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Ein Leben aus Koffern

Michael Helbing, Thüringer Allgemeine, 15.01.2006

Ein langer stummer Menschenzug wandert einer fernen neuen Heimat entgegen, das Flüchtlingsgepäck in Händen - so ungewöhnlich still und traurig beginnt Anatevka in Eisenach.
Mit ihren Koffern sind sie unterwegs. Es sind die wohl anhänglichsten Begleiter dieses auserwählten Volkes, auf dem Weg aus der babylonischen Gefangenschaft bis nach Auschwitz, wo sich die Koffer noch heute zu Bergen türmen. Und aus Koffern erzählen sie jetzt am Landestheater Eisenach das Leben der so genannten Ostjuden aus dem ukrainischen Schtedtl Anatevka. Diese Gepäckstücke sind in der Ausstattung von Grit Dora von Zeschau beinahe omnipräsent, werden zu einer Kommode oder einer Festtafel am Sabbat. So zeigt sich das fortwährende Dauerprovisorium von Menschen, deren sicherster Halt auch immer durchlässiger wird: die Tradition. Dafür hat von Zeschau ihren weißen Raum wie einen riesigen Gebetsschal gebaut, mit durchgängig dunklen Schlitzen auf Galeriehöhe.
Hier also spielt sich nun Jerry Bocks Erfolgsmusical ab. Doch überraschend deutlich verweigert sich die Inszenierung von Arila Siegert jeglicher nostalgischen Folklore. Vielmehr atmet sie viel vom Geist der literarischen Vorlage Scholem Alejchems, in dessen 90. Todesjahr diese Premiere fällt. Denn statt schwungvollem Entertainment hat hier leises, bewegendes Komödiantentum seinen Ort. Der Abend nimmt sich Zeit für seine Figuren und ist eben deshalb so erfrischend kurzweilig.
Die Landeskapelle tut unter Till Hass das Nämliche, sie hetzt nicht durch die Stücke, sie kostet vielmehr oft ganz überraschende Zwischentöne aus, Momente des Innehaltens inbegriffen. Das sehr Besondere der Aufführung ist gut an Ernst Volker Schwarz abzulesen, der vor fünfzehn Jahren schon einmal Eisenachs Milchmann Tevje war. Quirliger wirkte er damals, er war ein recht leicht verdauliches Schlitzohr. Sein zweiter Tevje hingegen ist weitaus grüblerischer, trauriger, besticht durch melancholischen Witz, oft mit einer Träne im Knopfloch.
Daneben haben aber noch andere starke Sängerdarsteller ihren Platz: Elke Hartmann spielt mit beherzter Mütterlichkeit Tevjes Frau Golde, Monika Dehler ist die ewig plappernde Heiratsvermittlerin Jente, Roland Hartmann der gutmütig grummelnde Fleischer Lejser Wolf, Johannes Weinhuber der etwas umständlich steife Revoluzzer Pertschik. Alles in allem ist hier ein starkes Ensemble aus Sängern und Tänzern am Werk, und das im wahrsten Sinne: Szenische Umbauten sind Teil der Arbeit in "Anatevka", Teil des Spieles, das somit in zauberhaftem Fluss gehalten wird.
Eisenach ist ein großer Wurf gelungen.
Dass Intendant Schlicht die Inszenierung zu Beginn anpries wie Tevje die Sauermilch, hätte er sich deshalb sparen können.
Übrigens: Unter den 700 Mitgliedern der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen gibt es nur zehn Deutsche. Die anderen kommen vorwiegend aus dem Osten, meist aus Kiew, Odessa oder Charkow. Viele gebildete Akademiker sind darunter, so wie ein Tevje sie mögen würde. Bei uns aber sind sie ALG-II-Empfänger. Sie sind aus den Städten von Scholem Alejchem zu uns gezogen, mit dem Koffer in der Hand.


