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Schaut auf die Bäume im Wasser!

Arila Siegert im Gespräch über ihre Realisierung von
Wassily Kandinskys Bühnenkomposition „Violett“

Premiere: 13. Sept. 2019 (Szenische Uraufführung)
Anhaltisches Theater Dessau
im Rahmen des 100-Jahr-Bauhaus-Jubiläums

Musik: Leitung: Sebastian Kennerknecht
Inszenierung und Choreografie: Arila Siegert
Musik: Ali N. Askin
Bühnenbild: Moritz Nitsche
Kostüme: Marie-Luise Strandt
Live-Maler: Helge Leiberg
Licht-Design: Guido Petzold
Dramaturgie: Carola Cohen-Friedlaender
Kerstin Schweers, Jörg Thieme
Ballettkompagnie, Opernchor,
Mitglieder des Kinderchors und
Mitglieder der Anhaltischen Philharmonie Dessau
Libretto: de-en
Aufführungsdauer: ca. 90 Minuten

 

Stelzenfrau

Das Stück beginnt damit, dass eine Mauer gefallen ist, und es endet, dass alles doch so bleibt. Eigentlich eine pessimistische Aussage. Oder was meint dieses „Violett“?

„Der Wall ist gestern gesunken“ – so geht es los, und es endet mit „und so geht es immer weiter“. Ich finde „Der Wall ist gestern gesunken“ ist erstmal eine positive Aussage. Ein Freiraum ist geschaffen, Vorurteile sind in die Asche gesunken, es gibt einen Neuanfang, und ich denke, dass das für Kandinsky eine zentrale Message war. Er will uns auffordern, die Welt wahrzunehmen in der Vielfalt und unglaublichen Schönheit wie sie ist. Darin liegt auch die Aufforderung, die Welt zu erhalten und die Schöpfung zu bewahren. „Und so geht es immer weiter“ heißt, dass die Prozesse sehr langsam sich entwickeln, dass die Welt sich dreht, dass immer wieder Tag und Nacht wird, dass wir in einem bestimmten System gefangen sind, in dem wir aber die Möglichkeit haben, die Dinge zum Besseren zu wenden. Ich sehe diese ganze Aufbruchs-Komposition, die immer noch Zukunftsmusik ist, als eine große Chance.

Es gibt da einen Homeless-Mann auf Krücken, der seine Verlorenheit beklagt.

Der Bettler zeigt die Verlierer einer Gesellschaft und mahnt mehr Gerechtigkeit an. Er zeigt auf, wie fragil das Leben ist, dass man himmelhoch jauchzen und zu Tode betrübt sein kann. Es ist wie eine Klage nach dem ersten Weltkrieg, und dass es so nicht weiter gehen konnte. „Noch nicht geboren, sind wir verloren“ heißt es im Stück: die Generation im Krieg, die als Kanonenfutter von den Mächtigen geopfert wurde. Verdun hat eine Zäsur im Denken bewirkt. Aus dieser Zäsur ist unter anderem das neue Denken des Bauhaus‘ entstanden. Die Leute wollten eine neue Zeit.

Krückenmann mit rot-blau

„Violett“ ist Kandinskys letzte Bühnenkomposition, und sie scheint wie ein bunter Reigen von Farben, Tönen, Figuren. Was ist von Kandinsky selbst vorgegeben, was musste hinzuerfunden werden?

Ein Text und eine Theateraufführung sind zwei verschiedene Welten. Theater ist Zeitkunst und immer eine Interpretation. Kandinsky erfindet als Maler, für ihn sind Farbe und Licht, Bewegung und Tanz und Klang und Musik gleichberechtigt; es ist ein Gedanken-Entwurf. Er interessiert sich auch dafür, wie Farben und Formen in den Raum wirken: dass diese dritte Dimension als szenischer Vorgang sich dazu organisiert und als Zusammenklang von allen Erscheinungsformen der Materie in Raum, Zeit und Dynamik wirkt. Hinzuerfinden muss man also, dass es zum Theater wird – dieses dritte Drittel Szenische Realisation neben Text und Musik. Zum Teil hat er das vorgegeben und zum Teil habe ich es selbst erfunden. Genauso der Komponist, der sich sehr streng an die Vorgaben hält, aber auch sein Eigenes dazutut. Und ebenso der Bühnenbildner und der Licht- und Filmkünstler. Es ist eine Aufforderung zur eigenen Kreativität.

Frau&Mann&Tänzer

Du hast von Kandinsky auch schon mal den „Gelben Klang“ inszeniert. „Violett“ ist aber sehr viel komplexer.

