Nichts da mit ältlicher Jägerromantik zwischen Wald und Schießscheibe: Zwischen riesigen Holzstapeln werden Zweige, Reh und Wildsau herumgetragen. Die Schützen lassen auf Hochsitzen Büchs und Bügelflaschenbier knallen. Man trägt Gewehr: Der Freischütz, die deutscheste aller Opern, ist wieder in Chemnitz - feuchtfröhlichspannend inszeniert von Arila Siegert auf einer imponierenden Bühne von Hans Dieter Schaal.
Regisseurin Siegert hat Webers Flintenoper kräftig gelüftet. Natürlich wird der Jungfernkranz gewunden, natürlich muss Max noch seine Schießkünste zeigen, um Oberförsters Töchterlein Agathe sexuell zu erlegen, natürlich fällt er auf den bösen Kaspar herein, natürlich probiert er die Freikugeln, um seinem Glück etwas nachzuhelfen, und natürlich geht diese Bescheißerei nach hinten los: Arila Siegert, dem Ballett sehr verbunden, bringt Bewegung in die kleinste Szene, lässt Choristen und Statisten krabbeln und robben, Brautjungfern drollig hopsen und trifft auch sonst mit witzigen Einfällen und ernsten Anspielungen ins Schwarze: Der gespenstische Jäger wird per Feldtelefon geordert, der Braut wird vor der ersten Nacht die Beinbehaarung rasiert, und in der Erbförsterei liegt eine tote Ratte herum.
Ein opernleichtes Schützenfest mit unheimlich raunender und rauschender Musik und schönen Stimmen. Das Premierenpublikum klatschte am Sonnabendabend zwischendurch und zum Schluss Salut: für die Robert-Schumann-Philharmonie unter der Leitung von Niksa Bareza, für Jana Büchner (das kecke Ännchen), Jürgen Freier (Kaspar), Nancy Gibson (Agathe), Edward Randall (Max), Matthias Otte (Samiel) und das gesamte Ensemble.
Bei der so oft inszenierten deutschen Nationaloper schlechthin mit originellen Einsichten aufzuwarten, ist an sich schon eine Leistung. Wenn sich das aber dann noch zu einem stilistischen Ganzen aus sinnstiftendem Bühnenraum und akribisch durchgeformter Metaphorik rundet wie jetzt bei Arila Siegert in Chemnitz, dann gehört das zu den beglückenden Inszenierungstaten. Da die drittgrößte sächsische Oper in ihrer kontinuierlichen Kunstanstrengung auch ein bestimmtes musikalisches Niveau garantiert, kann dies Haus nunmehr mit einem Freischütz aufwarten, der sich nicht nur regional hören und überregional sehen lassen kann.
...Dialektischer Scharfsinn, szenische Fantasie und sorgfältige Personenführung (bis hin zu tadellos gesprochenen Texten) rücken diese Inszenierung - man traut sich's kaum zu sagen - in Berghaus-Nähe..
Man glaubte zwar, dass zu dieser deutschen Nationaloper nach Konwitschnys großartiger Deutung von Altenburg und Hamburg, nach Ruth Berghaus’ Ironisierungen, nach den Antikriegs-Stücken von Joachim Herz und Günter Krämer, nach dem psychoanalytischen Alptraum von Christoph Nel an der Berliner Komischen Oper nun wirklich alles gesagt sei. Aber nein, dieses unergründliche Werk bot noch einmal Raum für einen neuen Denkansatz. Das Unerwartete der Chemnitzer Inszenierung bestand in ihrer Grundhaltung zu allen auftretenden Opernfiguren, den Guten wie den Bösen, den Starken wie den Schwachen. Allen gegenüber war eine Sympathie zu spüren, ein, fast könnte man sagen freundschaftliches, Verständnis für Handlungen und Beweggründe, unterfüttert von feinem, mal mehr, mal weniger verstecktem Humor: ein Auf-die-Schippe-nehmen, als hätte man es mit guten Bekannten zu tun.
Diese Haltung resultierte daraus, und das war bisher noch in keiner Inszenierung zu sehen, dass Arila Siegert das Gute und das Böse als gleichberechtigte Kräfte in der Welt ansieht. Sie halten die Welt im Gleichgewicht als Versuchung und Widerstehen, als Retter des Liebespaares und Vernichter des Verderbers ihres Glücks. Der Eremit und Samiel: Sie kennen und respektieren einander. Am Schluss geht es nicht darum, dass die Frömmigkeit siegt, oder ob das Happy End verlogene Bigotterie ist, sondern darum, wie es weitergeht mit dem Liebespaar, das jetzt noch ein Jahr aufeinander warten muss. Es bleibt fraglich, ob "das Ganze" tatsächlich "freudig" schließt, wie Friedrich Kind und Carl Maria von Weber notierten, aber möglich ist es immerhin.
