzweck, ja - so geht
Oper eben auch!
Aus Vorberichten:
Wo Schatten sind, ist Licht. Kaum eine Zeit hat das so gespürt wie die Romantik. Carl Maria von Weber komponierte seinen „Freischütz“ in diese Zeit hinein. 1821 am Berliner Schauspielhaus uraufgeführt, wurde „Der Freischütz“ ein riesiger Publikumserfolg mit dem Jägerchor und dem Chor der Brautjungfern. An diesem Sonnabend um 19.30 Uhr ist Premiere am Chemnitzer Opernhaus für die erste anerkannte deutsche Oper. Darin geht es um einen Jägerburschen, der nur durch Probeschießen Agathe erringen kann und mit ihr die Erbförsterei.
Das beherrschende Motiv heißt Angst - Prüfungsangst, Versagensangst, Überlebensangst. Diese Angst treibt Max um, der sich mit dem Meisterschuss um die Braut bewirbt. Regisseurin Arila Siegert, einst Solotänzerin der Staatsoper Dresden und längst sehr erfolgreiche Regisseurin des Musiktheaters, ist den Chemnitzern insbesondere bekannt für die lichte, ausdrucksstarke Ästhetik der Oper Pénélope in der vergangenen Spielzeit - dafür errang sie mit Nancy Gibson auch den Publikumspreis in der „Theaterumfrage 2002“ der „Freien Presse.“ Wieder sucht sie die sensiblen Zwischentöne. „Die Frau am Herd ist diese Agathe nicht“, macht sie deutlich. Mit Nancy Gibson sei sie einen Weg gegangen, der die Agathe in das Zentrum sämtlicher Bemühungen stellt. Der Jagdgedanke spiele hier eine große Rolle „Alle zielen immer wieder auf Agathe, auf die Frau als Objekt. Für Weber war sie aber zugleich auch die Muse, die ihn beflügelte.“ Als „Jägerbraut“ hat sie den Komponisten lange beschäftigt, sie ist die zentrale Figur im Stück und eine seiner größten Frauenfiguren neben Euryanthe. Ihr wurde der stärkste musikalische Ausdruck zuteil. Sie ist eine Frau, die sich überwiegend in geistigen Dimensionen bewegt, weniger in materiellen, macht die Regisseurin deutlich.
Agathe ist das eigentliche Zentrum dieser Oper. Sopranistin Nancy Gibson, die zuletzt mit der Pénélope einen großen Erfolg beim Publikum erzielte, wird die Agathe singen. Generell sei es schwierig, sich einer solchen Figur voller Intellekt und philosophischem Reichtum zu nähern. „Agathe hat mir geholfen zu wachsen“, meint sie mit einem Augenzwinkern. Sie fühle sich jedenfalls immer wohler in der Rolle, „aber einfach, nein, einfach ist das nicht“. Und das bezaubernde Ännchen? Tritt es als „wilde Hilde“ an? - Für Sängerin Ute Baum ist „das Ännchen in Wirklichkeit viel sensibler, als viele vermuten. Sie denkt, sie müsse die Stimmung anheizen, alle fröhlich machen. Auch sie wäre gern die Braut. Und sie liebt Max.“ Der Max steht zwischen allen Fronten? - Edward Randall glaubt, sein Max wäre heute glücklicher als damals. „Er hat keine Angst vor Gefühlen, aber er soll doch ein Jäger sein, ein harter Mann. Vielleicht wäre er viel lieber ein Dichter? Doch für seine Liebe zu Agathe ist er bereit zu jeder Schandtat. Deswegen lässt er sich auf das Probeschießen ein, obwohl er eine Todesangst aussteht.“
Als Samiel, der schwarze Jäger und Fürst der Hölle, wird man Matthias Otte (Titelpartie in „Jesus Christ Superstar“) sehen. Er fragt: „Wer ist der Teufel, wer ist Samiel? Ist er ein Teil von uns?“ Dafür gibt es viele Möglichkeiten, die werde er ausspielen. In die Rolle des Verführers tritt Kaspar, der andere Jägerbursche auf. Für den Bass Thomas Mäthger stellt sich die Frage nach dem Gewinner und Verlierer: „Ich empfinde ihn wie ein waidwundes Tier, der das Kriegstrauma als Erblast mit sich herumträgt. Die ganze Jägergilde weiß um die Freikugeln.“ Die musikalische Leitung hat Niksa Bareza.
Noch ist es selten, wenn eine Frau Opernregie führt. Nicht einmal zehn
Prozent aller Inszenierungen in Deutschland tragen eine weibliche Handschrift.
Eine gewisse Ausnahme ist da das Chemnitzer Theater, wo Frauen jede Spielzeit
arbeiten können. Am Sonnabend hat dort Der Freischütz in der Sicht von Arila Siegert
Premiere.
Carl Maria von Webers Freischütz ist eine der Lieblingsopern der Deutschen.
Ob „Jägerchor“ oder gruselige „Wolfsschlucht“-Szene,
das Romantik-Werk ist bekannt und wird gern romantisierend gesehen. Ob den
Chemnitzern die Neuinszenierung gefällt? Arila Siegert und ihr Team befragen
das Stück anders als allgemein üblich. „Das beherrschende Motiv
im Freischütz ist Angst: Prüfungs-, Versagens-,
Überlebensangst, die den Schützen Max auf krumme Bahnen treibt“, sagt die
Regisseurin. Nichts ist mit Jägervergnügen, schon gar nicht in Heid und Flur.
