Es ist deine vierte Arbeit mit einem Kandinsky-Theatertext. Diese Texte sind oft nur bruchstückhaft. Was ist hier das Besondere?
Arila Siegert: Das Besondere ist hier wirklich, dass dieser Text nur ein Fragment ist. Kandinsky hat sich mit dem Andersen-Märchen auseinandergesetzt, ist aber nicht so weit gekommen. Viele andere Texte wie „Der gelbe Klang“, „Violett“, „Über die Mauer“ sind geschlossene Bühnen-Kompositionen, bei denen sich Kandinsky mit dem Theater auseinandergesetzt hat, weil er unglücklich war. Er dachte, es ist nicht genug, was gezeigt wird im Theater, und da wollte er unbedingt was machen. Da hat er angefangen, über Theater nachzudenken, aber als Maler, nicht als Theatermensch. Und er war ein solcher Unruhegeist, dass er aus den Bildern herauswollte, aus den festgelegten Formen der Zweidimensionalität. Er wollte in den Raum. Und da er Synästhetiker war, ging es vor allem über Wort und Klang, Licht und Farbe, Bewegung und Tanz. Als Synästhetiker hat er Farben klingen gesehen und hat weitergedacht was bedeutet eine gelbe Aktion. Das war für ihn wie ein Trompetenstoß, vom Räumlichen aus ist es wie eine Ansprache an den Zuschauer, ein Schrei. Blau war der Rückzug in die Kontemplation, das heißt die Bewegung, die vom Zuschauer weg zurück in eine innerliche Welt geht. So hat er aus seinem Farbendenken Aktionen entwickelt.
Woher kommt dein Interesse für diese Kandinsky-Texte?
Ich bin in der Palucca Schule ausgebildet. Palucca war befreundet mit Klee und Kandinsky in der Bauhaus-Zeit. Sie hat dort getanzt, wurde kritisiert von den Malern. Sie hat sich sehr mit dem Denken der Bauhäusler und der neuen Art befasst, mit genauen Formen zu arbeiten; dass es keine vorgefassten Haltungen gibt, was schön, was hässlich ist, sondern es ging rein um die Aktion, die Energie und das seelische Potential der Aktionen. Das kam ihr sehr entgegen. Sie war eine sehr abstrakte Tänzerin. Insofern hat sie sich sehr mit dem Bauhaus getroffen. Das hat sie uns in der Schule weitervermittelt. Deswegen bin ich davon beeinflusst.
Wie seid ihr vorgegangen bei der Erarbeitung dieses Fragments? Es war viel Arbeit am Konzept notwendig.
Es war ein langer Prozess. Die Dramaturgin Carola Cohen-Friedlaender hat immer wieder neue Zusammenstellungen vorgeschlagen. Wir haben versucht, das Andersen-Märchen zu erweitern, weil das Fragment von Kandinsky – es ist ja eine frühe Arbeit – ja nur ein Anstoß ist. Wir sind ausgegangen von dem Andersen-Märchen, was ja sehr spirituell ist und viele Fragen offenlässt. Das Märchen schwingt. Deshalb glaube ich auch, dass Kandinsky deswegen daran gegangen ist, weil es sehr musikalisch ist. Die Worte klingen nach und bringen ein bestimmtes Gefühl, das vertraut ist. Dieser Seelenklang, dieser Klang der Душа [Dusha]. Als wir die sieben Szenen, die wir daraus entwickelt haben, eine Woche lang probiert haben, haben wir festgestellt, dass das Märchenhafte zu sehr überwiegt. Wir haben dann weitere Texte aus den Schriften Kandinskys eingefügt, verschiedenste. Und das war sehr toll zu beobachten, wie sich das zusammenfügte.
Worum geht es in diesem Märchen, es gibt ja verschiedene Titel?