Hans Dieter Schaal hat die Geschichte natürlich im Wald angesiedelt, wo sonst, aber: Es ist ein gleichzeitig toter, aber auch beschützender Wald, ein Holzlager, in dem es nichts als abgeschälte Baumstämme gibt. Eine bühnenhohe Stapelwand schafft einen schützenden Raum im Vordergrund. Rechts und links liegen aufgestapelte Berge von Holzstämmen, die eng zusammen geschoben die Wolfsschlucht bilden, weiter voneinander entfernt geben sie den Blick zum Nachthimmel frei; aus ihnen setzt sich auch das Försterhaus zusammen. Marie-Luise Strandts Kostüme orientieren sich an Waldarbeitertracht, grobes Leinen, an alte Bergfilme erinnernd. Für Fürsten und Erbförster feineres Loden, für die Frauen dunkle Bauernkleider und die bürgerliche Gesellschaft der Braut trägt taillierte Kostüme aus Taft. Alles sehr genau ins Bild passend. Nichts, gar nichts Folklorebuntes!
Sympathie für die Figuren: zum Beispiel Max. Er ist ein Mann der nicht in die biedere Umgebung passt, der wie ein Fremdkörper dasteht, sensibel ist, leidet, aber immerhin entschlossen genug ist, für Agathe einiges zu wagen. Die Brautjungfern: späte Mädchen, aber keine ironisiert lächerlichen Figuren, sondern wie sie eben sind, die Leute. Die eine ist freundschaftlich, die andere neidisch auf Agathe usw. Samiel und der Eremit: sie führen synchrone Bewegungen aus, kommen sichtbar aus denselben fernöstlichen Gegenden, der Eremit macht yogamäßige Atemübungen, Samiel raucht.
Schwierigster Fall: Agathe. Kein sentimentaler Trauerkloß, sondern eine stille Person, die sich ihr eigenes Urteil bildet, nachsichtig über Ännchens Späße lacht. Das schönste Bild der Inszenierung gehört ihr: während der Kavatine „Und wenn die Wolke sie verhülle“ öffnet sich die Bühne in geradezu kosmische Weiten unter dem poetischen Nachthimmel. Hier sitzt der Solocellist neben ihr auf der Bühne und spielt seine Kantilenen. Bei Peter Konwitschny war es die Teufelsbratscherin mit ihren Trillern beim "Kettenhund" - damit ist die unterschiedliche Sicht am besten versinnbildlicht...
...Die zweite Opernregie der ausgewiesenen Choreographin Arila Siegert im kleineren der großen sächsischen Opernhäuser ist schlichtweg ein Wurf! Sie leuchtet den bekannten Stoff spannend und plausibel aus, findet mit dem kongenialen Bühnenbild zu einer bestechenden stilistischen Geschlossenheit. Sie verleugnet die Choreographin nicht, setzt sie in einer bewundernswerten geschmacklichen Dosierung ein und hält ihre Metaphorik konsequent und im Detail durch...
Starke Bilder durchweg. An diesem Abend muss man öfter an Ruth Berghaus denken. Oder besser, man wird an sie erinnert. Und was kann eine Regisseurin mehr adeln?..
...Vor der Chemnitzer Opernbühne, wo am Samstag Premiere war, ließ sich Arila Siegert von Aufführungshistorie nicht beeindrucken. Sie machte das, was sie am besten kann: eine Geschichte erzählen. Und dafür brauchte die Regisseurin Figuren, die sich von ihren Stereotypen befreien...
Arila Siegert hat hinter das waldhornselige Hallodri, das der Volksseele stets unabänderlich richtig erschien, große Fragezeichen gesetzt. Sie will zeigen, dass das Böse immer und überall ist, lässt Luzifer Samiel und seine dunklen Gestalten sich unter die Volksmassen mischen...