Auf See & Bühne:
Frauen kommen nicht an Bord
Wem diese Sicht nicht passt, kann ja ein auf See und im Musikbetrieb gängiges
Vorurteil zitieren: Frauen kommen nicht an Bord. Wohl spielen Frauen
heutzutage in Orchestern – wenn auch in der Minderheit –, Kompositionen von
Frauen hingegen werden kaum aufgeführt. International erfolgreich arbeiten
vielleicht zwei/drei Regisseurinnen im Musiktheater. In Deutschland dürfen
Frauen zunehmend Opernregie führen – wenn auch selten in den Metropolen. Jede
zehnte Opern-Inszenierung realisiert eine Frau, schätzt Bernd Feuchtner von der
Fachzeitschrift „Opernwelt“. Vor Jahren noch war es nur
Ruth Berghaus,
die Regie führte. Vielleicht Zufall? An Häusern, die von Ostdeutschen geleitet werden,
wie Chemnitz oder Rostock, arbeiten Frauen öfter als andernorts.
Seit 1998 widmet sich die bis dahin als Tänzerin und Choreografin wirkende
Siegert diesem Beruf. Ein „harter Job“ sei der und schwer zu bekommen.
„Unwahrscheinlich viel Kraft kostet es dann, die letztendlichen Entscheidungen
auch durchzusetzen, da nahezu alle Theaterbereiche männerdominiert sind“, sagt
Siegert. Frustriert wirkt sie dabei nicht. Erstens hält sie eine Quotierung
für abwegig. Zweitens sei das Chemnitzer Arbeitsklima stimmig. Drittens
„faszinieren mich die Tiefe der Werke und die Möglichkeiten der Umsetzung noch
viel zu sehr“.
Wie lernt man Regie? „Ein Studium nützt wenig, man muss Theater von der Pike auf
lernen“, meint die Siegert. Sie hat viele Stationen durch: war
Ensemble-Mitglied, war Ensemble-Leiterin, hat Vorgegebenes interpretiert, hat
selbst kreiert – freilich alles im Tanz. Und Oper? „Ich habe mir oft in den
Vorstellungen eigene Konzepte ausgedacht.“ Wichtige Erfahrungen brachte die
Arbeit mit
Peter Konwitschny und
Wolfgang Engel – damals war sie noch
Tänzerin. Keine andere Interpretin und Choreografin führte in den 80er Jahren
die Tradition des Ausdruckstanzes in seiner konzentrierten Sprache derart
weiter. Diese Konzentration prägt noch heute den Stil, wenn sie mit 49 Jahren
als Regietalent gefeiert wird.
Was findet eine vom Tanz an der Oper, wo doch Musik, Sprache und Libretto viel
engere Grenzen setzen als im Tanz, wo es Musik gibt, vielleicht ein Libretto?
„Als Choreografin hat mich eigentlich immer die große Szene gereizt. Das
Erfinden der Schrittkombinationen war nicht meine Stärke“, blickt sie zurück.
An Oper interessiert sie, die jeweilige Stück-Welt gedanklich zu kreieren,
dann nach Bildern zu suchen, in denen alle Elemente ineinander fließen. „Ich
möchte, dass man auch mit den Augen die Musik versteht.“ Alles sei deshalb auf
der Szene möglich, selbst absurdeste Ideen. Das bringt der Siegert manchmal
den Kritiker-Vorwurf einer „überbordenden Fantasie“ ein.
Dabei dürfte das mittlerweile ihre Stärke ausmachen. Sie analysiert nicht nur
Inhalte, wie es etwa Schauspielregisseure in der Oper machen. Sie choreografiert – im Ansatz ähnlich Ruth Berghaus –
komplexes Musiktheater. Ihre Fassungen folgen Partitur und Text, entwickeln so
Bewegungsabläufe. Mitunter setzt sich die Siegert über das Libretto hinweg. In
Mozarts Titus lässt sie am Ende den Regenten erschießen – ein brutaler
Staat duldet doch keinen milden Herrscher. Ihre Aida ist kein Schwelgen im ägyptisch-veronesischen Barock mit showartigem
Triumphmarsch. Ihre Darsteller haben gegen Klischees anzuspielen, die innere
Zerrissenheit der Figuren statt hohler Bühnengesten zu zeigen.
Durchs Tanzdenken wird der Chor zum Irrwald
Das Markante der Siegertschen Arbeit ist – dank der Tanzbasis – das chorische
Denken. Ideal für ihre Art sei der Freischütz,
weil Weber so vielschichtig mit Massen umgehe. Der Chor ist gütig, hämisch,
verfolgt, verteidigt in seinem Gesang. Das ist zu sehen, wenn das Ensemble
schattenhaft in der „Wolfsschlucht“ robbt, über Max herfällt oder einen
Irrwald zwischen dem schwankenden Max und seiner zweifelnden Agathe bildet. Da
wirkt nichts zufällig oder gaghaft auftrumpfend –
manch scheinbar beiläufige Szenen oder Arien erhalten sinnfällig Bedeutung.