Trostvoll virtuoses Geigenspiel

Hans-Jürgen Thiers, Thüringische Landeszeitung, 15.01.2006

Eine Parabel über Nutzen und Grenzen von Tradition in der sich verändernden Welt, das ist das Musical "Anatevka", Name eines ukrainischen Dorfes, in dessen "Schtedtl" die jüdische Gemeinde um 1905 ihrer Tradition lebt, bis ein Pogrom der zaristischen Polizei aller Harmonie ein Ende setzt. Als Untertitel ist dem Musical beigegeben "Der Fiedler auf dem Dach" - personifizierte Sehnsüchte und Hoffnungen, die Wünsche für die Zukunft der in Bedrängnis Geratenen. Ihre Ideale stehen plötzlich auf dem Prüfstand, und doch werden sie von ihnen niemals ernsthaft in Frage gestellt.
Es bleibt das Geheimnis der amerikanischen Autoren um Jerry Bock, wie sie den an den Grundfesten menschlichen Vertrauens rüttelnden Stoff mit komödiantischer Leichtigkeit als Musical haben gestalten können, ohne ihn seiner ergreifenden Wirkung zu berauben. Vielleicht begründet sich der Kultstatus, den dieses Werk mittlerweile genießt, gerade in dieser Mischung von Lebensfreude und Lebensangst, von Vertrauen auf Gott und auf die eigene Kraft, von Geborgensein in der Gemeinschaft und der immer wieder notwendigen Toleranz gegenüber individuellen Ausbruchsversuchen.
Arila Siegert war sich für die Inszenierung am Landestheater Eisenach solcher Ambivalenz bewusst und versuchte dennoch, ausgetretene Pfade zu verlassen. Zwar schuf das Bühnenbild von Grit Dora von Zeschau, dem jüdischen Gebetsschal nachempfunden, doch kaum als solcher wahrzunehmen, den angemessen kargen Rahmen für das von Ritualen bestimmte Leben der Familie des Milchmannes Tevje. Der Regisseurin jedoch lag mehr an einer operettenhaften Aufbereitung, wovon besonders die Traumbegegnung mit Großmutter Zeitel und die Wirtshausszene nach Lejser Wolfs Werbung profitierten. Sie stellte farbenfrohe Bilder neben besinnliche Dialoge, introvertiertes Gedankenspiel neben schauträchtige Aktion, und aus diesem Kontrast entwickelte sich eine mitreißende, zutiefst anrührende Kraft.
Sorgsam geführt das Ensemble, Personen, die in ihrem Habitus nicht unbedingt als Angehörige des Judentums zu erkennen waren wie Jente, die Heiratsvermittlerin (Monika Dehler), die aber Geschichte oder Hoffnung ihres Lebens offenbaren. Sei es Tevje (Ernst Volker Schwarz) und Golde, seine Frau (Elke Hartmann), die Töchter Zeitel (Annegret Seiler) Hodel (Karine Motyka) und Chava (Krista Kujala), Mottel (François Soons), Pertschik (Johannes Weinhuber) und Fedja (Eric Eisenach) oder auch Lejser Wolf (Roland Hartmann). Ein leichteres Händchen hätte man Till Hass gewünscht, unter dessen Leitung die Landeskapelle mit zu viel sinfonischem Ernst aufspielte. Trostvoll besänftigend schwebte über allem Julian Dedu, der Fiedler, mit virtuosem Geigenspiel.


Musical-Fieber im Landestheater Eisenach

Rainer Beichler in eisenachonline - wartburgkreisonline, 24.01.06

Umjubelt bei jeder Vorstellung ist das Musical ANATEVKA, das neu in den Spielplan des Landestheaters Eisenach gekommen ist. Chancen auf richtig gute Plätze gibt es für die Vorstellung am Dienstag, dem 24. Januar, nachmittags 15.00 Uhr, während für Donnerstag, den 26. Januar, und Freitag, den 3. Februar, jeweils um 19.30 Uhr, die Karten schon knapp werden.
Die Handlung spielt in dem russischen Dorf Anatevka, in dem um 1905 Russen und Juden in relativ friedlicher Nachbarschaft leben. «Wenn ich einmal reich wär», träumt Tevje (Ernst Volker Schwarz), der jüdische Milchmann, der für fünf Töchter und seine Frau zu sorgen hat. Sein fest gefügtes Weltbild gerät ins Wanken, als seine drei ältesten Töchter, entgegen der Tradition, sich ihren Bräutigam selbst aussuchen.
Regisseurin Arila Siegert bringt die Geschichte mit viel Einfühlungsvermögen in die Seele der Bühnenfiguren und ihren typisch jüdischen Humor auf die Bühne. Gefühlvoll ist die Sabbatfeier in Tevjes Haus, deftig wird der Brauthandel in der Dorfkneipe von Russen und Juden gefeiert und unvergesslich bleibt die Hochzeitsfeier, die ein so jähes Ende nimmt ...