Das Fazit am Anfang: Der neue Freischütz nach Carl Maria von Weber, der am Sonnabend im Chemnitzer Opernhaus heraus kam, fand begeisterte Aufnahme. Versuche "Buhs" zu landen, erstickten im Ansatz. Aber es war eine ungewöhnliche Auffassung der berühmt-beliebten Oper, die in Dresden noch im "Großen Haus", unter Erhard Fischer die Sächsische Schweiz nationalopernhaft als Background nutzte. Bei Joachim Herz in der Eröffnungspremiere der Semperoper standen Ruinen der Nachkriegszeit von 1813 als szenische Quelle Pate. Und Arila Siegert ließ die Welt Samiels mit seinem schwarzen Haufen und die seines Widerparts, des Eremiten, ständig präsent sein.
Der Wald ist abgeholzt. Kein Nadel- und Blätterrauschen erfüllt die Luft. Gehäufte Stämme, zersägt und gestapelt, prägen das Bühnenbild von Hans Dieter Schaal, dessen Liebe zu Sprungtürmen (Dresdner Elektra) hier die Jäger Kunos auf "jagdliche Einrichtungen" von Anständen emporhebt...
...Wie immer in Chemnitz gab es viel Jubel und etliche Buh-Rufe fürs Regie-Team.
Das Unerwartete der Chemnitzer Inszenierung: ihre Grundhaltung, ihre Sympathie gegenüber allen Figuren, ihr freundschaftliches, zuweilen ironisches Verständnis für Handlungen und Beweggründe...
[...Arila Siegert] stellt Figuren auf die Bühne, die uns ganz nahe sind in ihrem Hoffen und ihren Ängsten. Aus in jeder Operngala gern gehörten Arien macht sie Szenen, die wahrhaftigen Einblick in die Seelenzustände dieser Menschen geben...
In jener Wolfsschlucht, die zu einem der beeindruckendsten Bilder des Abends wird, wenn sich dort Gewürm auf meterhohen Holzstapeln und dem Boden windet und weiße Seelen von schwarzen Jägern hingerichtet werden vor einer Bürohauskulisse, in der Samiel auf dem Lederchefsessel per Telefon regiert.
Eine der vielen Szenen, die den Abend zum Gesamtkunstwerk schmieden: von der Regie, die dem Zuschauer selbst das positive Ende als ein sehr fragwürdiges anbietet, dem unglaublich erzählende Räume schaffenden Bühnenbild von Hans-Dieter Schaal und der psychologisierenden musikalischen Werkinterpretation von GMD Niksa Bareza, der mit der Robert-Schumann-Philharmonie mit Höhenflügen von Streichern und Blech in Chemnitz seine Oper gefunden zu haben scheint.
Ein Abend aus einem Guss, selbst Komik (nie einen so witzigen "Jungfernkranz" gesehen) wird nicht zum Selbstzweck, ja - so geht Oper eben auch!
Aus Vorberichten:
Wo Schatten sind, ist Licht. Kaum eine Zeit hat das so gespürt wie die Romantik. Carl Maria von Weber komponierte seinen „Freischütz“ in diese Zeit hinein. 1821 am Berliner Schauspielhaus uraufgeführt, wurde „Der Freischütz“ ein riesiger Publikumserfolg mit dem Jägerchor und dem Chor der Brautjungfern. An diesem Sonnabend um 19.30 Uhr ist Premiere am Chemnitzer Opernhaus für die erste anerkannte deutsche Oper. Darin geht es um einen Jägerburschen, der nur durch Probeschießen Agathe erringen kann und mit ihr die Erbförsterei.
Das beherrschende Motiv heißt Angst - Prüfungsangst, Versagensangst, Überlebensangst. Diese Angst treibt Max um, der sich mit dem Meisterschuss um die Braut bewirbt. Regisseurin Arila Siegert, einst Solotänzerin der Staatsoper Dresden und längst sehr erfolgreiche Regisseurin des Musiktheaters, ist den Chemnitzern insbesondere bekannt für die lichte, ausdrucksstarke Ästhetik der Oper Pénélope in der vergangenen Spielzeit - dafür errang sie mit Nancy Gibson auch den Publikumspreis in der „Theaterumfrage 2002“ der „Freien Presse.“ Wieder sucht sie die sensiblen Zwischentöne. „Die Frau am Herd ist diese Agathe nicht“, macht sie deutlich. Mit Nancy Gibson sei sie einen Weg gegangen, der die Agathe in das Zentrum sämtlicher Bemühungen stellt. Der Jagdgedanke spiele hier eine große Rolle „Alle zielen immer wieder auf Agathe, auf die Frau als Objekt. Für Weber war sie aber zugleich auch die Muse, die ihn beflügelte.“ Als „Jägerbraut“ hat sie den Komponisten lange beschäftigt, sie ist die zentrale Figur im Stück und eine seiner größten Frauenfiguren neben Euryanthe. Ihr wurde der stärkste musikalische Ausdruck zuteil. Sie ist eine Frau, die sich überwiegend in geistigen Dimensionen bewegt, weniger in materiellen, macht die Regisseurin deutlich.
