Ein langer stummer Menschenzug wandert einer fernen neuen Heimat
entgegen, das Flüchtlingsgepäck in Händen - so ungewöhnlich still und
traurig beginnt Anatevka in Eisenach.
Mit ihren Koffern sind sie unterwegs. Es sind die wohl
anhänglichsten Begleiter dieses auserwählten Volkes, auf dem Weg aus der
babylonischen Gefangenschaft bis nach Auschwitz, wo sich die Koffer noch
heute zu Bergen türmen. Und aus Koffern erzählen sie jetzt am Landestheater
Eisenach das Leben der so genannten Ostjuden aus dem ukrainischen Schtedtl
Anatevka. Diese Gepäckstücke sind in der Ausstattung von Grit Dora von
Zeschau beinahe omnipräsent, werden zu einer Kommode oder einer Festtafel am
Sabbat. So zeigt sich das fortwährende Dauerprovisorium von Menschen, deren
sicherster Halt auch immer durchlässiger wird: die Tradition. Dafür hat von
Zeschau ihren weißen Raum wie einen riesigen Gebetsschal gebaut, mit
durchgängig dunklen Schlitzen auf Galeriehöhe.
Hier also spielt sich nun Jerry Bocks Erfolgsmusical ab. Doch
überraschend
deutlich verweigert sich die Inszenierung von Arila Siegert jeglicher
nostalgischen Folklore. Vielmehr atmet sie viel vom Geist der literarischen
Vorlage Scholem Alejchems, in dessen 90. Todesjahr diese Premiere fällt.
Denn statt schwungvollem Entertainment hat hier leises, bewegendes
Komödiantentum seinen Ort. Der Abend nimmt sich Zeit für seine Figuren und
ist eben deshalb so erfrischend kurzweilig.
Die Landeskapelle tut unter Till Hass das Nämliche, sie hetzt nicht durch
die Stücke, sie kostet vielmehr oft ganz überraschende Zwischentöne aus,
Momente des Innehaltens inbegriffen. Das sehr Besondere der Aufführung ist
gut an Ernst Volker Schwarz abzulesen, der vor fünfzehn Jahren schon einmal
Eisenachs Milchmann Tevje war. Quirliger wirkte er damals, er war ein recht
leicht verdauliches Schlitzohr. Sein zweiter Tevje hingegen ist weitaus
grüblerischer, trauriger, besticht durch melancholischen Witz, oft mit einer
Träne im Knopfloch.
Daneben haben aber noch andere starke Sängerdarsteller ihren Platz:
Elke Hartmann spielt mit beherzter Mütterlichkeit Tevjes Frau Golde, Monika
Dehler ist die ewig plappernde Heiratsvermittlerin Jente, Roland Hartmann
der gutmütig grummelnde Fleischer Lejser Wolf, Johannes Weinhuber der etwas
umständlich steife Revoluzzer Pertschik. Alles in allem ist hier ein starkes
Ensemble aus Sängern und Tänzern am Werk, und das im wahrsten Sinne:
Szenische Umbauten sind Teil der Arbeit in "Anatevka", Teil des Spieles, das
somit in zauberhaftem Fluss gehalten wird.
Eisenach ist ein großer Wurf gelungen. Dass Intendant Schlicht die
Inszenierung zu Beginn anpries wie Tevje die Sauermilch, hätte er sich
deshalb sparen können.
Übrigens: Unter den 700 Mitgliedern der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen
gibt es nur zehn Deutsche. Die anderen kommen vorwiegend aus dem Osten,
meist aus Kiew, Odessa oder Charkow. Viele gebildete Akademiker sind
darunter, so wie ein Tevje sie mögen würde. Bei uns aber sind sie
ALG-II-Empfänger. Sie sind aus den Städten von Scholem Alejchem zu uns
gezogen, mit dem Koffer in der Hand.