Beide Stücke unterscheiden sich zum einen durch die Personage. Der „Gelbe Klang“ ist non-verbal Musik und Bewegung, bei „Violett“ sind Schauspieler und Sänger dabei, dazu Tänzer, ein Chor, Kinderchor, Statisten. Kandinsky hat für den Chor Texte geschrieben, für die Schauspieler Dialoge und Monologe. Der zweite Unterschied ist, dass es immer wieder sich dreht um das Thema „Der Wall ist gestern gesunken“. Das geht durchs ganze Stück. Bei den Schauspielern haben wir einen eleganten Herrn mit Zylinder und eine ziemlich dicke Dame. Die beiden bilden eine Linie im Stück mit einer eigenen Entwicklung. Immer wieder mündet das Stück in „Ein Zimmer“ – das Zimmer als Keimzelle der Beziehung zwischen Mann und Frau, der Beziehung zum Leben. Wir, unsere Gedanken, gehen hinaus aus der Zelle, heraus aus den Mauern und erleben die Welt.

Die Malerei Kandinskys ist dir durch deine Lehrerin Palucca schon in der Tanz-Ausbildung nahegebracht worden. Palucca war ja mit den Bauhaus-Künstlern eng verbunden. Auch in dieser Bühnen-Komposition findet man diese Farben und Formen wie Kreis, Dreieck, Linie wieder. Wie ist das aufeinander bezogen?

Zum Beispiel nennt Kandinsky einen Punkt ein Wesen. Und wenn ein Punkt, dieses Wesen, sich zu bewegen beginnt, wenn eine Linie entsteht, dann entsteht ein Weg und daraus eine Aktion. Also er will die Ideen der abstrakten Malerei übersetzen in Bühnen-Aktionen, in szenische Vorgänge. Die Szenen sind frei assoziiert. Er schaut, als ob man den Blick ändert in verschiedenste Welten. Das ganze Farbkonzept basiert auf seinen Untersuchungen, wie Farben wirken in den Raum. Also dass ein Gelb vom Darsteller in den Zuschauerraum hineinschreit, ein Blau vom Zuschauer zurückweicht zum Darsteller, ein Rot sich behauptet am Platz wie eine Persönlichkeit, und ein Grün, das sich ja mischt aus dem schreiend davon-strebenden Gelb und dem zurückweichenden Blau, ist eine Patt-Situation. In diesem Farbkonzept bewegt sich auch die Darstellungsweise.

Tanz ums goldene Kalb

Es gibt auch eine Kuh – vielleicht ein goldenes Kalb, um das hier getanzt wird? Ist das als Reverenz an den Wohnort Murnau gemeint, wo Kandinsky zeitweise lebte oder eine leise Kritik am gesellschaftlichen System seiner Zeit?

Er glaubte schon, dass es einer neuen Haltung und eines neuen Denkens bedarf, aber auch eine heiter-ironische kritische Dada-Haltung. Wie das mit der Kuh. Das ist wie eine böse Operette: Eine schlecht kaschierte Kuh mit einem grünen Euter schreit immerzu. Sie blökt immer lauter, sie muht immer extremer, als ob sie kalbt. Diese Kuh leidet. Es ist ein Schrei der Natur. Wir haben das so interpretiert, dass wir sagen: es ist wie ein Tanz ums goldene Kalb, die Gier nach Geld und Gold, die uns entmenscht. Es ist eine Verirrung oder wie das Ausufern bei einer Party, in der Disco oder bei einer Love-Parade. Mancher Mensch kann eben mit Freiheit schwer was anfangen. Die Situation kann dann ganz schnell kippen oder pervertieren. Das wollen wir in der Szene mit der Kuh in unserer Interpretation erzählen.

Es gibt, wie schon angesprochen, Konstanten in dem Stück: ein Paar, das sich in einer Art Nonsens-Dialog gegenseitig beharkt, Tänzer, Bettler, Slapstick, einen Chor mit eigens neu komponierten Gesangsnummern und rhythmischem Sprechgesang, Live-Malerei, abstrakte Film-Einschübe. Wie ist das von Kandinsky wohl gedacht und von dir zusammengebaut?

