Das wichtigste ist die Suche nach einem lebbaren Kompromiss. Tradition ist das Eine, festgefügt von den Urvätern seit Abraham, Isaac und Moses –, konfrontiert wird das mit dem Leben und dem sich wandelnden Denken der jeweils jüngeren Generationen. Die Frage ist, wie brechen wir die Tradition auf und halten dennoch unserer Kultur die Treue, ohne dass wir dogmatisch werden?
Tevje sagt nicht: es ist so wie es ist. Er möchte das „gute Buch“, die Bibel studieren „bis wir sie verstehen“. Er hat den inneren Drang nach Weisheit. Er weiß, dass wir Menschen irren. Trotzdem steht er zu sich und seiner Art zu denken. Und er vertraut darauf, dass er im Dialog mit dem Geist, dem Gott, dem höheren Selbst, eine fruchtbare Auseinandersetzung führen kann. Er diskutiert, wägt ab, fragt, konfrontiert sich mit den anstehenden Problemen und findet eine Lösung. Und wenn sie noch so schmerzlich ist, wie mit der Tochter Chava, die Fedja, einen Russen heiratet – gegen seinen Willen. Er findet auch da noch einen Weg, indem er dem Paar Gottes Segen wünscht. In Sergio Radonic Lukovic haben wir einen großartigen Sängerdarsteller als Tevje, der die ganze Palette der Menschendarstellung zum Klingen bringt.
Das ist so charmant: durch die Töchter, die sich alle verlieben in Männer, die sie sich selber ausgesucht haben und die aus Liebe heiraten wollen, ist Tevje wie infiziert. Und er fragt sich, was ist denn das, Liebe, was hat das denn mit mir zu tun? Und dann fragt er Golde, ob es wohl Liebe ist, was sie verbindet. Und Golde versteht erst gar nicht, was er meint. Bis sie dann zum Kern ihrer Beziehung vorstoßen, die von Achtung und Liebe geprägt ist. Das ist ganz bezeichnend für das Stück, wo es letztlich geht um die Liebe zu Gott, zu sich selbst und zum Nächsten.
Ich war erst sehr skeptisch, dachte, ich muss vieles ganz anders machen, war gespannt darauf. Und ich bin überrascht, mit welchem Enthusiasmus, welcher Hingabe, Kraft und welchen Fähigkeiten dieser Chor diese große chorsolistisch-schauspielerisch-tänzerische Aufgabe leistet. Jeder im Chor ist ein Solist.
Das Stück ist sehr hermetisch, erzählt diese Ängste im Nebeneinander der Kulturen. Auf der anderen Seite hat das Stück sehr viele Ebenen – eine politische, menschliche, soziale, transzendentale. Die menschliche Ebene ist gültig für immer, auch für heute im Umgang miteinander. In einer Familie ist man sich ja manchmal genauso fremd. Die Vorlage dieses Stücks – der Mikrokosmos im Makrokosmos – ist so gut, dass man ohnehin nur einen Zipfel von dem zeigen kann, was drinsteckt. Das ist ein richtiges Weltstück. Der Offizier illustriert den fatalen Kadavergehorsam, der mit dem menschlichen Fühlen und der Verantwortung nicht zusammengeht und Krieg ermöglicht. Er leitet ein Pogrom und sagt zu Tevje: „Ich habe damit nichts zu tun“.
Das ist ja das Tolle an dem jüdischen Denken, dass es so flexibel ist. Deswegen haben die Juden es vielleicht auch immer wieder geschafft, trotz Heimatlosigkeit sich anzupassen und sich zu behaupten: Diese Klugheit, nicht sich ins Zentrum zu setzen, sondern Gott, diesen großen Ur-Vater, an dem man sich als Mensch abarbeiten muss; diese Flexibilität im Denken und im Drang, eine lebbare Lösung zu finden und nicht mit „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, obwohl das in dieser Religion steckt und wir es heute in der Politik der Regierung in Israel fatal erleben, sondern nach Frieden und Verständigung zu suchen auf Augenhöhe. Die Kinder sind so erzogen, dass sie dem Vater Widerpart bieten können. Das ist eine große Leistung der Eltern, dass sie die Kinder nicht gebrochen und gedrillt haben, sondern dass sie ihre Persönlichkeiten achten. Diese Achtung ist aus Liebe gespeist. Tevje und Golde lieben die Kinder und sie lieben einander. Und deswegen ist Tevje auch so anerkannt im Ort als Instanz. Für das Solistenensemble eine große Aufgabe, die sie auf hohem Niveau bewältigen.
Tevje sagt: Wenn man gegen das Pogrom aufstehen und sich Auge um Auge, Zahn um Zahn verteidigen würde, dann wäre die ganze Welt bald blind ohne Zähne.