Die zwei Welten des Milchmannes Tevje

Susanne Sobko, in: Südthüringer Zeitung/Freie Wort, 01.02.06
Koffer als Symbole, Tänzer als Schauspieler, Gebetsschal als Bühnenbild – das Musical „Anatevka“ wurde in Eisenach außergewöhnlich und feinsinnig inszeniert.

Einerseits kennt man „Anatevka“ als beschwingtes Hit-Potpourri voller Nostalgie. Andererseits wird es am Landestheater als humorvolle Lebensparabel voller Tiefgang gezeigt. Einerseits ist es für ein großes Ensemble gedacht, andererseits kommen die Eisenacher ohne Chor und mit Mehrfachaufgaben zurecht. Und schließlich bietet sich der Stoff einerseits als Folie für gegenwärtige Probleme geradezu an, andererseits sorgt die Inszenierung von Arila Siegert für zeitlose Aktualität.
Das Ein- und Andererseits macht den Kern dieser Inszenierung aus – auch bei Milchmannes Tevje. Einerseits ist Tevje verwurzelt in den Traditionen seiner jüdischen Gemeinde im russischen Dorf Anatevka. Andererseits kann er sie loslassen, als sich Neuerungen ankündigen. Dann vertraut er Vernunft und Gefühl, und ermöglicht dadurch zwei Töchtern eine selbstbestimmte Zukunft. Durch Offenheit und Lernbereitschaft sorgt er für Weiterentwicklung und Menschlichkeit, was beim sturen Klammern am Alten unmöglich wäre. Einerseits. Andererseits kann auch er bestimmte Grenzen nicht überschreiten, und verstößt deshalb seine dritte Tochter nach der Heirat mit einem Christen. Hier geht es nicht nur um jüdische Traditionen, hier geht es um sämtliche Zwänge, zu denen strenge Regeln führen.
Denn Dogmatismus ist auch verführerisch, weil er Geborgenheit vermittelt und Gemeinschaftsgefühl. Extremismus, Nostalgie, ja selbst Modeströmungen lassen sich dadurch erklären. Beispielgebend ist das Stück aber auch dafür, dass Harmonie im Familienleben immun machen kann gegen solche Konflikte. Und schließlich erinnert das Stück mit der abschließenden Vertreibung der Juden aus ihrem Dorf an Intoleranz und Machtwillkür, die heute ebenso vorkommen wie vor hundert Jahren.
Solche Anstöße zum Nachsinnen werden durch das anrührende Spiel der Darsteller ergänzt. Ernst Volker Schwarz als melancholisch-humorvoller Tevje ist zwar der Star, aber auch Elke Hartmann als resolute Golde, Roland Hartmann als gutmütiger Metzger und all die anderen Darsteller erschaffen liebenswerte Charaktere. Und da sogar die Tänzer ins Spiel einbezogen werden, leidet zwar zuweilen die Textverständlichkeit, andererseits gewinnt das Stück an bildlicher Ausdrucksstärke – Arila Siegert hat Szenen von gewaltiger Kraft und Symbolik erdacht. Ein Zug von Vertriebenen am Anfang ist besonders eindringlich – die Koffer werden dann immer wieder ins Spiel einbezogen, um zum Schluss erneut gepackt werden zu müssen.
Das schlichte Bühnenbild von Grit Dora von Zeschau in Form eines Gebetsschals unterstützt die bildhafte Erzählweise. Auch das Orchester unter Leitung von Till Hass harmoniert vortrefflich mit seiner einfühlsamen und inspirierten Begleitung. Ebenso wie Fiedler Julian Dedu, der die osteuropäische Mentalität voller Temperament, Schwermut und Lebensfreude mit seinem versunkenen Spiel vermittelt. Einerseits Schmerz, Angst und Bedrohung. Andererseits Liebe, Witz und Leidenschaft. Das Leben eben – in einer reiz- und liebevollen Inszenierung.