Es ist eine Art Welttheater, sehr leicht, ohne Zeigefinger, absurd, eine Riesen-Oper, eine Riesen-Veranstaltung aller Künste. Ali N. Askin hat eine eigene Komposition beigesteuert, Marie-Luise Strandt entwickelt die Kostüme aus ihrem ganzen Wissen, Moritz Nitsche erfindet ein Bühnenbild, das dem Total-Theater von Walter Gropius nahekommt, der Licht-Designer Guido Petzold muss diesen Farb-Zauber, den Kandinskys Bilder ausstrahlen, ins Stück hinein blenden, wobei Kandinsky ziemlich genau vorschreibt, wann welche Farbe zu welchem Wort aufleuchtet. Die Live-Malerei per Overhead haben wir dazu erfunden. Wenn ein Maler sich ein Theater ausdenkt, ist das natürlich sehr stark mit Malerei verbunden. Würde man das im Theater kaschieren mit kleinen bunten Kuppeln, aus denen kleine bunte Blümchen sprießen, würde das ganz schön komisch wirken. Außerdem wollen wir die Assoziationskraft des schöpferischen Denkens durch diese Malerei von Helge Leiberg, die live entsteht und sofort wieder verschwindet, beim Zuschauer anregen. Dazu kommen noch vier Animations-Filme, die Kandinsky genau beschreibt. Das war zu seiner Zeit 1908-1920, als er an dem Skript arbeitete, noch Zukunftsmusik. Erst heute ist eigentlich zu realisieren, was er sich vorgestellt hat. Wie weit sie dachten schon vor dem Zweiten Weltkrieg, ist grandios!

Vogel

Eine Szene nennst du „Arche Noah“. Was soll da vor dem Untergang bewahrt werden, was zu neuem Leben erweckt werden?

Ich denke, dass Kandinsky mit seinen Visionen verschiedene Gedanken fortspinnen wollte. Ich habe die verortet in archetypischen Metaphern wie: dass wir durch eine Wüste wandern, dass wir uns im Kreis drehen, dass wir uns sammeln und wie die Flüchtlinge heute miteinander untergehen. Das sind sehr aktuelle Bilder, die auch benannt werden können – Bilder, die sich in unserer Kultur für die Zustände, die er beschreibt, angesammelt haben in unserem Bewusstsein.

Wie du es inszenierst, hat es stellenweise auch etwas von Traum-Theater neben dem, dass es wie die Vorform eines absurden und zugleich eines sehr modernen, abwechslungsreichen Total-Theaters erscheint.

Ich verstehe Kandinsky so, dass wir das Leben nicht nur mit dem Kopf, sondern vor allem mit den Sinnen und einem verinnerlichten Blick begreifen, indem wir in uns hineinlauschen und dem nachfühlen, was in uns vorgeht. Das ist das Gegenteil von diesem „Mauer-Denken“, dass es so und so zu sein hat.

Ist „Violett“ im besten Sinn ein Gesamt-Kunstwerk? Hat Kandinsky Wagner, den er ja sehr verehrte, weitergedacht?

Er hat versucht, dieses Verdoppeln bei Wagner völlig zu konterkarieren. Sobald eine Art Geschichte, eine Schwere entsteht, wird das wieder zerstört. Ich glaube schon, er wollte weiter gehen, wollte raus aus einer narrativen Erzählweise in eine assoziative. Er wollte uns auffordern, schaut doch genau hin, in welchem Paradies wir leben: Wie sind die Wolken, wie ist das kleine Wasser-Berglein, wenn man im Ruderboot sitzt, wie entsteht das, wie kann dies Wasser das Schiff tragen, wie wanken die Bäume im Wasser, wie sieht der Himmel aus und wie ist die Farbe der Hoffnungslosigkeit? Also es ist ein Hinterfragen von Sehgewohnheiten aber auch Aufforderung zum – im besten Sinne – naiven menschlichen Blick.

Wenn im Text aus den Fensterrahmen oben unterm Bühnen-Dach der Chor auffordert zum Betrachten der Bäume und des Himmels, zeichnet Helge auf seine Folien eine Wolkenkratzer-Stadt.

Diese sechste Szene heißt „Die Stadt“, und Kandinsky beginnt mit einer Art Traumgesang. Daran sieht man: eine Stadt ist alles, sie ist sehr real, aber dahinter liegen noch viele andere Welten. Die Toten unter den Häusern und unsere Gedanken, die in die Nacht hinaus in den Raum wandern. Dass wir mehr in den Blick nehmen als das, was uns nur das Auge zeigt.

schlussvideo

Ist es das, was uns das Stück heute noch sagen kann?

Ich hoffe, dass wir in die Nähe kommen: Dass es ein Erlebnis wird. Dass man in sich diese Mauer einreißt, wo man sich bestimmte Sachen zu sehen wünscht aber bestimmte Klötze vorm Kopf hat und das Eigentliche gar nicht sieht. Kandinsky zerstört die Gewohnheiten, damit wir richtig schauen; und dass das seelische Erleben beim Schauen das öffnet, was uns die Mauer verstellt.

Interview/Fotos: gfk, 15.08 / erw. 08.09.2019, Berlin