Ein langer stummer Menschenzug wandert einer fernen neuen Heimat
entgegen, das Flüchtlingsgepäck in Händen - so ungewöhnlich still und
traurig beginnt Anatevka in Eisenach.
Mit ihren Koffern sind sie unterwegs. Es sind die wohl anhänglichsten
Begleiter dieses auserwählten Volkes, auf dem Weg aus der babylonischen
Gefangenschaft bis nach Auschwitz, wo sich die Koffer noch heute zu Bergen
türmen. Und aus Koffern erzählen sie jetzt am Landestheater Eisenach das
Leben der so genannten Ostjuden aus dem ukrainischen Schtedtl Anatevka...
Alles in allem ist hier ein starkes Ensemble aus Sängern und Tänzern am Werk, und das im wahrsten Sinne: Szenische Umbauten sind Teil der Arbeit in "Anatevka", Teil des Spieles, das somit in zauberhaftem Fluss gehalten wird... Eisenach ist ein großer Wurf gelungen.
Eine Parabel über Nutzen und Grenzen von Tradition in der sich verändernden Welt, das ist das Musical "Anatevka", Name eines ukrainischen Dorfes, in dessen "Schtedtl" die jüdische Gemeinde um 1905 ihrer Tradition lebt, bis ein Pogrom der zaristischen Polizei aller Harmonie ein Ende setzt...
Vielleicht begründet sich der
Kultstatus, den dieses Werk mittlerweile genießt, gerade in dieser Mischung
von Lebensfreude und Lebensangst, von Vertrauen auf Gott und auf die eigene
Kraft, von Geborgensein in der Gemeinschaft und der immer wieder notwendigen
Toleranz gegenüber individuellen Ausbruchsversuchen.
Arila Siegert war sich für die Inszenierung am Landestheater Eisenach
solcher Ambivalenz bewusst und versuchte dennoch,
ausgetretene Pfade zu
verlassen. Zwar schuf das Bühnenbild von Grit Dora von Zeschau, dem
jüdischen Gebetsschal nachempfunden, doch kaum als solcher wahrzunehmen,
den angemessen kargen Rahmen für das von Ritualen bestimmte Leben der
Familie des Milchmannes Tevje...
Musical-Fieber im Landestheater Eisenach
Umjubelt bei jeder Vorstellung ist das Musical ANATEVKA,
das neu in den Spielplan des Landestheaters Eisenach gekommen ist...
Regisseurin Arila Siegert bringt die Geschichte mit viel Einfühlungsvermögen
in die Seele der Bühnenfiguren und ihren typisch jüdischen Humor auf die
Bühne. Gefühlvoll ist die Sabbatfeier in Tevjes Haus, deftig wird der
Brauthandel in der Dorfkneipe von Russen und Juden gefeiert und
unvergesslich bleibt die Hochzeitsfeier, die ein so jähes Ende nimmt ...
Einerseits kennt man „Anatevka“ als beschwingtes Hit-Potpourri voller
Nostalgie. Andererseits wird es am Landestheater als humorvolle
Lebensparabel voller Tiefgang gezeigt. Einerseits ist es für ein großes
Ensemble gedacht, andererseits kommen die Eisenacher ohne Chor und mit
Mehrfachaufgaben zurecht. Und schließlich bietet sich der Stoff einerseits
als Folie für gegenwärtige Probleme geradezu an, andererseits
sorgt die Inszenierung von Arila Siegert für
zeitlose Aktualität...
Das schlichte Bühnenbild von Grit Dora von Zeschau in Form eines
Gebetsschals unterstützt die bildhafte Erzählweise. Auch das Orchester unter
Leitung von Till Hass harmoniert vortrefflich mit seiner einfühlsamen und
inspirierten Begleitung. Ebenso wie Fiedler Julian Dedu, der die
osteuropäische Mentalität voller Temperament, Schwermut und Lebensfreude mit
seinem versunkenen Spiel vermittelt. Einerseits Schmerz, Angst und
Bedrohung. Andererseits Liebe, Witz und Leidenschaft. Das Leben eben – in
einer reiz- und liebevollen Inszenierung.