Eine Parabel über Nutzen und Grenzen von Tradition in der
sich verändernden Welt, das ist das Musical "Anatevka", Name eines
ukrainischen Dorfes, in dessen "Schtedtl" die jüdische Gemeinde um 1905
ihrer Tradition lebt, bis ein Pogrom der zaristischen Polizei aller Harmonie
ein Ende setzt. Als Untertitel ist dem Musical beigegeben "Der Fiedler auf
dem Dach" - personifizierte Sehnsüchte und Hoffnungen, die Wünsche für die
Zukunft der in Bedrängnis Geratenen. Ihre Ideale stehen plötzlich auf dem
Prüfstand, und doch werden sie von ihnen niemals ernsthaft in Frage
gestellt.
Es bleibt das Geheimnis der amerikanischen Autoren um Jerry Bock, wie sie
den an den Grundfesten menschlichen Vertrauens rüttelnden Stoff mit
komödiantischer Leichtigkeit als Musical haben gestalten können, ohne ihn
seiner ergreifenden Wirkung zu berauben. Vielleicht begründet sich der
Kultstatus, den dieses Werk mittlerweile genießt, gerade in dieser Mischung
von Lebensfreude und Lebensangst, von Vertrauen auf Gott und auf die eigene
Kraft, von Geborgensein in der Gemeinschaft und der immer wieder notwendigen
Toleranz gegenüber individuellen Ausbruchsversuchen.
Arila Siegert war sich für die Inszenierung am Landestheater Eisenach
solcher Ambivalenz bewusst und versuchte dennoch,
ausgetretene Pfade zu
verlassen. Zwar schuf das Bühnenbild von Grit Dora von Zeschau, dem
jüdischen Gebetsschal nachempfunden, doch kaum als solcher wahrzunehmen, den
angemessen kargen Rahmen für das von Ritualen bestimmte Leben der Familie
des Milchmannes Tevje. Der Regisseurin jedoch lag mehr an einer
operettenhaften Aufbereitung, wovon besonders die Traumbegegnung mit
Großmutter Zeitel und die Wirtshausszene nach Lejser Wolfs Werbung
profitierten. Sie stellte farbenfrohe Bilder neben besinnliche Dialoge,
introvertiertes Gedankenspiel neben schauträchtige Aktion, und aus diesem
Kontrast entwickelte sich eine mitreißende, zutiefst anrührende Kraft.
Sorgsam geführt das Ensemble, Personen, die in ihrem Habitus nicht unbedingt
als Angehörige des Judentums zu erkennen waren wie Jente, die
Heiratsvermittlerin (Monika Dehler), die aber Geschichte oder Hoffnung ihres
Lebens offenbaren. Sei es Tevje (Ernst Volker Schwarz) und Golde, seine Frau
(Elke Hartmann), die Töchter Zeitel (Annegret Seiler) Hodel (Karine Motyka)
und Chava (Krista Kujala), Mottel (François Soons), Pertschik (Johannes Weinhuber) und Fedja (Eric Eisenach) oder auch Lejser Wolf (Roland
Hartmann). Ein leichteres Händchen hätte man Till Hass gewünscht, unter
dessen Leitung die Landeskapelle mit zu viel sinfonischem Ernst aufspielte.
Trostvoll besänftigend schwebte über allem Julian Dedu, der Fiedler, mit
virtuosem Geigenspiel.
Musical-Fieber im Landestheater Eisenach
Umjubelt bei jeder Vorstellung ist das Musical ANATEVKA, das neu in den
Spielplan des Landestheaters Eisenach gekommen ist. Chancen auf richtig gute
Plätze gibt es für die Vorstellung am Dienstag, dem 24. Januar, nachmittags
15.00 Uhr, während für Donnerstag, den 26. Januar, und Freitag, den 3.
Februar, jeweils um 19.30 Uhr, die Karten schon knapp werden.
Die Handlung spielt in dem russischen Dorf Anatevka, in dem um 1905 Russen
und Juden in relativ friedlicher Nachbarschaft leben. «Wenn ich einmal reich
wär», träumt Tevje (Ernst Volker Schwarz), der jüdische Milchmann, der für
fünf Töchter und seine Frau zu sorgen hat. Sein fest gefügtes Weltbild gerät
ins Wanken, als seine drei ältesten Töchter, entgegen der Tradition, sich
ihren Bräutigam selbst aussuchen.