Agathe ist das eigentliche Zentrum dieser Oper. Sopranistin Nancy Gibson, die zuletzt mit der Pénélope einen großen Erfolg beim Publikum erzielte, wird die Agathe singen. Generell sei es schwierig, sich einer solchen Figur voller Intellekt und philosophischem Reichtum zu nähern. „Agathe hat mir geholfen zu wachsen“, meint sie mit einem Augenzwinkern. Sie fühle sich jedenfalls immer wohler in der Rolle, „aber einfach, nein, einfach ist das nicht“. Und das bezaubernde Ännchen? Tritt es als „wilde Hilde“ an? - Für Sängerin Ute Baum ist „das Ännchen in Wirklichkeit viel sensibler, als viele vermuten. Sie denkt, sie müsse die Stimmung anheizen, alle fröhlich machen. Auch sie wäre gern die Braut. Und sie liebt Max.“ Der Max steht zwischen allen Fronten? - Edward Randall glaubt, sein Max wäre heute glücklicher als damals. „Er hat keine Angst vor Gefühlen, aber er soll doch ein Jäger sein, ein harter Mann. Vielleicht wäre er viel lieber ein Dichter? Doch für seine Liebe zu Agathe ist er bereit zu jeder Schandtat. Deswegen lässt er sich auf das Probeschießen ein, obwohl er eine Todesangst aussteht.“
Als Samiel, der schwarze Jäger und Fürst der Hölle, wird man Matthias Otte (Titelpartie in „Jesus Christ Superstar“) sehen. Er fragt: „Wer ist der Teufel, wer ist Samiel? Ist er ein Teil von uns?“ Dafür gibt es viele Möglichkeiten, die werde er ausspielen. In die Rolle des Verführers tritt Kaspar, der andere Jägerbursche auf. Für den Bass Thomas Mäthger stellt sich die Frage nach dem Gewinner und Verlierer: „Ich empfinde ihn wie ein waidwundes Tier, der das Kriegstrauma als Erblast mit sich herumträgt. Die ganze Jägergilde weiß um die Freikugeln.“ Die musikalische Leitung hat Niksa Bareza.
Noch ist es selten, wenn eine Frau Opernregie führt. Nicht einmal zehn
Prozent aller Inszenierungen in Deutschland tragen eine weibliche Handschrift.
Eine gewisse Ausnahme ist da das Chemnitzer Theater, wo Frauen jede Spielzeit
arbeiten können. Am Sonnabend hat dort Der Freischütz in der Sicht von Arila Siegert
Premiere.
Carl Maria von Webers Freischütz ist eine der Lieblingsopern der Deutschen.
Ob „Jägerchor“ oder gruselige „Wolfsschlucht“-Szene,
das Romantik-Werk ist bekannt und wird gern romantisierend gesehen. Ob den
Chemnitzern die Neuinszenierung gefällt? Arila Siegert und ihr Team befragen
das Stück anders als allgemein üblich. „Das beherrschende Motiv
im Freischütz ist Angst: Prüfungs-, Versagens-,
Überlebensangst, die den Schützen Max auf krumme Bahnen treibt“, sagt die
Regisseurin. Nichts ist mit Jägervergnügen, schon gar nicht in Heid und Flur.
Auf See & Bühne:
Frauen kommen nicht an Bord
Wem diese Sicht nicht passt, kann ja ein auf See und im Musikbetrieb gängiges
Vorurteil zitieren: Frauen kommen nicht an Bord. Wohl spielen Frauen
heutzutage in Orchestern – wenn auch in der Minderheit –, Kompositionen von
Frauen hingegen werden kaum aufgeführt. International erfolgreich arbeiten
vielleicht zwei/drei Regisseurinnen im Musiktheater. In Deutschland dürfen
Frauen zunehmend Opernregie führen – wenn auch selten in den Metropolen. Jede
zehnte Opern-Inszenierung realisiert eine Frau, schätzt Bernd Feuchtner von der
Fachzeitschrift „Opernwelt“. Vor Jahren noch war es nur
Ruth Berghaus,
die Regie führte. Vielleicht Zufall? An Häusern, die von Ostdeutschen geleitet werden,
wie Chemnitz oder Rostock, arbeiten Frauen öfter als andernorts.
