Der „Barbier von Sevilla“ ist Rossinis erfolgreichste Oper. Wie Mozarts „Figaro“, den der junge Rossini sehr bewunderte, ist es eine Komödie nach der Figaro-Trilogie von Beaumarchais. Der „Barbier“ ist das Kopfstück mit dem Seitentitel „Oder die nutzlose Vorsicht“. „Figaro“ ist das Mittelstück. Der etwas larmoyante Schlussteil „Ein zweiter Tartuffe oder Die Schuld der Mutter“ blieb fast unbekannt. Was ist für dich das Besondere am „Barbier“, auch im Vergleich zum „Figaro“, den du ja vor drei Jahren in Mainz inszeniert hast.
Es ist schon dieser drive in dem Stück, dieser Run nach dem Glück, nach dem Gold. Diese Hatz im „Barbier“ hat was sehr Modernes, das sich hineinsteigert in den alltäglichen Wahnsinn. Und was bei Mozart das psychologische, poetische, philosophische Moment ist, das gleitet hier zurück in die „Commedia dell’arte“, so dass man auf den Urgrund der Komödie stößt.
Der „Barbier“ ist 1816 komponiert, also nach der Französischen Revolution und dem Napoleonischen Kaiserreich, der „Figaro“ davor. Spielt das eine Rolle in der Konzeption?
Ja, weil die politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung nur partiell, nämlich übers Geld, stattfindet. Es geht ums Bezahlen. Der Graf wird als Teil der herrschenden Klasse in keiner Weise kritisiert oder in Frage gestellt sondern rundheraus akzeptiert.
Das Geld als zentrales Thema – vor allem der Barbier spricht immer wieder davon. Ständig wird der Graf Almaviva zur Kasse gebeten, damit der Barbier und seine Kumpane helfen z.B. bei der Entführung des Mädchens Rosina. Mit Geld wird alles geregelt, hochmodern.
Das Thema durchzieht das Stück von Anfang an. Und wir zeigen das auch.
Beaumarchais‘ Komödie fußt stark auf Molières „Schule der Frauen“. Bei Molière wird der Alte, der Rosina als Mündel heranzieht um sie mal zu heiraten, stigmatisiert als jemand, der junge Frauen in Dummheit halten will, damit sie nicht auf emanzipatorische Gedanken kommen. Das ist sozusagen Vor-Aufklärung. Bei Rossini ist im „Barbier“ der Akzent verschoben hin zu einer gewissen Angst vor den Folgen solcher Aufgeklärtheit. Berühmt sind ja die maschinenartigen Gewittermusiken als Zeichen dafür. Hier vor allem im Finale des Ersten Akts.
Dieser Doktor Bartolo verrennt sich permanent. Er ist ein Bürger.
Dass er glaubt, durch seine Doktor-Würde also durch Bücher-Wissen das
Leben meistern zu können, ist schon ein Irrtum. Dass er glaubt, wenn man
eine Frau bewusst dumm hält, dass sie auch dumm wird, ist ein
ebensolcher Trugschluss. Der Mann hatte schlechte Erfahrungen und er
zieht daraus die falschen Schlussfolgerungen. Er erzielt nur
Teil-Erfolge handelt aber letztendlich erfolglos.
Durch die List, die
Lebendigkeit, den Erfindungsreichtum und die Improvisationsgabe der
verbündeten Drei – Figaro, Rosina, Graf – wird er immer wieder
hereingelegt.
Aber darin steckt auch ein humanistischer Gedanke, und er wird so fein
gezeichnet, dass Bartolo ein bisschen auch als leidende Kreatur
erscheint. Immer wieder versucht er aus der Grube herauszuklettern und
immer wieder rutscht er hinein. Sein Freund Basilio, der Musiklehrer und
Jesuit, ist auch nur ein Intrigant, der ihm nicht helfen kann. Bartolo
schreit immer gleich nach der Polizei, ruft die Wachen – ein
kleinkarierter, nicht recht in sich ruhender Mensch, fast eine Art
Minotaurus, der sein Reich argwöhnisch bewacht und dennoch immer wieder
hintergangen wird. Insofern ist er für mich auch eine zentrale Figur.
Alle Hauptfiguren hier sind ja fast gleich wichtig.
Die Musik von Rossini scheint sich immer wieder zu verselbständigen. Da wird eine Koloratur-Maschine angeworfen, und die rattert dann los. Die Szene scheint wie ausgehebelt wie im rasenden Stillstand.
Das ist eben dieser ganz normale Wahnsinn, in dem wir leben. Das hat Rossini immer wieder in der Musik erzählt, dass Handlungen oder Situationen ausufern, sich verselbständigen, und wir rennen dann hinterher und wissen gar nicht wieso, warum.
Du stellst dem „Barbier“ eine Art Rahmen voran. Gespielt wird auch aus dem Orchestergraben heraus. Es gibt Assoziationen zum Kasperle-Theater.
Ich wollte ein Theater aus der Musik entwickeln, was den Theaterraum und den Orchestergraben, Bühne, Vorhang, Seitenbühnen, als Spielort dieses Musik-Theaters kreiert. Wir nehmen das Theater als Lebensort dieser überhöhten Kunstfiguren, die letztlich wir sind. Eifersucht, Geldgier, die Suche nach Befriedigung und Leben – das ist ein immerwährendes Thema. Das Theater ist jetzt nicht nur die Bühne, wo ein Stück gespielt wird, sondern das Theater sind wir. Und der Raum wird genutzt, nicht um was vorzuspielen, sondern um damit zu spielen. Der Zuschauer beobachtet das Spiel mit dem Theater.
Du hast auch eine sehr spezielle Fassung erarbeitet mit dem Dirigenten, Dramaturgen und Ausstatter. Ist das, um eine für heutige Verhältnisse „tragbare“ Spieldauer zu erreichen oder zielt das auf noch was anderes?
Der eine Grund war schon, die Komödie ins Zeitbudget des heutigen
Publikums einzupassen: dass man – mit Ausnahme bei Wagner – nicht mehr
dreieinhalb Stunden und mehr im Theater verbringt; das Limit hat auch
das Theater gesetzt. Aber ich wollte auch das Klamottige aus der Komödie
tilgen. Ich wollte wegkommen aus dem Vorführcharakter mit festgelegten
Typen. Aufgelöst habe ich das in ein Spiel mit dem Theater, mit dem
Leben der Figuren, mit ihren vielen verschiedenen Facetten. Ich wollte
das Theater des Lebens vorführen, das jeder tagtäglich erlebt als den
ganz normalen Wahnsinn in den Familien, in den Schulen, im Beruf. Um
dies Theater geht es. Ich spiele mit der Institution Theater, auch um zu
zeigen, wie wertvoll das Theater ist, dass man es nicht einfach
wegradieren kann aus unserer Kultur. Das Theater ist gefährdet heute.
Wir Theaterleute fürchten, dass es immer weniger wird, was ein großer
Verlust wäre. Aber entwickelt habe ich die Konzeption aus der Musik,
weil die so urtheatralisch ist, und ich fand, dass man das von daher
entwickeln erzählen müsste.