Regisseurin Arila Siegert bringt die Geschichte mit viel Einfühlungsvermögen
in die Seele der Bühnenfiguren und ihren typisch jüdischen Humor auf die
Bühne. Gefühlvoll ist die Sabbatfeier in Tevjes Haus, deftig wird der
Brauthandel in der Dorfkneipe von Russen und Juden gefeiert und
unvergesslich bleibt die Hochzeitsfeier, die ein so jähes Ende nimmt ...
Einerseits kennt man „Anatevka“ als beschwingtes Hit-Potpourri voller
Nostalgie. Andererseits wird es am Landestheater als humorvolle
Lebensparabel voller Tiefgang gezeigt. Einerseits ist es für ein großes
Ensemble gedacht, andererseits kommen die Eisenacher ohne Chor und mit
Mehrfachaufgaben zurecht. Und schließlich bietet sich der Stoff einerseits
als Folie für gegenwärtige Probleme geradezu an, andererseits
sorgt die Inszenierung von Arila Siegert für
zeitlose Aktualität.
Das Ein- und Andererseits macht den Kern dieser Inszenierung aus – auch bei
Milchmannes Tevje. Einerseits ist Tevje verwurzelt in den Traditionen seiner
jüdischen Gemeinde im russischen Dorf Anatevka. Andererseits kann er sie
loslassen, als sich Neuerungen ankündigen. Dann vertraut er Vernunft und
Gefühl, und ermöglicht dadurch zwei Töchtern eine selbstbestimmte Zukunft.
Durch Offenheit und Lernbereitschaft sorgt er für Weiterentwicklung und
Menschlichkeit, was beim sturen Klammern am Alten unmöglich wäre.
Einerseits. Andererseits kann auch er bestimmte Grenzen nicht überschreiten,
und verstößt deshalb seine dritte Tochter nach der Heirat mit einem
Christen. Hier geht es nicht nur um jüdische Traditionen, hier geht es um
sämtliche Zwänge, zu denen strenge Regeln führen.
Denn Dogmatismus ist auch verführerisch, weil er Geborgenheit vermittelt und
Gemeinschaftsgefühl. Extremismus, Nostalgie, ja selbst Modeströmungen lassen
sich dadurch erklären. Beispielgebend ist das Stück aber auch dafür, dass
Harmonie im Familienleben immun machen kann gegen solche Konflikte. Und
schließlich erinnert das Stück mit der abschließenden Vertreibung der Juden
aus ihrem Dorf an Intoleranz und Machtwillkür, die heute ebenso vorkommen
wie vor hundert Jahren.
Solche Anstöße zum Nachsinnen werden durch das anrührende Spiel der
Darsteller ergänzt. Ernst Volker Schwarz als melancholisch-humorvoller Tevje
ist zwar der Star, aber auch Elke Hartmann als resolute Golde,
Roland Hartmann als gutmütiger Metzger und all die anderen Darsteller erschaffen
liebenswerte Charaktere. Und da sogar die Tänzer ins Spiel einbezogen
werden, leidet zwar zuweilen die Textverständlichkeit, andererseits gewinnt
das Stück an bildlicher Ausdrucksstärke – Arila Siegert hat Szenen von
gewaltiger Kraft und Symbolik erdacht. Ein Zug von Vertriebenen am Anfang
ist besonders eindringlich – die Koffer werden dann immer wieder ins Spiel
einbezogen, um zum Schluss erneut gepackt werden zu müssen.
Das schlichte Bühnenbild von Grit Dora von Zeschau in Form eines
Gebetsschals unterstützt die bildhafte Erzählweise. Auch das Orchester unter
Leitung von Till Hass harmoniert vortrefflich mit seiner einfühlsamen und
inspirierten Begleitung. Ebenso wie Fiedler Julian Dedu, der die
osteuropäische Mentalität voller Temperament, Schwermut und Lebensfreude mit
seinem versunkenen Spiel vermittelt. Einerseits Schmerz, Angst und
Bedrohung. Andererseits Liebe, Witz und Leidenschaft. Das Leben eben – in
einer reiz- und liebevollen Inszenierung.