Seit 1998 widmet sich die bis dahin als Tänzerin und Choreografin wirkende
Siegert diesem Beruf. Ein „harter Job“ sei der und schwer zu bekommen.
„Unwahrscheinlich viel Kraft kostet es dann, die letztendlichen Entscheidungen
auch durchzusetzen, da nahezu alle Theaterbereiche männerdominiert sind“, sagt
Siegert. Frustriert wirkt sie dabei nicht. Erstens hält sie eine Quotierung
für abwegig. Zweitens sei das Chemnitzer Arbeitsklima stimmig. Drittens
„faszinieren mich die Tiefe der Werke und die Möglichkeiten der Umsetzung noch
viel zu sehr“.
Wie lernt man Regie? „Ein Studium nützt wenig, man muss Theater von der Pike auf
lernen“, meint die Siegert. Sie hat viele Stationen durch: war
Ensemble-Mitglied, war Ensemble-Leiterin, hat Vorgegebenes interpretiert, hat
selbst kreiert – freilich alles im Tanz. Und Oper? „Ich habe mir oft in den
Vorstellungen eigene Konzepte ausgedacht.“ Wichtige Erfahrungen brachte die
Arbeit mit
Peter Konwitschny und
Wolfgang Engel – damals war sie noch
Tänzerin. Keine andere Interpretin und Choreografin führte in den 80er Jahren
die Tradition des Ausdruckstanzes in seiner konzentrierten Sprache derart
weiter. Diese Konzentration prägt noch heute den Stil, wenn sie mit 49 Jahren
als Regietalent gefeiert wird.
Was findet eine vom Tanz an der Oper, wo doch Musik, Sprache und Libretto viel
engere Grenzen setzen als im Tanz, wo es Musik gibt, vielleicht ein Libretto?
„Als Choreografin hat mich eigentlich immer die große Szene gereizt. Das
Erfinden der Schrittkombinationen war nicht meine Stärke“, blickt sie zurück.
An Oper interessiert sie, die jeweilige Stück-Welt gedanklich zu kreieren,
dann nach Bildern zu suchen, in denen alle Elemente ineinander fließen. „Ich
möchte, dass man auch mit den Augen die Musik versteht.“ Alles sei deshalb auf
der Szene möglich, selbst absurdeste Ideen. Das bringt der Siegert manchmal
den Kritiker-Vorwurf einer „überbordenden Fantasie“ ein.
Dabei dürfte das mittlerweile ihre Stärke ausmachen. Sie analysiert nicht nur
Inhalte, wie es etwa Schauspielregisseure in der Oper machen. Sie choreografiert – im Ansatz ähnlich Ruth Berghaus –
komplexes Musiktheater. Ihre Fassungen folgen Partitur und Text, entwickeln so
Bewegungsabläufe. Mitunter setzt sich die Siegert über das Libretto hinweg. In
Mozarts Titus lässt sie am Ende den Regenten erschießen – ein brutaler
Staat duldet doch keinen milden Herrscher. Ihre Aida ist kein Schwelgen im ägyptisch-veronesischen Barock mit showartigem
Triumphmarsch. Ihre Darsteller haben gegen Klischees anzuspielen, die innere
Zerrissenheit der Figuren statt hohler Bühnengesten zu zeigen.
Durchs Tanzdenken wird der Chor zum Irrwald
Das Markante der Siegertschen Arbeit ist – dank der Tanzbasis – das chorische
Denken. Ideal für ihre Art sei der Freischütz,
weil Weber so vielschichtig mit Massen umgehe. Der Chor ist gütig, hämisch,
verfolgt, verteidigt in seinem Gesang. Das ist zu sehen, wenn das Ensemble
schattenhaft in der „Wolfsschlucht“ robbt, über Max herfällt oder einen
Irrwald zwischen dem schwankenden Max und seiner zweifelnden Agathe bildet. Da
wirkt nichts zufällig oder gaghaft auftrumpfend –
manch scheinbar beiläufige Szenen oder Arien erhalten sinnfällig Bedeutung.