Die Geschichte von Hans Christian Andersen heißt im Original „Der Garten des Paradieses“. Kandinsky nannte seinen Text „Paradiesgarten oder Zauberflügel“. Bei uns heißt das Stück „Paradiesgarten“. Es geht um die Suche eines Prinzen nach dem Paradies. Der Prinz hat alles, jeder Wunsch wird ihm erfüllt. Aber er ist unglücklich und sucht seinen Stern, seinem inneren Drang folgend das Glück, die Erkenntnis. Er bewegt sich aus seinem geschlossenen Raum heraus in einen Wald. Er kommt in eine Höhle und begegnet der Mutter der Vier Winde. Sie erzählt ihm über die Welt der Natur und ihre Brutalitäten. Sie offeriert ihm, am nächsten Tag mit dem Ost-Wind mitfliegen zu können, der ins Paradies fliegt, wo er den Vogel Phoenix trifft. Und er hat eine Botschaft für den Vogel Phoenix. Der Prinz entschließt sich mitzufliegen. Er macht diesen Flug über Länder und Meere, findet sich im Paradies wieder. Er trifft die Fee des Paradieses und sagt, er will immer bleiben. Aber die Fee sagt, du musst bestimmte Regeln einhalten. Du darfst mir abends, wenn ich weggehe, nicht folgen und du darfst mich keinesfalls küssen. Wenn du das einhältst, kannst du immer bleiben. Am Anfang wird das schwer, aber wenn du es ein paarmal aushältst, wird’s immer leichter. Der Prinz sagt, ich bin stark und weiß, was ich will. Aber schon am ersten Abend folgt er ihr und küsst sie. Es gibt einen Riesenkrach, das Paradies versinkt, und er ist mit dem Tod konfrontiert. Der Tod sagt ihm, ich habe das schon erwartet, dass du gleich schwach wirst, und ich wollte dich eigentlich in den Sarg stecken, aber ich will dir noch etwas Zeit geben. Wenn du dich verbesserst, kannst du wieder hochkommen. Und wenn nicht, wirst du noch tiefer sinken. Bei uns schreibt sich der Prinz am Ende die wichtigsten Gedanken auf. Er ist lernbegierig, schreibt alles in sein kleines Notizbüchlein, was richtig und was falsch ist. Er reflektiert sein Tun.
Mit welchen Mitteln seid ihr bei der Gestaltung vorgegangen, um vielleicht auch einen neuen Ansatz zu finden?
Kandinskys Denken, dem wir hier folgen, geht davon aus, dass Farbe und Klang, Bewegung und Tanz, Musik und Wort zusammenwirken in der Form, dass die Kunstform überwiegt, die diesen Moment am besten ausdrücken kann. Das ist der Ausgangspunkt. Deshalb gleichen sich die Mittel und gleicht sich auch unsere Gruppe. Wir haben einen Maler, einen Komponisten, einen Licht-Designer, eine Kostüm-Designerin, eine Sängerin und Tänzerin, zwei Schauspieler, eine Regisseurin, Bühnenbildnerin, Dramaturgin. Insofern inspiriert uns das Text-Fragment von Kandinskys, das Märchen von Andersen, zu einer bestimmten Form. Es entwickeln sich ganz andere Szenen, aber die Mittel sind die gleichen wie bei „Der gelbe Klang“, „Violett“, „Über die Mauer“.
Ihr habt, wie gesagt, immer neue Texte eingebaut. Wie weit ist es noch das Märchen oder eure Theater-Kreation?
Kann ich gar nicht so genau sagen. Ausgangs-Stoff ist das Märchen, die zweite Schicht ist die Reflexion von Kandinsky und sein Denken über Farbe, Klang und Bewegung. Die dritte ist unsere Fähigkeit, diese Gedanken und unsere Gedanken darüber heute zu formulieren. In der Gruppe gibt es keine Hierarchie. Wir suchen gleichberechtigt, wie wir’s am besten erzählen können.
Ist es ein Theater mehr für Kinder oder für Erwachsene?
Es ist für alle, die sich öffnen, die keine vorgefasste Meinungen und Hoffnungen ins Theater mitbringen, außer etwas zu erleben. Wenn man was erlebt, ist man ja nicht vorgefasst, sondern trifft auf eine neue Landschaft. Und man lässt das in sich hinein. Auf diesen Ansatz kommt’s an. Das können Kinder oft besser als Erwachsene. Aber es gibt natürlich viele Kinder, die noch in Erwachsenen stecken.
Berlin 08.01.2024, gfk